Pupuze Berber

Sein und weniger Sein

Da sitze ich nun und blicke zurück. Mein Gelebtes vor mir ausgebreitet. Ihr wollt unterhalten werden, aber meint ihr, es ist so einfach? Tag ein, Tag aus mit Euch im Schlepptau? Ausblenden, ja, aber für immer löschen? Illusion, nichts weiter als eine Illusion. Dachte ich. Jetzt frage ich mich, was ich gestern gegessen habe. Auf der anderen Seite, warum frage ich mich das? Wer will das denn wissen? Um mich zu vergewissern, dass ich gestern gelebt und sogar etwas zu mir genommen habe. Ich schaue mal nach. Was war das? Brot? Brot auf jeden Fall und Käse. Das esse ich jeden Tag und werde es auch gestern gegessen haben. Aber tatsächlich wissen?

Vorige Woche? Was war da? Vielleicht bin ich zum Arzt gegangen? Was? Wer sind Sie? Was wollen Sie? Geld? Wird man hier am helllichten Tag überfallen! Was? Ich kann sonst meinen Einkauf nicht mitnehmen? Es ist doch meins, nicht? Wenn es mein Einkauf ist, dann werde ich ihn doch mitnehmen dürfen. Und, nein, ich kenne Sie nicht! Und ich habe keine Tochter! Nein, lassen Sie das! Ich bleibe hier, solange ich will!

Da schau einer an. Es lichten sich die hinteren Reihen. Das haben wir gern, nicht! Zu spät kommen und als erster gehen. Leere Stellen, überall. Dabei solltet Ihr bei mir bleiben, hier, bis ich aufstehe, mich verneige und gehe. So gehört sich das, hört Ihr? Erst dann dürftet Ihr alle verschwinden. Aber nun überall kahle Stellen, Lochbränden gleich. 

Das sehe ich, dass Ihr verschwindet! Aber, so bleiben Sie doch! Wir kennen uns doch irgendwo her. Haben wir zusammengearbeitet? Oder vom Urlaub? Ach, womöglich sind Sie mein Nachbar? Gehen Sie nicht jeden Morgen mit Ihrem Hund, wie heißt der noch mal, Gassi? Der kleine Kläffer, den meine ich. Eines Tages wurde er vergiftet. Oder war das ein anderer Hund und Sie mussten ihren wegen Altersschwäche einschläfern lassen?

Kai-Uwe? Thomas? Hendrik? Die Namen sind so leer. Sie sagen nichts mehr als die Launen der Eltern beim Sichten ihres Neugeborenen unter dem zeitgeistlichen Einfluss. Ein jeder ist davon betroffen. Ja du, mit dem Flecken auf dem Pullover. Du hast zu viel Kaffee getrunken und entsprechend gestunken. Dein Büro musste nach deinem Fortgang vollrenoviert werden. Stinktier, so haben wir dich hinter deinem Rücken genannt. Deswegen gehst du jetzt? Was ist denn mit Euch los? Eine ganze Reihe komplett entleert. Wer wart Ihr bloß? 

Was ist das bloß für ein Leben? Kaum hat man es begriffen, ist es auch schon am Ende. Niemand freut sich, auf die Welt zu kommen. Kaum vorstellbar, dass ich mal so war, ein Nacktmolch, zahnlos, hilflos, bedürftig. Wer ist denn da im Spiegel? Bin ich das? Ein Gespenst, zahnlos, hilflos, bald alles los. 

Lustig, lachen kann man immer, auch im hohen Alter. Was soll man auch tun? Wenn einem alles andere abhandenkommt und man froh sein kann, alleine auf die Toilette zu gehen. Sie lachen immer noch nicht. Erinnerungen, Anekdoten, wo habe ich sie? Ich muss doch viele haben. Wenn man eine braucht, kommt keine und da steh ich dann vor Euch, vor meinem Leben und bringe nichts heraus. 

Sein und dann weniger Sein. Mein und doch nicht mein. Ein Leben? Was ist das schon? Wäsche auf der Leine, so flattern die Erinnerungen. Bei manchen sind die Flecken nicht rausgegangen, und manche würde man auch am liebsten verstecken. Die kaputten Unterhosen, die mit dem ausgeleierten Bündchen, um im Nachhinein zu sagen, sich zu fragen, warum man diese nicht vorzeitig entsorgt hatte. Warum hängt man an zerschlissener Unterwäsche? Aus Bequemlichkeit? Oder um sich ein wenig zu erheitern? Mein Ziel ist zu lachen. Schauen Sie mit mir zurück auf mein Leben, ein Haufen zerschlissener Erinnerungen. Gibt es denn sonst nichts, was so richtig lustig war? Wo seid ihr? Da, da sehe ich etwas. Natürlich, wie konnte ich das vergessen. Von der Arbeit…

Sie, aus der Pharmaindustrie. Sie kommen gerade zur rechten Zeit. Wissen sie noch? Nein, Sie können nichts wissen, weil das Ganze sich in meinem Kopf abgespielt hatte. Sie bei uns, Sie mein Kunde, dem ich die neue Marketingstrategie erklären wollte, die Idee, unsere Idee, basierend auf den Analysen und den vielen Zahlen. Ich hatte eine Präsentation dazu erstellt, mit Kuchen, Säulen und Blasen, hatte geübt, dazu zu sprechen, im Büro und zu Hause vor dem Spiegel. Und am Tag unseres Zusammentreffens – ich hatte sogar mit Keksen decken lassen – kam ich nicht dazu, zu präsentieren, obwohl ich am Beamer stand, mit dem Deckblatt an der Wand. Weiter kam ich lange nicht. Sie stahlen mir das Wort aus dem Mund und ritten weg in mein Kopfkino, Sie der Schurke mit dem schnellen Pferd, während ich von einem Bein auf das andere wechselte, um einen Moment abzupassen, wo Sie womöglich Luft holen mussten, damit ich Ihnen reingrätschen konnte. Ein paar Mal ist mir das gelungen. Da nahm ich den Ball und rannte weg, klickte weiter vom Berg zur Linie, doch da, in einer Sekunde des Schweigens hatte ich gegen Sie keine Chance mehr. Sie sprachen, über ihr Unternehmen, über ihre Jugend, Familie, Eltern, Gattin, Kinder, fast lückenlos. Mir blieb die Kapitulation.

Sie da, in der fünften Reihe, mit den runden Buntplastikgläsern! Sie waren doch der Chef, der Ober-Chef unserer Werbeagentur, nicht wahr? Wie war noch Ihr Name? Ihr Name ist mir entfallen, doch weiß ich noch ganz genau, wie ich ihre Weichteile berührt habe. Gott bewahre, nicht gewollt, ich hatte nicht vor, auf diesem Wege Karriere zu machen. Mit einem Kollegen kam ich aus der Cafeteria, wo Sie uns entgegenkamen. Ich hatte gestikulierend erzählt, und Sie in diesem Moment da – womöglich etwas unsanft – berührt. Danach hatte ich mich mit diesem Kollegen fast kaputtgelacht. Bis wir um die Ecke gebogen waren und ich Sie in der Glastür des Aufzuges hinter uns sah. Zur Strafe noch die Fahrt zusammen bis zum dritten Stock. 

Es nützt alles nichts. Ich habe wohl kein komödiantisches Talent. Niemand lacht. Viele sind schon weg. Die Mitte ist fast kahl. Und auch in den vorderen Reihen wird schamlos aufgestanden. Ich sehe nur noch Rücken. Nur wessen? Wer seid Ihr alle? Warum kann ich mich nicht an Euch erinnern? Sie, sind Sie nicht der hübsche Mann vom Markt in Sainte Maxime? Oder die unfreundliche Frau in der Bäckerei? Waren Sie nicht jahrelang mein Arzt? Dann müssten Sie doch wenigstens bleiben. Es ist womöglich etwas langweilig hier, ja, da kann ich Ihnen sogar recht geben. Ein aufregendes Leben hatte ich nicht. Es war eins von der Stange, so wie das von vielen anderen auch. Gehen Sie deswegen? Ich könnte Ihnen allen noch einen Witz erzählen. Hatte ich mir nicht mal ein Witzheft angelegt? Wo ist das nur? Hatte das mein Vater zerrissen? Nein, das war mein Poesiealbum, das weiß ich noch. Oder war das meine Mutter gewesen? Mama? Mama, wo bist du? Ach, da, in der ersten Reihe. Na, wenigstens bleiben die Eltern bis zum Schluss. Sie müssen immer bis zum Schluss bleiben, egal wie langweilig. 

Überall Lücken. Meine engsten Freunde? Was ist mit euch? Wartet doch, ich bin doch dabei, mein Witzheft zu suchen. Wenn ich doch nur in mein Kinderzimmer könnte! Da ist dieses kleine Heftchen, ganz eng beschriftet, sogar kategorisiert. Und immer, wenn ich einen Witz brauchte, hatte ich das Heft nicht dabei. Dauernd fiel mir der mit dem Frosch ein. Ein Frosch und ein Amerikaner. Seid ihr noch hier?