Pupuze Berber

Aufbruch

“Wo auch immer Du hingehst, dort bist du.”
Konfuzius
Meine Tochter Daphne und ich landeten in Istanbul. Ein schwüler Abend. Reisestimmung, auch bei meiner Schwester und ihrer Familie, die aus ihrem Mann Murat und ihrer Tochter Zeynep besteht. Es sei alles eingepackt, sagte sie. Und der Kühlschrank leer, also auf zu einem Restaurant.
Ein gigantisches Einkaufszentrum… Als Murat, mein Schwager, in die Tiefgarage fuhr, rümpfte ich die Nase. Schon wieder einer dieser pompösen Tempel des Konsums. Dieser war jedoch nur dem Essen gewidmet: ein monothematisches Riesen-Oval, an eine Arena erinnernder Gebäudekomplex, wo später am Abend Elvis im Wasser-Nebel „Jailhaus Rock“ sang.
In der Mitte ein großes Wasserbecken mit verschiedenen Fontänen, die abwechselnd mit Musik und Feuer ein Schauspiel darboten; drum herum die Essensläden, Restaurant an Restaurant aneinandergereiht, auf zwei Stockwerken. Von einfachen Simit-Cafés, wo man Sesamkringel in allen Variationen bekam, bis zum teuren Steakhaus und japanischer Küche: es war alles dabei. Was mich besonders positiv stimmte, waren die Menschen. Klein, groß, mit vielen Kindern unterwegs, schlendernd, Eis schleckend. Eine schöne Atmosphäre, um so den Urlaub zu beginnen.
Versöhnlich stimmte mich am Konzept eine gewisse Einhaltung einer früheren Handelstradition. In alten Basaren sind Anbieter bzw. Handwerker gleichen Berufsstands in einer Straße angesiedelt. So war es für den Kunden einfacher, einen Überblick zu bekommen, über Markt und Preise, für Handwerker ein besserer Wissenstransfer. Und so war ich überrascht, dieses „AWM“, wie die Einkaufszentren in der Türkei abgekürzt werden, monothematisch, heißt, nur auf Essen beschränkt, vorzufinden.
Diese Art von Ansammlung gibt es nach wie vor in anderen Bereichen. Es gibt die Goldjuweliere, die in den Städten nebeneinander in einer Straße oder in einem Straßenabschnitt zu finden sind.
Die Straße ist oft inoffiziell nach ihnen benannt, wie z. B. „Kuyumcular sokagi“, die Straße der Juweliere, oder „Bakircilar sokagi“, die der Kupferflicker, die es in kleinen Städten nach wie vor gibt, wo man von der Straße aus Kupfer formenden oder kleine Handverzierungen machenden Meistern zuschauen kann. Diese kleinen Läden sind für den Betrachter offen. Es gibt keine Trennung nach Verkaufsraum und Arbeitsraum.
Wenn ich nach Istanbul fliege, dann bin ich keine Touristin. Ich bin dann eine, die für eine kurze Zeit dort lebt. So gehe ich morgens einkaufen, sobald ich dort eintreffe, in den zwei Wohnungen meines Vaters, die von meinen Schwestern bewohnt werden. Da habe ich meinen Schneider, dem ich zu reparierende Sachen vorbeibringe, da ist mein Friseur, der mir die Haare schneidet und sonstige Schönheitsmaßnahmen vornimmt. Es ist ruhig dort, trotzdem habe ich alles was ich für den Tag brauche. Ich möchte fast sagen, dass man fast alle 100 Meter so einen kleinen Tante-Emma-Laden finden kann.
Wie rechnet sich das? Können sie davon leben? Es ist nicht so, dass die großen Supermärkte sich dort nicht angesiedelt hätten. An der alten E5, einer sechsspurigen Hauptstraße, die viele Bezirke miteinander verbindet, die allerdings zu jeder Tageszeit verstopft ist, gibt es einen „Carrefour“ wie in Frankreich, der alles hat, unter anderem auch Textilien und Elektrogeräte. Diese Megasupermärkte haben die kleinen Läden Gott sei Dank nicht verdrängen können und so ist es dort nicht üblich, in der größten Hitze Wasser bei sich zu tragen wie in Deutschland. Man kommt alle Naselang an einem Laden oder Kiosk vorbei, wo eine kleine Wasserflasche – je nach Stadt – höchstens eine Lira kostet. Und so sagen die Istanbuler süffisant, ein Kapitalist sei, wer eine Flasche Wasser für 50 Kurus verkauft und für die Benutzung der Toilette 1 Lira nimmt. Rein für die Hälfte, raus für das Doppelte, als hätte das Wasser im Körper eine Wertsteigerung oder Veredelung durchgemacht.
Die Nacht war heiß und stickig, wie der Sommer in Istanbul immer ist. Es wehte kein Lüftchen und obwohl die Häuser in dem Viertel Bostanci nicht besonders hoch sind, kann sich der Wind nicht frei bewegen. Und so verteilt er sich in kleinen Portionen, zwischen den Reihen der vierstöckigen Gebäuden, unmöglich eine Briese für all die Menschen zu bieten, die, wie ich, am Laken klebten, mit dem einzigen Wunsch, Schlaf zu finden.
Stickig aber ruhig. Nicht mal die Hunde bellten. Auch wenn der Schlaf nicht kam in dieser erdrückenden Hitze, verhielten wir uns ruhig, wartend, dass die Nacht ein Ende hatte und wir aufstehen durften, denn wir wollten am frühen Morgen aufbrechen, nach Amasra. Das war das einzige Ziel, das ich am Beginn der
Reise kannte. Alles andere sollte sich ergeben, während wir unterwegs sind.
Zumindest hatte ich keine Ahnung, wohin und wie wir dahin fahren würden. Alle anderen Orte, die mein Schwager ausführlich ermittelt und die Anfahrt dazu berechnet hatte, wollte ich nicht wissen. Ich wollte mich bewusst treiben lassen.
So machten wir uns auf den Weg, packten alles in den Volvo, der immer wieder Anstalten machte durch merkwürdige Geräusche, uns jedoch trotzdem weiterfuhr, bis zum Schluss, durch ganz Anatolien und wieder zurück, nach Istanbul.
Aber alles der Reihe nach. Aus Istanbul hinauszufahren ist nicht einfach. Die Stadt ist voll. Tag und Nacht sind die Straßen, die dicken Adern, die sie mit der Welt außerhalb verbindet, verstopft. So fuhren wir auch in dieser Morgenstunde mit 30 km/h in Richtung Şile, um dort zu frühstücken. Autos, darin Menschen, Menschen ebenfalls an der Straße, wartend, in überfüllten Bussen ein- und aussteigend. Rechts und links der Straße Häuser, die sich mit den Jahren verändern, erneuern. Es entstehen
dann Glastürme, teilweise so hoch, dass ich laut fragen musste, ob das alles Büroräume sind. Murat erzählte, dass viele als Wohnraum dienen und dass der Kaufpreis sehr hoch sei. Und da zogen sie an mir vorbei, ein rot gefärbtes, eins sich nach oben verjüngendes, zwei, die hoch oben durch eine Brücke
verbunden waren. Wer will da schon wohnen?
An den ausgefransten Säumen der Stadt wurden die Bauten weniger; das Grün wurde hier sichtbar und nahm mehr Raum ein, worauf nun das Auge durchs sanfte Morgenlicht ruhen konnte. Die Gegend wird genutzt für die Landwirtschaft mit Kühen auf schiefen Ebenen, Treibhäusern fürs Gemüse. Im Auto herrschte bisweilen Kinderstreit, der sich in Übelkeitsattacken hineinsteigerte. Salzstangen halfen gegen Brechreiz, gegen den Streit versuchten wir zu spielen, im Rahmen unserer Möglichkeiten, in einem fahrenden Auto. Musik gehörte dazu. Wir hörten laute Musik. Zeynep, die Vierjährige wollte ständig „Cuppa“ von „Tarkan“ hören.

„Cuppa“ war für uns Erwachsene OK, nach dem Motto „Hauptsache Ruhe im Auto“, doch Daphne, meine 9-jährige Tochter, wollte ihr Lieblingslied auch mal hören. Bevor wir in eine erneute Eskalation des Streits gerieten, ging es mit dem Musikwunsch nun der Reihe nach. Das war eine schöne Idee, denn so wollten wir Erwachsene Musik aussuchen, die aus der jeweiligen Stadt oder Region kam, in der wir uns gerade befanden oder auf die wir uns hinbewegten. So war das auf jeden Fall auch eine musikalische Reise, die angereichert wurde von “Cuppa” und Ed Sheeran.
Von der Terrasse des Restaurants.

Amasra

 

Beim Spaziergehen in Amasra, Fotos: Murat Bilgen
Unser Frühstück fand an einer Flussmündung statt. Eine idyllische Landschaft, grün, etwas dunkel und leicht metallisch in der Morgensonne wirkend. Der Fluss, ein ins Blau gehendes Grün, floss ruhig. Das Restaurant direkt über dem Wasser gebaut, zumindest zum Teil. Es war um neun Uhr morgens bereits so heiß, dass wir die Schattenplätze auf der Innenseite der großen Veranda einnehmen mussten, anstatt mit direkter Sicht auf den Fluss. Es gab „Serpme Kahvaltı“, ein typisch türkisches Frühstück. „Serpme“ heißt „hingeworfen“, „verteilt“ oder „ausgebreitet“ und meint die verschiedenen Sachen, die zum Essen auf dem Tisch verteilt sind. Das waren bei unserem Frühstück zwei verschiedene Sorten Oliven, drei unterschiedliche Varianten an Käse, Butter, Süßrahm, Honig, Marmelade, klein geschnittene Gurken und Tomaten, in Butter gebratene Scheiben „Sucuk“ (Knoblauchwurst), Omelett und gebratene Kartoffeln. Dazu Toast und Weißbrot. Jeder Tisch bekam eine Kanne türkischen Tee und Wasser, für die Kinder gab es Kakao.
 
Für eine wie mich, die überhaupt nicht gerne frühstückt, die – wenn es sein muss – eine Scheibe Toast mit Marmelade mehr als ausreichend empfindet, war das eine Herausforderung: was esse ich, wie und in welcher Reihenfolge. Es waren viele kleine Tellerchen, die wie aus dem Puppenhaus geholt worden zu sein schienen. Man isst von allem etwas. So wird das Brot nicht in Scheiben geschnitten und beschmiert wie in Deutschland, was bei diesem türkischen Weißbrot auch unmöglich wäre. Es gibt dicke Scheiben, die in Mundportionen gezupft und mit den Sachen von den Tellern zusammen gegessen werden. Man kann diesen Happen vorher belegen oder nacheinander aufessen, ich meine erst das Brot und dann den Käse hinterher. Und so mancher Deutschtürke hatte sich nach seiner Rückkehr in die Türkei nach dem deutschen Brot gesehnt, das in Scheiben schneidbar ist. Es gibt inzwischen bei den meisten Bäckereien auch ein Vollkornbrot, das aber höchstens dem Namen nach dem Deutschen gleicht. Brot wird hier frisch zum Essen gekauft. Es wird stets frisch gebacken, mehrere Male am Tag. In dem Viertel, wo meine Schwestern wohnen, gibt es einen Bäcker, der dort alles zubereitet und backt. Eine Fertigteiglieferung kennt man dort noch nicht.


Auf dem Weg nach Amasra
 
Nach dem Frühstück brachen wir auf. „Wir haben noch eine Fahrt von etwa fünf Stunden“, sagte mein Schwager, der alles generalstabsmäßig geplant hatte. Das Ziel war Amasra, eine kleine Stadt, die auf einer Halbinsel und einer nahen Insel verteilt ist und die mit einer aus der Römerzeit stammenden alten Brücke verbunden sind. Mit den alten Namen Sesamos oder Amastris liegt sie, etwa 200 km von Istanbul entfernt an der Schwarzmeerküste, in der antiken Landschaft Paphlagoniens. Die Stadt ist nach einer persischen Adligen benannt, der Amastris, die angeblich von ihren beiden Söhnen wegen Herrschaftsanspruchs umgebracht wurde. Bis 1460 war Amasra unter genuesischer Herrschaft. Danach fiel sie durch die Eroberung von Sultan Mehmet II. mit der gesamten anatolischen Küste des Schwarzen Meeres zum osmanischen Reich, wonach Amasra aufblühte und wohlhabend wurde.






 

Dann kamen wir. Allerdings nicht so früh, wie mein Schwager es geplant hatte. Es war bereits Nachmittag, 16 Uhr. Unser Hotel (http://www.sardiniaotel.com/ )befand sich mitten in der Altstadt, klein aber (sehr) fein. Meine Tochter gierte nach dem Meer und war nicht mehr aufzuhalten. Es tat uns allen gut und so sind wir in der schönen Abendsonne am Stadtstrand schwimmen gegangen.

 
Es wurde langsam dunkel. Wir machten uns auf unseren Zimmern fürs Abendessen frisch. Wir gingen in ein Fischrestaurant (Mustafa Amca’nın Yeri) direkt ans Meer. (http://www.amasracanlibalik.com/) Es gab die typischen
Mezes, die kalt oder warm sein können. In einem solchen Restaurant wird nicht
individuell bestellt. Die Esskultur ist hier etwas anders. Vorspeise,
Hauptgericht und Süßes wird für die Mitte ausgewählt, wobei jeder seinen Wunsch
äußert. Aber: es wird zusammen gegessen, jeder von jedem. So bestellen wir
mehrere Vorspeisen.
Das Hauptgericht hat jedoch jeder selbst ausgewählt. Ich
hatte „Hamsi Tava“, kleine Sardellen, die in Maismehl gewendet und in der
Pfanne gebraten werden. Dieses schmeckte den Kindern so gut, die ihr Essen,
gebratener Lachs, haben liegen lassen, um meine „Hamsis“ zu verputzen. So aß
ich den Lachs, um satt zu werden. Aber das kannte ich bereits von meiner
Tochter. Sie bestellt immer das, was sie kennt. Beim Fisch ist es Lachs, beim
Eis immer Schokolade. Dann probiert sie von meiner Bestellung und will mit mir
tauschen, weil ihr meins besser schmeckt. So bestelle ich zwar immer etwas
Besonderes, esse aber dann sehr oft den Lachs.
Hier in den touristischen Gegenden, wenn auch überwiegend
inländischer Fremdenverkehr, kann man in vielen Restaurants Alkohol bestellen.
In anderen Orten hingegen gibt es wenig Restaurants mit Alkoholausschank. So
war das unser einziges Restaurant, wo wir während unserer Reise Alkohol
getrunken haben. Als hätten wir das gewusst, tranken wir noch ein Bier in der
Bar gegenüber dem Hotel, bevor wir ins Bett gingen.
Die Stadt ist klein. Erst am nächsten Morgen hatten wir die Gelegenheit, sie zu
besichtigen. Mit zwei Kindern und zwei Frauen war es für meinen Schwager nicht
einfach, seinen Zeitplan einzuhalten, den er sich in mühevoller Arbeit vorab
erstellt hatte. So standen wir spät auf, ließen uns reichlich Zeit beim
Frühstücken und mussten noch unbedingt von dem Stand vor dem Hotel Sonnenhüte
kaufen. Nun begannen wir auszusuchen, dabei fast jeden Hut aufzusetzen und
ebenfalls uns für die bunten Tücher zu interessieren, die an den Rändern schöne
Perlenstickereien hatten. Sie heißen im Volksmund „Çember“. Da stand ein
älterer Herr bei uns und stimmte sogleich ein altes türkisches Lied an
„Çemberimde Gül Oya, Gülmedim Doya Doya“. Wir stimmten mit an, sangen mit,
meine Schwester zuerst, dann ich, soweit ich das Lied kannte. Murat, der Schwager,
war hingegen fassungslos und entsetzt, wie wir später erfahren haben, denn er
wollte schnell ein paar schöne Fotos von der Burg machen, vom blauen Meer, das
drunter lag, und dann weiterfahren, um in der Zeit zu bleiben.
 
Hier das Lied zum Nachsingen aus einer alten Plattenversion, die musikalisch vielschichtiger ist als die neuen Interpretationen.
 
 
 
Aber wir Frauen wollten mit dem alten Mann erst zu Ende
singen. Später auf der kleinen Insel, die ein normaler Mensch ohne Kind an der
Hand oder auf dem Arm in 10 Minuten hätte durchwandern können, brauchten wir
eine Stunde, unter anderem weil wir Wasser kaufen und daraufhin auf die Toilette
gehen mussten und auch noch von der Frau, die ihre selbstgemachte Marmelade am
Straßenrand anbot, jede einzelne probieren und mit ihr diskutieren mussten,
um dann drei Gläser von ihr zu kaufen.


Dabei ist mir aufgefallen, dass diese Arbeiten, etwas selbst
machen und zu verkaufen, die Frauen in der Türkei besser beherrschen als die
Männer. Sie haben einen Geschäftssinn und sind sehr tüchtig. Bauersfrauen, mit
gegerbtem Gesicht und Arbeitshänden, hatten jedoch alles sehr genau und gut
vorbereitet. Sie haben fein säuberlich ihre Ware in kleinen Gläsern
aufgestellt. Daneben offene Gläser zum Probieren. Sie reichte uns kleine
Plastiklöffel, die sie nach Gebrauch wieder sammelte und von denen ich ausgehe,
dass diese am Abend für den Gebrauch am nächsten Tag gewaschen wurden. Sie hat
nichts zu verschenken und zu verschwenden ebenfalls nicht. Und so sprach sie
jeden an, der am Stand vorbeilief, während ihr fauler Mann mit seinen Freunden
etwas Abseits am Haus saß und „Tavla“ (Backgammon) spielte. Wir probierten ihre
speziellen Sorten Marmelade, die zum Teil aus Früchten, zum Teil aber auch aus
Blütenblättern gemacht waren. Es gab unter anderem Rose, Jasmin, und
Tausendgüldenkraut zum Probieren. Am interessantesten fand ich jedoch Chili-
und Milchmarmelade.

Taşköprü und Knoblauch




































Die Provinz
Kastamonu ist berühmt für die besonders „grobe“ Betonung der Sprache; Kastamonu,
dort, wo das Ende eines Wortes oder Satzes in ein U übergeht und dort, wo die
Menschen mit Bären verglichen werden, weil es dort eben diese dichten und
unbewohnten Laubwälder gibt, wo diese Tiere leben. Zwei meiner Tanten sind mit
Männern aus Kastamonu verheiratet, nur kannte ich weder den Ort noch die
Gegend. Der Wald ist wild aber zugleich auch von einem Grün, das nie wechselt,
nicht reflektiert, nie anders wird, sehr gradlinig und konsequent ist in seinem
Farbton. Kilometerlang das gleiche, einfache Grün der Bäume, das in der Sonne
nicht heller wirkt. So ein dichter Wald, Blatt an Blatt ganze Berge entlang, wo
nichts auf den Boden fallen würde, wenn der Herrgott etwas herunterfallen
lassen sollte, waren meine Gedanken.

 
Da musste
ich unweigerlich an Heredot denken, der behauptet haben soll, ganz Anatolien
wäre so grün bebaumt, dass ein Affe, würde man ihn in Byzanz (heute Istanbul)
auf einen Baum setzen, seinen Weg von Ast zu Ast bis zum Mittelmeer machen
könnte, ohne jemals den Boden zu berühren. Viele sagen zwar, Heredot wäre jemand,
der extrem übertreibt, wenn nicht gar ein Lügner war, doch in dieser Hinsicht hatte
er vermutlich recht. Möglicherweise war das ganze Land so dicht bewaldet. Ich
hatte an einer anderen Stelle gelesen, dass die Römer ganz Anatolien abgeholzt
hätten, um Marmorblöcke besser transportieren zu können. Sie hatten diese auf
Baumstämme gelegt und darauf gerollt. Das war die erste menschlich erzeugte
Naturkatastrophe. Anscheinend waren sie hier in der Gegend nicht, oder nicht
lang, die Römer.
 
Die Hitze
draußen war unerträglich. Wenn ich es hier im Blog immer wieder erwähne, will
ich es wiedergeben, was bei uns im Auto immer so das „Top-Thema“ war: „çok
sıcak“, „sehr heiß“! Das ist der häufigste Satz, den man in der Türkei im
Sommer hört. Doch im vergangenen Sommer hörte ich es ebenfalls in Deutschland
und musste schmunzeln. Aber nun weiter mit der Reise. Es war sogar so warm,
dass der Asphalt sich aufgelöst hatte. Wir verließen den grünen Berg und kamen
auf eine Ebene. Die Autoreifen hinterließen tiefe Rillen auf dem aufgeweichten
Belag. Aussteigen unmöglich. So fuhren wir eine Weile, bis wir aus Taşköprü den
berühmten Knoblauch holten, der uns die ganze weitere Fahrt über begleiten
sollte.


 



Taşköprü hat
den Namen von einer alten Steinbrücke über einen kleinen Fluss, der vermutlich
die meiste Zeit im Jahr ausgetrocknet ist. Seit meine Schwester auf Google
gesehen hatte, dass dieses Knoblauch-Mekka sich auf unserem Weg befindet,
erzählte sie, wie sie auf dem Wochenmarkt in Istanbul diesen berühmten
Knoblauch gekauft hatte, der besonders dicke Zehen gehabt hätte. Sie beschloss
einstimmig, dass wir auf jeden Fall von dem Knoblauch kaufen sollten, ein
Mitbringsel für die große Familie. Wir fuhren dann von der Landstraße ab,
Richtung Taşköprü, auf ein bereits abgeerntetes Plateau. Im Auto diskutierten
derweil meine Schwester und ihr Mann, ob sie nun den Knoblauch vom Straßenrand nehmen
oder direkt aus der Stadt kaufen sollten. Da entschieden sie, dass wir zum Dorf
– denn es war keine Stadt, sondern ein größeres Dorf – hineinfahren. Wir fuhren
aber gerade an der alten Steinbrücke vorbei, die wir überqueren mussten, um ins
Dorfzentrum zu kommen. Eine kurze Aufregung seitens meiner Schwester, dass wir die
Ausfahrt verpasst hätten. Mein Schwager fuhr weiter, wo wir etwas mehr als
einen Kilometer entfernt die breite, neue Brücke sehen konnten, auf die dann
mein Schwager rechts abbog. Kaum waren wir auf der Brücke, warf meine Schwester
ein, warum wir nicht die alte Brücke nehmen, wenn wir schon hinfahren. Mein
Schwager machte darauf einen U-Turn, um wieder auf die Landstraße zurück zu kommen, wo
wir abgefahren waren. Da mischte ich mich ein, dass es doch unnötig sei
umzukehren, schließlich liefe die alte Brücke nicht davon, wir hätten noch die
Möglichkeit, den Rückweg über sie zu nehmen.
Mein Schwager umrundete den Kreisverkehr erneut, um wieder auf
die Brücke zu kommen und schlussendlich über sie ins kleine Städtchen zu
fahren.



Knoblauchernte, Quelle: Youtube


Infos-Link Tasköprü

 
In den
Straßen herrschte gespenstische Ruhe. Wir fanden schnell den Umschlagplatz für
den Knoblauch: eine weitläufige Fläche, vielleicht zwei Fußballfelder groß, wo
Bauern ihre Ware an Großhändler feilboten. Noch war kein Betrieb. Nur ein
Traktoranhänger stand am Straßenrand und wir fuhren zu ihm. Als wir die
Autotüren öffneten, mischte sich die Höllenhitze mit Knoblauchduft. Ohne lange
zu weilen, kauften wir von den drei Männern fünf Kilo erntefrischen Knoblauch.
„Bitte die Knollen nicht in der Tüte lassen. Sie sind frisch geerntet und müssen noch atmen. Also, alle zwei Stunden an die Luft rausstellen!“ Der Rat des alten
Bauern, der uns dann die Tüte mit dem Knoblauch mitgab.
 
Von dem
Moment an wurde der Knoblauch unser Begleiter. Um die Geschichte an jedem Ort,
den wir danach besuchten, nicht erneut erzählen zu müssen, fasse ich alle
Ereignisse mit dem Knoblauch hier zusammen. An unserem nächsten Hotel hatten
wir französische Fenster, die bis zum Boden ragten und draußen ein Geländer
hatten. So war das perfekt für den Knoblauchsack, der die Nacht nicht im Auto bleiben
konnte. Er reiste mit uns ins Hotel. Am zweiten Hotel, wo wir
nachts mit kühlem Regen ankamen, hatten wir diese Möglichkeit nicht. Auf das
Zimmer wollten wir ihn nicht mitnehmen. So baten wir den jungen Rezeptionisten
um Hilfe und er deponierte ihn in der Hotelküche. Spätestens jetzt wird sich
der Leser fragen, ob wir nichts gerochen haben. Fünf Kilo Knoblauch, dessen
Lauch noch feucht war, das riecht. Anfangs war der Geruch im Auto sehr stark.
Doch mit der Zeit verschwand er, worüber wir uns selber wunderten. Das war
allerdings ein Trugschluss, denn die ganze Familie rümpfte die Nase, als wir
nach drei Tagen und zwei Nächten in Begleitung der Knolle endlich bei uns im
Dorf ankamen. „Alles stinkt, ihr stinkt bestialisch!“, sagten sie. Wir hielten
es jedoch für sehr übertrieben. Wir selber rochen nichts. In Taşköprü haben wir
den Geruch selber sehr stark wahrgenommen. Die Luft roch danach, als wir aus
dem Auto ausstiegen. Und es stimmte nicht, dass die Zehen besonders dick waren.
Im Gegenteil, dieser Knoblauch hatte besonders kleine Zehen, dafür war er sehr
scharf und aromatisch und intensiv im Geschmack. Meine Schwester wurde
eindeutig auf dem Wochenmarkt betrogen. Immerhin hat dieser Betrug uns dieses
wundervolle Reiseerlebnis beschert.



Das Lied “yesil ördek” war eines der Lieblingslieder der Kinder. Vermutlich weil es darin eine grüne Ente geht. 

 
Nachdem wir
über die neue Brücke eingefahren waren, nahmen wir auf dem Rückweg die alte
Steinbrücke und verließen Taşköprü. Die Hitze war so unerträglich, dass die
Kinder freiwillig im Auto bleiben wollten, wenn wir anhielten, um vom Meer oder
der Gegend Fotos zu machen.

 

Zonguldak

Von Amasya machten wir uns auf den Weg nach Sinop, doch unterwegs hatten wir noch ein paar weitere Orte und Sehenswürdigkeiten vor uns.
Im Auto hörten wir immer abwechselnd die Lieder, die mit Hayde anfingen, denn das war das Opening, wenn wir nach einem längeren Aufenthalt wieder losfuhren. Dann wechselten die Lieder wieder unter uns Erwachsenen, während die Kinder beharrlich bei ihren wenigen blieben. Neulich telefonierte ich mit meiner Schwester, die mir erzählte, ihre Tochter Zeynep hätte sie angesprochen, dass sie schon so lange keinen Ed Schareen – Song mehr gehört hätte. Diese Reise hatte also bei den Kindern ebenso tiefe und fortbleibende Erinnerungen hinterlassen.
Im Auto saß ich hinten links, hinter dem Fahrer. Ich hatte einen Vorzugsplatz, sagte aber nichts. Und so konnte ich meinen Blick auf dem türkisfarbenen Meer weilen lassen, soweit mein Auge reichte. Wir fuhren an der Schwarzmeer-Küste entlang, von Westen nach Osten. Im Horizont vermischten sich die blauen Farben, die des Meeres mit denen des Himmels. Warum nannte man dieses lieblich funkelnde Azur das Schwarze Meer? Das machte keinen Sinn, denn hier war nichts schwarz. Die Fläche vor mir war changierend, in den Tiefen dunkel, zur Bucht hin ein bezauberndes Türkis, das ich von Karibik-Fotos
kannte. Wellenlos lag es da, während wir an den steilen Küstenhängen entlang, mal auf mal ab, fuhren. Ab und zu hielten wir an um zu fotografieren, doch die Fotos waren nicht in der Lage das wiederzugeben, was das Auge sah. Dieses Meer sollte uns noch lange begleiten, zunächst bis nach Zonguldak.







Infos zu Zonguldak:



Kultur und Geschichte Zonguldag
Reiseführer Zonguldag
https://de.wikipedia.org/wiki/Zonguldak_(Provinz)

Zonguldak hatte ich zuletzt in meiner Kindheit besucht, in einem Dampfzug, in Begleitung meines Onkels Ensar, der eine Sauberkeitsmanie hatte. Er hatte mich prompt beschimpft, weil ich mich mit meiner weißen Hose einfach so im Zugabteil auf eine Sitzbank gesetzt hatte. Er hingegen hatte sein
großes Stofftaschentuch aus der Hosentasche geholt, um das Sitzpolster zu putzen. Aus dieser Stadt konnte ich nur diese eine Erinnerung mitnehmen. Etwas Besonderes gab es dort nicht. Ein kleiner Hafen und ein Bahnhof mit den rauchenden Dampfzügen.
Zonguldak, 1977; Quelle: Internet (eski Fotograflar)

 

 
Diese Züge waren leider verschwunden. Auf den Gleisanlagen von damals wuchs Gestrüpp und Gras. Der alte Hafen lag in einem Dornröschenschlaf. Alte Fischerboote schaukelten hin und her. Die Altstadt war klein mit engen Gassen, wo Handwerker nach wie vor ungestört von der Moderne oder besser noch, die Moderne ignorierend ihr Handwerk ausübten. Dazwischen kleine Teehäuser, wo sie sich auf einen Plausch trafen. Die Häuser schief, klein, manche ungeputzt oder der Putz bröckelig. Wir fuhren nicht hinein, denn da sollte man zu Fuß hingehen, um die Atmosphäre mitzubekommen. Doch die Kinder
hatten Hunger, es war ein unglaublich heißer Tag. Wir machten Halt an einer breiten Straße, etwas entfernt in der Neustadt, die sich auf die umliegenden steilen Hügel ausdehnte. Früher waren dort höchstens ein paar Bergdörfer, soweit ich mich erinnern konnte. Aber, ich konnte auch ohne große Erinnerung sehen, dass die Bauten an den Berghängen neueren Datums waren. Die typische lieblose Architektur, die nicht mal einen richtigen Namen hat. Aber, wenn man mal in der Türkei gewesen ist, weiß man, was ich damit meine. Es ist dann egal in welcher Stadt man ist, denn diese Häuser sehen überall gleich aus.
 
Wir verließen das Stadtzentrum in Richtung Tropfsteinhöhlen, die unser nächstes Ziel werden sollten. Bevor ich von der Höhle berichte, muss ich eine kleine Anekdote loswerden, die uns im Auto erheiterte. Als wir aus der Stadt hinausfuhren, sahen wir ein Hinweisschild zu den Tropfsteinhöhlen Gökgöl.
Man muss sich diese Stadt, auch wenn sie in den letzten Jahren durchaus größer geworden mag, nicht so vorstellen, dass man darin verloren gehen kann. Es gibt dort eine Hauptstraße, eher eine Landstraße, die durch die Stadt hinein- und wieder hinausführt. So hatte uns dieses Hinweisschild darauf hingewiesen, weiter zu fahren, was wir auch eine Weile taten. Als kein weiteres Schild zu sehen war, beschlossen wir, jemanden nach dem Weg zu fragen. Wir näherten uns einem älteren Mann, der uns dann freundlich und überschwelgend Auskunft gab.
Laut seiner Aussage waren wir ganz nah dran, nur 300 Meter noch und dann auf der linken Seite würden wir den Eingang sehen können. „Und bitte, besuchen Sie auch unser Museum für Kohleabbau!“, empfahl er uns, vermutlich weil er den großen Teil seiner Jugend im Bergbau gearbeitet hatte. Zonguldak ist einer der Städte, in der bereits sehr früh Kohle abgebaut wurde. Hier wird Kohle „schwarze Perle“ genannt und einige der Zechen sind nach wie vor aktiv. Hinzu kommt, dass ein in der Türkei sehr berühmter Film ebenfalls hier gedreht wurde. Wir sprachen darüber im Auto, während wir weiterfuhren, doch auch nach gefühlten 1000 Metern war keine Höhle zu sehen. Wir hielten an und fragten einen anderen Mann am Straßenrand. Er bestätigte die Richtung, nur müssten wir knapp zwei Kilometer weiterfahren, erst dann käme die Einfahrt zur Höhle. Wir hielten uns genau an die Aussage des Mannes, doch kein Zeichen von der versprochenen Höhle. Wir hielten abermals an und fragten erneut einen Passanten. Auch er sagte, wir wären richtig, nur müssten wir noch etwa 800 Meter weiterfahren. Schlussendlich fanden wir die Höhle, aber wir lachten über die Angaben der Entfernungen.


 

 




Die Tropfsteinhöhlen waren erst letztes Jahr für Besucher geöffnet worden. Vor dem Eingang hatten wir ein Café erwartet, was es so nicht gab. Eine portable Toilette, die zu einer permanenten umgewandelt wurde, allerdings sehr unbrauchbar war (weitere Details erspare ich an der Stelle).
Etwas abseits stand ein schief zusammengezimmerter Tisch mit zwei ebenso schiefen Sitzbänken, worauf zwei große Flaschen Cola standen. Zwei Männer saßen da und beobachteten uns. Wir fragten sie, ob es etwas Größeres gäbe, ein Café oder etwas Ähnliches, doch beide verneinten. Sie seien noch nicht so weit. Die Höhlen könnten wir besichtigen, und wenn wir wollten, könnten wir auch kurz bei
ihnen Platz nehmen. Sie würden dann aufstehen. Wir bedankten uns und liefen direkt auf den Eingang der Höhle zu. Der ältere stand auf und begleitete uns ca. 50 Meter. Dann blieb er vor uns stehen und beäugte uns streng ob der sommerlichen Bekleidung. „Da drinnen ist es sehr kalt. Die Kinder sollten
wenigsten etwas zum Anziehen mitnehmen“, empfahl er. Wir liefen zum Auto zurück und nahmen Strickjacken mit, wobei ich mir in diesem Moment, bei 40 Grad im Schatten, keine Kälte vorstellen konnte. Ich habe sogar an die typisch türkische Übertreibung gedacht, wenn es um Kälte geht. Doch es gab eine spürbare Klimaänderung, die etwa 20 Meter entfernt des Einganges zu spüren war. Die feuchte Kälte strömte uns entgegen wie ein kalter Atem. Da zogen wir eilig die Jacken an.
 
Da die Höhle neu eröffnet wurde, waren wenig Besucher da. So wurden wir vom Ticketverkäufer freundlich empfangen. Er gab uns Helme, denn an manchen Stellen hing die Decke richtig tief. 1,6 km sei der Weg lang, auf den wir uns begaben. Vorher ließen wir uns von ihm noch am Eingang fotografieren. 
 
Die Tropfsteinhöhle selbst ist insgesamt 3350 Meter lang.
Die ersten 800 Meter sind begehbar, durch aufgeschüttete Wege und Brücken, die teilweise über einen unterirdischen Bach führen. Eine Landschaft wie aus einem Film, vermutlich auch durch die Beleuchtung diesen Effekt gewinnend, eine Zauberwelt, die teilweise an das innere eines Lebewesens erinnert, wo wir
Organe zu sehen glaubten, ein rotes Herz, zwei blaue Lungenflügeln, teils allerdings an etwas überirdisches, eines Planeten in einer fremden Galaxie, mit Säulen und alleinstehenden Figuren in einer kahlen Steinwüste. Wir waren fast alleine unterwegs, und das beflügelte unsere Fantasie vermutlich umso mehr, weil wir ungestört darin flanieren konnten. Der Weg ist kein Rundgang, so dass wir bis zum Ende des Weges gingen, der auf einer Erhöhung endete, an einen Berg mit einer Aussichtsplattform erinnernd. Von da aus konnten wir ins tiefe Dunkle hineinblicken, wohin der weitere Verlauf der Höhle lag.



– Volkslied aus der Gegend Zonguldak –



 

Nach dem Besuch der Höhlen setzten wir unsere Reise fort.
Dieses Mal nicht am Meer entlang, sondern durch die Berge und Wälder, durch einen Nationalpark mit dichten, grünen Laubbäumen und scharfen Serpentinen, die ein Überholen unmöglich machten. Der Weg erforderte vom Autofahrer die volle Aufmerksamkeit, die Insassen wie mich begeisterte das Laubgrün der Bäume. Es war alles so unglaublich dicht, dass ich nie das Braune der Stämme oder der
Äste sah. Wir fuhren lange durch diese irre Landschaft, wo keine menschliche Behausung zu finden war, nicht mal eine Tankstelle. Wir waren in der Wildnis, woran uns die Warnschilder nach Bären erinnerten. Es ist also wahr, wenn die Menschen aus Kastamonu in ihrem groben Dialekt „Vorsicht, es kann dir ein Bär begegnen“ sagen. Nun, wir sind hier in den Bergen von Kastamonu, wo tatsächlich Bären leben. Aber, wir sind ja im Auto unterwegs und halten wollen wir hier auch nicht.
 
 
 

Sinop und das berühmte Gefängnis

Tarihi Sinop Kapali Cezaevi, das Gefängnis, das Zeitweise auch als Alcatraz der Türkei genannt wurde, ist
1999 geschlossen und zu einem Museum umgewandelt worden. Die Burg, in die das Gefängnis gebaut ist, wurde vor ca. 4000 Jahre vermutlich von Kaschkäer erbaut.(Infos zu Kaschkäer) Alle nachfolgenden Reiche haben ihn erhalten und weiter ausgebaut. 

 

Die Stadt besteht aus der Altstadt und der Neustadt, wobei wir erst durch die Vororte der Neustadt fuhren, bis zum nördlichsten Punkt, dort, wo sich die Landschaft wie eine Sanduhr in der Mitte verjüngt, um später wieder breiter zu werden. Die Altstadt befindet sich genau an dieser schmalen Stelle, auf der östlichen Seite, direkt am Meer. Die berühmteste Sehenswürdigkeit ist ein Gefängnis, das mindestens seit 1568 Zuchthaus benutzt wurde (die älteste Benennung durch Nutzung als Gefängnis ist 1568 datiert. Viele berühmte politische Andersdenkende und immer wieder Schriftsteller wurden dort inhaftiert. Sabahattin Ali ist einer von Ihnen, von dem wir an den Wänden vor seiner Zelle wunderbare Gedichte lesen konnten, die sich auch in vielen Liedern wiederfinden. Dazu aber gleich mehr.

Wir fragten einen Mann, der an der Tankstelle arbeitete, nach dem Weg, um herauszufinden, ob wir mit den Kindern zu Fuß hingehen konnten. Er war genervt und zeigte uns seinen Unmut, was man von den Türken an sich nicht kennt. Nur seine Abneigung fiel nicht auf uns oder auf unsere Frage; sie galt rein dem Gefängnis, wo er vier Jahre bis zu seinem 18. Lebensjahr verbracht habe, wie er uns dann erzählte. „Was wollt ihr da? Geht ans Meer, genießt die Natur.“ Dann schaute er auf seine Füße und wir schwiegen betroffen. Doch dann hob er den Kopf, lächelte und beschrieb den Weg: „Die Straße entlang, dann kommt ihr genau am Eingangstor. Ist nicht weit.“ Das Land ist noch voll von Menschen, die hier gesessen haben. 

Das Gefängnis besteht aus mehreren Gebäuden, die, wie der Turm, in die Stadtmauer integriert sind. Im ersten, von der Straße aus, waren Kinder und Jugendliche untergebracht. Danach läuft man durch eine schmale Gasse zu den eigentlichen Gefängnis-Gebäuden. Vor dem Tor dahin sahen wir den kleinen Laden, worin der typische Glasperlenschmuck der Insassen verkauft wird. Der Verkäufer empfing uns
freundlich und bat, die Ware nicht durcheinander zu bringen, weil sich dort Nummern befinden, von Häftlingen, die sie gemacht hatten. Der Erlös gehe direkt an sie. Er sei Beamter und beziehe sein Gehalt vom Staat. Und da standen wir inmitten glitzernder Glasperlen-Figuren. Hier eine Schildkröte, da Delphine, Micky Maus, Fußballwappen, Handtäschchen und Armbänder. Wir kauften reichlich ein, Mitbringsel für Familie und Freunde.  An der Kasse hat er die Nummer in einer dicken Kladde aufgeschrieben. Hinter jeder Nummer ein Mensch, der irgendwo in einem Gefängnis sitzt und aus Glasperlen Figuren herstellt, um sich die Zeit zu vertreiben und etwas Geld zu verdienen. Weswegen sie sitzen steht da nicht drin. Vielleicht sind Mörder darunter, Betrüger, Diebe aber auch politisch motivierte Gefangene? Aber hier in diesem Laden wird nach Gefallen oder Nichtgefallen der Arbeiten beurteilt. Mit schwer beladenen Tüten und Eindrücken verlassen wir den Laden.

Der schmale Gang brachte uns durch die Verwaltung hindurch zu einem schönen Garten, wo ein alter Maulbeerbaum stand, der, wie alles an diesem traurigen Ort, seine eigene Geschichte hatte. Dazu erzähle ich gleich mehr. Wir besichtigten die alten Gemäuer, worin die Gefangenen in großen Einheiten gelebt hatten, in den „Koğuş“. Das waren große Zimmer mit Etagenbetten, teilweise dreistöckig mit gemeinsamer Kochecke und Toilette. Hier bildeten sich Freundschaften wie Feindschaften; es gab eine Hackordnung, die ich aus Filmen oder in Büchern kannte.
Wir gingen Haus für Haus durch, besuchten die schmalen Einzelhaftzellen mit der schweren Eisentür zum Korridor. Gegenüber der Tür war ein Plumpsklo eingelassen, ähnlich wie das aus meiner Kindheit im alten Haus im Dorf: ein aus grauem Stein ausgehauenes Loch, mit zwei Fußstellen, worin grobe Ritzen gekerbt waren. An der schmalen Wand war ein Waschbecken, ebenfalls aus Stein; ihm gegenüber eine Metallpritsche. Der Boden schwarz und modrig. Wenn die Tür zu war, kam kein Sonnenlicht herein. Fenster gab es nur im Korridor. Von der Decke hing eine nackte Glühbirne herunter.

Die Gemeinschaftsräume dagegen waren im Verhältnis wohnlicher. In einem dieser Häuser waren die Gedichte aufgehängt. Die Zelle des berühmten Dichters Sabahattin Ali, mit seinen persönlichen, spärlichen Möbeln ausgestattet. Es kam uns Musik entgegen, eine Vertonung seines Gedichtes. Ali war sehr lange eine persona non grata in der Türkei. Er wurde inhaftiert, weil er den Staatsgründer Atatürk angeblich beleidigt hatte. Später wurde er auf der Flucht ermordet. Bis heute weiß man nichts Näheres über seinen Tod und auch nicht, wo er begraben liegt. Aber die ehemalige Zelle ist hübsch aufgebaut. Im Flur davor hängt sein Portrait, mit Lebenslauf und Gedichten. Darunter auch eins, das er hier in diese Gefängnis geschrieben hatte. Aldirma gönül: „Dışarda deli dalgalar. Gelirduvarları yalar“, (Draußen verrückte Wellen, kommen, um an den Mauern zu lecken)

Das berühmte Gedicht Sabahattin Alis “Aldirma Gönül”, das er im Gefängnis in Sinop geschireben hat. Gesungen von Edip Akbayram.

Im Hof bei den Gemeinschaftsräumen stand oben erwähnter Maulbeerbaum, dessen Früchte mit jedem Windzug herunter regneten. Seine Geschichte stand auf einer Tafel wie folgt geschrieben: Ein Gefangener bat um Erlaubnis, einen Maulbeerbaum im Hof des Gefängnisses pflanzen zu dürfen, als Trost für all diejenigen, die hier sitzen und die um ihr Leben bangen mussten, denn damals gab es noch die Todesstrafe. Sie sollten sich sagen: „der Mann, der diesen Baum gepflanzt hat, ist nicht erhängt worden. Er ist hier lebendig rausgekommen. Das werde ich auch.“ Tatsächlich ist der Baum genehmigt und sein Ideengeber nicht erhängt worden. Und so spendete er uns unter der heißen Mittagssonne Schatten, denn die Kinder wollten nicht jede Zelle besichtigen. Sie langweilten sich. Sie wollten lieber die frisch heruntergefallenen Maulbeeren aufsammeln und essen. 

Abends suchten wir ein sehr gemütliches Restaurant, wo die typischen „Sinop Mantı“ frisch gemacht und serviert wurde. „Mantı“ ist eine Art Ravioli, die hier mit Walnüssen serviert wird.

Zum Abschluss ein Gedicht Alis, gesungen von der türkishen minik Serce (kleiner Spatz) Sezen Aksu

Das Meer und wir

Am nördlichsten Punkt der Türkei
Wir verließen Sinop an einem stürmischen Tag. Auf unserem Programm stand der nördlichste Zipfel der Türkei, mit dem Leuchtturm, den mein Schwager unbedingt sehen wollte. Die Straße schlängelte sich aus den Häuserreihen hinaus, bergauf in einer kargen Landschaft, mit steilen Hängen zum Meer, die mit Gestrüpp bewachsen waren. An einer besonders schönen Stelle machten wir einen kurzen „Foto-Halt“, um die tosende Brandung zu sehen. Der Wind wehte so stark, dass er die Autotür gegen das Bein drückte, fast unmöglich, auszusteigen. Die Kinder ließen wir drinnen, aus Angst, sie könnten sich nicht gegen den Wind halten und weggeweht werden. Derweil beschwerte sich meine Tochter. Sie wollte Schwimmen gehen, was ich ihr versprochen hätte. Aber, woher sollte ich wissen, dass es so stürmen würde. Doch das Kind gab keine Ruhe. Wir beschlossen, uns aufzuteilen. Ich blieb mit ihr am Strand und meine Schwester fuhr mit ihrem Mann und ihrer Tochter zum Leuchtturm. 






Das Schwarze Meer
































 
Der Wind wurde am Strand zu einem Sandsturm. Wir gingen ins Wasser. Am Stand lagen die leeren Liegen, die zur Seite gedreht waren. Ein paar junge Männer und ein großer Straßenhund, ein Kangal Hirtenhund-Mischling, waren die einzigen, die wie wir am Strand waren. Sonst hatten wir Meer und den langen Sandstrand für uns alleine. Das Wasser war relativ kalt; wir konnten nicht lange drinbleiben. Legten wir uns an den Strand, wurden wir augenblicklich vom Sand paniert. So wechselten wir uns ab, mal plantschten wir im erstaunlich ruhigen Wasser, mal lagen wir paniert auf der Liege. Der feine Sand verteilte sich schnell. Binnen Sekunden lag eine Schicht auf unserer Haut.
 
So vergingen Stunden, und der Wagen mit den anderen kam nicht. Weil wir mit nichts als unseren Handtüchern und Bikinis am Leib am Strand geblieben waren, machte ich mir Gedanken, was zu tun wäre, sollte das Auto überhaupt nicht mehr zurückkommen, aus welchen Gründen auch immer. Auch Daphne musste die gleichen Gedanken gehabt haben, denn sie erwähnte, das Auto wäre fort, und wir würden nun das ewige Spiel zwischen Meer und Sand bis zur Erschöpfung wiederholen. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, gab es ein kleines Restaurant. Ich würde umhüllt in meinem Badehandtuch dorthin gehen und Hilfe holen. Am besten die Polizei anrufen lassen oder wen auch immer? Ich hatte mein Handy mit der gesamten Tasche im Auto gelassen und alle Telefonnummern ebenfalls.
Es war eine unglaublich selbstverschuldete dumme Situation, in der ich mich befand. Dazu noch meine Tochter, der ich Mut einreden musste, denn es reichte, wenn einer sich Sorgen machte. Es waren mehr als drei Stunden vergangen, wo wir zwischen kaltem Meer und Sandsturm abwechselten. Gott sei Dank kann Daphne nie genug vom Wasser bekommen. Wenn ihre Stimmung beim Liegen auf unserer Liege zu kippen drohte, wo ich sie fest umschlungen auf meine Brust drückte, damit sie keinen Sand in die Augen bekam, schlug ich ihr vor, Schwimmen zu gehen. Und augenblicklich löste sie sich aus der engen Umklammerung und rannte dem Sturm davon, ins Wasser. Nur war ich fast am Ende mit meinen Kräften. Noch eine Runde im Meer und dann ins Restaurant, dachte ich, als ich das Auto kommen sah. Endlich, Erlösung.
 
Der Grund der dreistündigen Verspätung: der Sturm hatte einen Strommast umgerissen, worauf die Leitung auf der Fahrbahn gelegen hatte. Der Wagen vor ihnen war nicht drübergefahren und hatte angehalten, wie auch mein Schwager. Wenig später war ein Wagen der Stadtwerke gekommen, hatte aber nichts unternommen und war auch nicht über die auf der Fahrbahn liegende Leitung gefahren, sondern umgedreht und weggefahren. Sie waren bereits auf dem Rückweg zum Strand und die Straße die einzige asphaltierte. Sie mussten umdrehen und Ackerwege nehmen, die sonst von Traktoren befahren werden. An einer Stelle hatte mein Schwager das Auto unten auch noch gegen einen großen Stein geschrammt, so dass es tropfte, als sie uns abholten.
 
Während sich Murat zusammen mit dem Besitzer der Liegestühle die Pfützen unter dem Auto ansahen, wobei dieser wie ein Sachverständiger mit seinem Feuerzeug überprüfte, ob sie entflammbar waren, also ob es Öl oder Benzin war, ging ich mit meiner Tochter zu den Duschkabinen, um den ganzen Sand von uns abzuwaschen. Zurück zum Auto fachsimpelten beide Männer immer noch. „Es sei kein Benzin“, sagte der Liegestuhlverleiher, aber mein Schwager solle auf jeden Fall zu „Sanayi Çarşısı“ hinfahren, eine Werkstättencity direkt vor der Stadt, wo sich sämtliche Autoreparaturhäuser versammelt hatten. Es gab die Straße der Peugeots oder der Renaults, und mit ein wenig Mühe und Nachfragen fanden wir auch die Werkstatt, die sich auf Volvo spezialisiert hatte. Kurz vor Feierabend kamen wir da an und der Meister lachte herzhaft, als mein Schwager ihm durch das offene Fenster seine Befürchtungen wegen den Tropfen erzählte. „Das ist bestimmt die angesammelte Flüssigkeit der Klimaanlage, aber ich schaue es mir mal an.“ Und außerdem, fügte er hinzu, sei der Volvo unten komplett zu, da hätte kein wichtiger Schaden entstehen können. Er lachte schelmisch und schaute zu den anderen in seiner Werkstadt und dann fragte er Murat, warum er sich keinen Geländewagen kaufte, denn er wäre so ein Geländewagentyp.
Mein Schwager lachte und gab ihm die 50 Lira. Wir amüsierten uns dann beim Fahren, stellten uns vor, wie er sich über uns lustig machte, den anderen Mitarbeitern von uns erzählte, wie er abends nach Hause ging und seiner Frau und seinen Kindern von uns berichtete, von uns Ahnungslosen, die nicht wussten, dass ein Volvo unten komplett dicht ist. „Da kaufen sie sich einen Wagen, wissen aber nichts über ihn.“, wird er den anderen erzählen und seine Zuhörer würden ihm zustimmen. „Abi, neulich kam einer zu mir“, wird ein Kollege den Ball aufnehmen und seine eigenen Erfahrungen mit Kunden berichten. Wir erzählten uns diese Möglichkeiten, wie unser Meister und seine Kollegen über uns lachen würden, und lachten selber von ganzem Herzen. Und das ging eine ganze Weile. Das ist ein wunderbarer Humor, den ich dort beobachten konnte. Ich glaube, hier würde so eine Situation anders verstanden werden. Die süffisanten Bemerkungen von dem Automechaniker würden vermutlich als kundenfeindlich empfunden werden und überhaupt würde sich kein Dienstleister so frech gegenüber einem Kunden geben. Wir genossen jedoch die Situation des dummen und ahnungslosen Kunden und lachten mit, fanden Argumente und weitere Anekdoten, was er über uns wohl so alles zu erzählen vermochte, und fuhren dabei Richtung Süden. Die grünen Berge ließen wir hinter uns. Die Serpentinen wurden anstrengend, die Landschaft kahl, wie ich sie aus meiner Kindheit kannte. Die ockerfarbenen Hügel, wo ich als Kind dachte, hier könnte man tolle Cowboy-Filme drehen. Eine ganze Weile begleitete uns rechts und links dieses sanfte Gelb. 
 
Passend zum Meer das Lied von Dario Morano “Deniz ve Mehtap”
 
 
 
 
Und später, als wir durch die gelbe Hügeln fuhren etwas besänftigendes. Zugegeben, meine Auswahl an Lieder waren selten aus der Türkei, weil ich diese Musik leider nicht sehr gut kannte. 
 
 
 

Zwischen Ünye und Ordu

Es wurde spät, wir hatten die Verzögerungen aufzuholen. Die Nacht war in Ordu geplant, doch der Weg bis zu diesem Küstenort war weit. Wir fuhren nun entlang der östlichen Schwarzmeerküste. Obwohl das gleiche Meer, war hier das Liebliche weg. Hier hatten wir einen Temperatursturz von gefühlt 20 Grad. Es regnete. Ein Gefühl von Heimat ergriff mich und sagte mir innerlich „das ist das tatsächliche Schwarzmeer, eben, da wo das Meer dunkel ist.“

Blick aus dem berühmten Teehaus “uzun saclinin yeri”

Ordu war noch sehr weit. Wir fuhren durch Samsun, die berühmte Stadt, wo Atatürk mit seinem Schiff ankam, um die Bevölkerung für den Widerstand gegen die Siegermächte zu mobilisieren. Das wurde uns in der Schule beigebracht. Der 19. Mai ist ein nationaler Feiertag, zu Ehren dieser Landung in Samsun. Die Stadt ist keinen Besuch wert, beschlossen wir. Denn wir waren schon mal da. Meine Eltern lebten eine zeitlang hier, als meine jüngste Schwester hier studierte. Eine breite Straße an der Küste, die Hauptstraße, die wir von Westen nach Osten durchfuhren. Was gibt es sonst darüber zu erzählen? Mir fällt nichts ein. Eine alte Trabantenstadt, die viele aus anderen Gegenden der Türkei anzog. Hier wurden staatliche Fabriken gebaut.

Es war bereits sehr spät, als wir in Ünye ankamen, ein kleines Städtchen auf dem Weg nach Ordu. Wir telefonierten vorher mit Hotels und reservierten zwei Zimmer direkt in der Stadt. Die Zimmer waren sauber. Wir hatten zwei große Betten darin, einen orientalischen, üppig gerafften Samtvorhang und ein geräumiges Bad mit Dusche. Die Städte an der östlichen Schwarzmeerküste bekommen vermehrt Touristen aus dem arabischen Raum. Dazu passen auch diese hohen Betten mit Gold durchzogenem Bettüberwürfen und der Vorhang.  Unser Abendessen war hingegen sehr bescheiden. Ein berühmtes Restaurant der Stadt, wo uns eine traditionelle Küche erwartet hätte, hatte bereits geschlossen. Es war zwar erst neun Uhr, aber dieses Restaurant nahm keine neuen Gäste mehr auf.
Wir hatten Hunger, so ließen wir uns in einem Imbiss nieder. Auf kleinen Tischen und Stühlen vor dem winzigen Laden, worin der Koch uns Dürüm servierte. Dürüm sind kleine Fleischstücken, die in sehr dünnes Fladenbrot eingerollt werden, ähnlich wie Wraps.
Später machten wir einen Spaziergang. Es nieselte leicht, von irgendwoher kam Livemusik. Auf einem Platz waren kleine Hütten aufgestellt. Eine Band spielte auf der Bühne, Menschen schlenderten entlang der Hütten oder tanzten vor sich hin. Es war eine Schlussveranstaltung  von Ramadan-Festivitäten, die im Fastenmonat abends in den Städten stattfindet. Es ist dann ähnlich wie Weihnachtsmarkt in Deutschland, mit kleinen Buden, wo Künstler ihre Handwerkserzeugnisse ausstellen und verkaufen. Diese Hütten gehören der Stadt. Sie sind genormt, alle gleich. Der Mieter schmückt sie nach seinem Geschmack. Neben Handwerkschmuck gibt es Essensstände und eine Bühne für Musik. So wird im Fastenmonat das gesellschaftliche Leben auf die Abend-/ und Nachtstunden verlegt. Nach dem Sonnenuntergang gehen sie raus, alle miteinander. Oft gibt es für Kinder ein Karussell oder andere Fahrmöglichkeiten.
Dieser Platz hier war umzäunt von einer portablen Mauer, der zwei Eingänge hatte. Wir wurden beim Hineingehen kontrolliert. Der Eintritt war kostenlos. Der Ramadan war zwar schon vorbei, aber dieser Festplatz war noch nicht abgebaut. Aber das wunderte hier niemanden. Wir gingen die Stände durch und tanzten zur Musik, bis die Kinder müde waren und ins Bett gehen wollten. Den Rückweg ins Hotel nahmen wir über die Strandpromenade und spazierten dort, wo Cafés und Restaurants noch geöffnet waren, wo wir das Meer zwar nicht sehen, aber umso deutlicher hören konnten. Im Hotel gingen die Geräusche der Straße in den Regen über.
Das berühmte Lied “Hekimoglu”, gleichnamiger Held, der nach der Legende zwischen Ünye und Ordu erschossen wurde. Dieses Lied war unter anderem eines der Musikstücke, die uns im Auto begleiteten. Hier habe ich eine Interpretation von Paul Dwyer, der das Lied mit Gitarre begleitet.

Diese Version ist eher eine traditionell.Der nächste Tag brachte uns nach Ordu, wo wir eigentlich übernachten wollten. Das Wetter war deutlich kühler als beim Start unserer Reise. Das Schwarze Meer begleitete uns silbrig. In Ordu selber gab es wenig zu sehen, also beschlossen wir, mit der Seilbahn in die Berge zu fahren. So saßen wir in einer kleinen Kabine, fuhren über die Häuser der Stadt, über Dächer und Minaretten hinaus, bis wir alles hinter uns ließen und um uns herum das Grün herrschte. Nur das Wetter hatte hier nicht mitgespielt. Es regnete, als wir aus der Gondel ausstiegen. Nebel herrschte, der Blick kaum 50 Meter weit. Wir machten einen kleinen Spaziergang bis zum Restaurant, kauften vom Händler handgemachte Zwillen für die Kinder. Im Lokal herrschte große Betriebsamkeit. Es war ein riesiger Laden auf zwei Etagen am Hang, große Fensterfront mit Sicht auf die unter uns liegende Stadt, nur dass wir heute nichts sehen würden. Neben uns überall Touristen aus dem arabischen Raum, mit allen Familienmitgliedern und vielen Kindern.  Link: https://www.teperestaurant.com/

Sicht über Ordu aus der Gondel

Die Türken sind verrückt nach Kindern, auch wenn die Männer, die hier bedienten, sehr viel zu tun hatten mit den Bestellungen; eine nette Geste oder ein freundliches Wort, eine streichende Hand über das Köpfchen eines lächelnden Kleinkindes oder ein Kniff an der dicken Backe eines Babys beim Vorbeigehen. Es ist fast so, als würden sie das intuitiv tun, als wäre das dazu gehörig, wie das Begrüßen der Erwachsenen, eben als spezielle Anrede für Kinder. Aus Deutschland kennt man das nicht und wer jetzt unangenehme Gedanken hat, dass sein Kind von Fremden betätschelt wird, dem kann ich versichern, dass diese Leute selber Kinder haben und dass es eben zur Kultur des Landes gehört, den Kindern große Aufmerksamkeit zu schenken. So wurde meine Tochter als Baby von jedem berührt oder angelächelt. Nun ist sie groß, sie wird nicht mehr angefasst, sie wird jetzt wie eine Erwachsene behandelt und gefragt, was sie essen möchte.

Ordu Teleferik istasyonu

Wir bestellten typische Gerichte aus der Region, die ähnlich schmecken wie aus meiner Heimat, die etwa 300 km weiter östlich liegt, wohin wir anschließend unsere Reise fortgesetzt haben. So kurz vor dem Ziel, unserem Dorf, war die Stimmung im Auto heiter und aufgeregt. Kinder fragten, wann wir
ankämen. Die Lieder wurden nur noch aus der Region ausgewählt. Doch wir machten noch einen Halt in Giresun, um zuerst die alte Burg zu besichtigen und anschließend die berühmten Viertel der Stadt mit den historischen Häusern.

Giresun (Κερασοῦς), die Stadt der Kirschen

Die Burg thronte auf einen Hügel oberhalb der Stadt. Historisch wenig erforscht. Keiner weiß genau von wem sie erbaut wurde. Wir gehen durch die Mauer, die recht gut erhalten ist. Drinnen eine Zisterne, die sich mit dem Regenwasser füllte. Und ein verschwenderisch schöner Bach, der künstlich angelegt war und vermutlich das überflüssige Wasser aus der Zisterne abtragen sollte. Sie ist wie aus einem Märchenfilm, fließt zwischen vermoosten Steinen, sammelt sich in Becken, um daraus den Hang fortwährend runterzulaufen, leise plätschernd. Wer das auch immer so machen ließ, der hatte Ahnung von zarter Poesie.
Ansonsten war der Ort fest in Touristenhand. Einheimische wie ausländische flanierten auf den Wegen zwischen hohen Bäumen, die das Innere des Burgs nun belebten. Kleine Spielplätze, Tische fürs mitgebrachte Essen, Teeverkäufer und sonstige Klimbim-Anbieter säumten den kleinen Platz am Ende
der Autostraße.
Wir bestellten uns eine kleine Teekanne, die mit dem Ofen gebracht wurde. So macht man das hier. Man setzt sich auf die Holzbänke und trinkt den Tee aus kleinen Gläsern. Zwei Kannen übereinander auf einem provisorischen Ofen, der unten mit Holz gefeuert wurde. Die Arglosigkeit der Türken lässt mich immer wieder bewundern, denn wir befanden uns in einem dicht bewachsenen Wald.
Aber das kannte ich auch aus dem großen Bazar in Istanbul. Da gab es Dönerbuden, mittendrin, traditionell mit Holzfeuer. Es ist schon einige Jahre her. Ich weiß nicht mehr, ob es heute den Laden gibt, die uns einfach so zum Tee eingeladen hatte, weil wir stehengeblieben und ihnen beim Anlegen des Spießes zugeschaut hatten. Erst wurde eine dicke Zwiebel aufgespießt, darauf Fleischlappen drapiert, dann eine Schicht Hammelfett, dann wieder Fleisch, links und rechts , immer wieder festgedrückt. Und einer hatte die Holzscheite im Ofen hinter dem Spieß aufgeschichtet und angezündet. Das Feuer züngelte nach allen Seiten. Der Spieß war noch nicht angebracht. Die Scheite mussten sich erst zur Glut herunterbrennen. Bis der Fleischklopps die erforderliche Größe entwickelt hatte, gab es ja genügend Zeit dafür.
Das war damals so ein unerwartetes Schauspiel, als mein Mann und ich in den Morgenstunden durch den großen Bazar marschierten und uns diese Emsigkeit des kleinen Dönerladens auffiel. Wir blieben stehen, erstaunt über alle das, was dort passierte. Wir befanden uns in einem historischen Gebäude
und da machten sie einfach Feuer.
Sie hatten uns ebenfalls bemerkt, wie wir da standen und sie anstarrten, ja vielleicht auch begafften, mit offenen Mündern, und hin und wieder deren Handfertigkeit miteinander in unsere, ihnen fremde Sprache kommentierten. Da lächelten sie uns an, baten uns näher zu kommen. Ich verstand sie, bedankte mich auf Türkisch und nahm das Angebot an. Sie boten uns
Sitzplätze an, und bestellten bei einem vorbeigehenden Tee-Jungen zwei Gläser. Denn wir waren deren Gäste. So blieben wir, plauderten und tranken unseren Tee aus. Als mein deutscher Mann den Tee bezahlen wollte, hielt ich ihn davon ab.
Das machte man nicht, ein Dankeschön genügte. Diese Gastfreundlichkeit ist in den Städten am Abnehmen, doch in den kleinen Dörfern und Orten begegnet man ihr noch des Öfteren.
Zisterne mit angelegtem Bach
Auf der Burganlage
Wir tranken unseren Tee, schlenderten über die Burganlage,
die einen herrlichen Ausblick auf die Stadt bot und machten uns anschließend
auf dem Weg um die berühmten Giresun Evleri (die typischen Häuser der Stadt) zu
finden. Die Navigation irrte sich in engen Gassen und wir beschlossen einen
Bewohner nach dem Weg zu fragen. Er kam die Straße entlang, in der einen Hand
ein Laib Brot in einer Tüte. Vermutlich hatte ihn die Frau losgeschickt, fürs
Essen frisches Brot zu besorgen. Mein Schwager fragte ihn durch das geöffnete
Fenster. Der Mann bückte sich leicht nach vorne und sagte, dass wir uns bereits
in diesem Viertel befänden. Nur, mit dem Auto wäre das nicht gut. Wir sollten
zu Fuß laufen. Viele der Häuser gäbe es leider nicht mehr. Sie mussten schon
vor Jahren weichen, aber ab und an würde man das eine oder andere doch noch
sehen. Und dann sah er uns an, zwei Frauen und zwei Kinder, sah, dass wir einen
ziemlich weiten Weg hinter uns hatten, denn entsprechend sah es im Auto aus. Da
fragte er, wohin wir so eigentlich wollten. Mein Schwager nannte unser Ziel,
die Stadt Rize. Er lachte, das sei noch eine lange Strecke. Ob wir nicht
aussteigen und mit zu ihm gehen wollten, auf einen Tee, oder eine Kleinigkeit
essen. Er selber wohnte in einem dieser alten Häuser, so hätten wir die
Möglichkeit, eins sogar von innen zu betrachten. Wir waren alle sehr gerührt,
doch mussten wir leider weiter fahren. Der Weg, sagte mein Schwager, der sei
noch lang. Und so äußerte der Fremde sein Bedauern und wir verabschiedeten uns.
Später, als wir uns diese Geschichte immer und immer wieder erzählt hatten,
fanden wir es doch schade, nicht die Zeit genommen und die Einladung angenommen
zu haben. Mir ist zudem aufgefallen, dass eine auch ernstgemeinte Herzlichkeit,
eine Einladung ein Entgegenkommen oft nicht angenommen wird. Es bleibt oft bei
einer rhetorischen Höflichkeit. Das wäre eine gute Gelegenheit gewesen, diese
Attitüde zu brechen und nicht alles dankend abzulehnen. Wir waren noch am
Anfang unserer Reise. Wer weiß, vielleicht werden wir das irgendwann doch noch
können.
“Divane asik”, eine meiner Lieblingslieder aus der Gegen, aus meiner Gegend.
Blick auf die Stadt Giresun

Kurz vor dem Ziel

Die Küstenstraße ab Trabzon kannte ich sehr gut. Früher, in meiner Kindheit, bin ich sie sehr viel gefahren. Sie ist kurvenreich und schmiegt sich eng an die steile Küste an. Hinter dem Flughafen von Trabzon kamen all die Erinnerungen mit meinem verstorbenen Vater hoch, wie er mich von dort abholte und sein Fiat Doblo die linke Spur der neuen Autobahn nie verließ, als habe er die ganze Zeit darauf gewartet, eine Straße zu haben, worauf er eben schnell fahren konnte, sofern man beim Doblo von schnell überhaupt sprechen kann. Mein Vater fuhr gerne schnell, und immer, wenn er die Gelegenheit dazu hatte, drückte er aufs Gaspedal. Meine Mutter schimpfte dann vom Rücksitz, er solle sich schämen, wie ein hormongesteuerter Jüngling zu fahren; er möge sich bitte seiner schlohweißen Haare besinnen und auf die rechte Fahrbahn wechseln, wo alle „Rechtschaffenden“ fuhren. Es ging alles gut. Er fuhr unfallfrei, sein Leben lang. Nur wurde er oft von der Polizei angehalten und musste zur Freude meiner Mutter hohe Strafen zahlen. Und die beiläufigen Bemerkungen der Polizeibeamten ertragen, wobei mein Vater sich wegen so etwas nie geärgert hatte. Er lachte mit dem jungen Beamten, als dieser ihn fragte, ob er Opa sich nicht schäme, zu rasen. „Ich kann das“, antwortete er ihm darauf, „ich kann mir das leisten.“ Neben ihm auf dem Beifahrersitz hatte ich nie Angst. Sein Doblo flog über die Mittellinie, wenn mein Vater die Kurve nach rechts nahm und meine Mutter hinten laute Gebete gen Himmel sandte, als hätte ihr letztes Stündlein geschlagen. Oft denke ich, ist er gerade auch deswegen so schnell gefahren, um sie zu ärgern. Er hatte einen feinen Humor, und ich lachte mit.

Und wie auch etliche Male mit meinem Vater, hielten wir in Vakfıkebir an, um das berühmte Brot zu kaufen. Traditionen werden weitergelebt, und ich kann mit Recht behaupten, dass 90% der Privatreisenden in diesem kleinen Örtchen anhalten, um Brot zu kaufen. Dazu muss man die Schnellstraße nicht mal verlassen, denn sie führt mitten durch den Ort. An ihren Säumen rechts gegenüber dem Meer gibt es die Bäckereien, die überall in der Türkei ähnlich aussehen: ein Verkaufsraum mit einer sehr großen Vitrine voller riesiger Brotlaibe. Die Brote hier werden allerdings nicht mit Hefe, sondern mit Sauerteig hergestellt. Ein Weizenbrot mit dicker Kruste und Sauerteig. In der Tat lohnte sich der kleine Aufenthalt. Mein Schwager ging mit meiner Schwester hinein. Ich blieb mit den Kindern im Auto, weil wir nur Brot kaufen wollten, also eine schnelle Angelegenheit. Doch dann kam meine Schwester mit einem Glas Tee auf der einen Hand und geschnittene Brotscheiben in der anderen zu uns. Der Bäcker meinte, er ließe niemanden ohne Verkostung gehen. Und als sie den Einwand machte, sie hätte keine Zeit, weil wir im Auto warten würden, schickte er sie mit Tee und Brot eben zu uns.

Und dann sah ich meinen Schwager durch das Fenster, wie er dastand, Tee trank und sich mit dem Bäcker unterhielt. Später, als wir alles erledigt hatten und weiterfuhren, gab er uns den Inhalt des Gespräches wieder. Der Becker hatte gefragt, woher man käme, wohin man ginge, woher denn die Eltern stammten, weil Murat Istanbul als seinen Geburtsort genannt hatte. Aber die meisten kamen aus anderen Teilen der Türkei nach Istanbul; die wenigsten sind echte Istanbuler seit Generationen. Und so verläuft eine typische Unterhaltung, wenn sich zwei Fremde sich begegnen, ganz nach dem Thema der Abstammung. Die Frage dient nicht zur Differenzierung, wie man vielleicht annehmen könnte. Es ist der Beginn der Suche nach Gemeinsamkeiten, eines gemeinsamen Themas, was beide interessieren könnte, oder worüber beide etwas zu sagen hätten. So betrifft die Frage, woher man kommt, also die nach der Abstammung, der Region, der Stadt nicht nur den Gefragten, sondern ebenso den Fragenden. Denn dieser beantwortet seine gestellten Fragen ebenfalls. Je näher diese Regionen oder Orte sind, desto näher fühlen sich die Fremden und die Unterhaltung vertieft sich auf die Sehnsüchte oder Besonderheiten dieser Gegend. Wenn Fremde die gegenseitige Herkunft nicht kennen oder wenn es auf beiden Seiten Vorurteile gibt, dann bleibt das Gespräch auf der Ebene der höflichen, gegenseitigen Belobigungen, die aber nicht sehr tief gehen und sich oft auf das Thema Essen beschränken. Nun auch hier, als mein Schwager erzählte, dass sein Vater aus Bitlis stammte, eine Provinz aus der Kurdenregion da habe der Bäcker gefragt, was er denn in Rize wollte, halb aus Spaß, halb aus echter Neugierde, denn diesen Begegnungen liegt die Neugierde zu Grunde. Mein Schwager musste im weiteren Verlauf des Gespräches nun detailliert etwas von seiner Frau wiedergeben, die zwar ebenso in Istanbul lebte, aber aus Rize stammte, und er musste von mir erzählen, von den Kindern und von unserer gemeinsamen Reise nach Rize. Und da muss sich der Bäcker seiner Vorurteile gegenüber Bitlis bewusst geworden sein, da habe er erzählt, dass er mal Honig gegessen hätte, aus Bitlis, den besten, den er kannte. Meinem Schwager war nicht bewusst, dass es überhaupt Honig aus Bitlis gab. Nach unserer Rückkehr nach Istanbul hat er tatsächlich nach dem Honig gesucht und ihn auch gekauft. Sehr lecker.

Unsere Reise wurde mit dieser Wiedergabe der Begegnung beim Bäcker weitergeführt. Es ist üblich in der türkischen Kultur, dass gerne und viel erzählt wird und oft in Wiederholungen, zum einen das Heraufbeschwören des guten Gefühls dieser Momente, zum anderen oft bei gemeinsam Erlebtem, sodass jeder ein Detail dazu gibt und somit der Moment in seiner Aufnahme merklich mehr Infos beinhaltet. Dabei gibt es nichts, was ausgelassen wird, nichts ist bedeutungslos, alles wiedergebbar, alles. So war auch dieser kleine Aufenthalt wahrlich länger als gedacht und erhofft. Aber, sollte eine Reise auch nicht immer eine Begegnung mit Menschen sein? In Erinnerungen bleiben doch diese Gespräche. Und hier und da kommen sie hoch, wie Blasen im Hefeteig (oder im Sauerteig, denn auch er wirft Blasen). Man redet dann von Menschen und ihren Geschichten. Unsere Reise kam langsam zu der Etappe, wo wir eine Weile, genauer gesagt eine Woche, verweilen würden. Und kurz vor Of, einem kleinen Städtchen an der Provinzgrenze von Rize, also als wir das Ortseingangsschild sahen, musste ich den berühmten Satz meiner Mutter wiederholen, den sie immer an dieser Stelle sagte, als sie, Vater am Steuer, mich vom Flughafen abholten und wir zum Dorf nach Hause fuhren. Da hörten wir meine Mutter auf dem Rücksitz die „Klage des Geistlichen aus Of“ wiederholen.

Der Legende nach rief der Imam von Of aus den Minaretten seinen Wunsch nach Nudeln. In früheren Zeiten, auch noch in meiner Kindheit, haben die Imame ihre Mahlzeiten von der Gemeinde bekommen – das Frühstück ausgenommen, war das Mittag- und Abendessen aufgeteilt, so dass jeder Haushalt abwechselnd einen Tag den Dorfgeistlichen mit Essen versorgte. Es war vermutlich im Herbst, wo es oft Kürbis gab, sodass der Imam jeden Tag ihn zu essen bekam und sich nach Nudeln sehnte und dann den Gläubigen nach dem Aufruf zum Gebet direkt sein Leid klagte. „Oh du herzloser aus Of und dein Weib mit verschissenem Hintern, wie könnt ihr an vierzig Tagen 40 Kürbisse mich essen lassen? Nudeln, Nudeln, verlangt mein Herz!“ Diese kleine Anekdote kennt jeder und führt es als Beweis für den Geiz der Bewohner von Of.

Diese hatte ich eben all die Jahre gehört, als mich meine Eltern gemeinsam vom Flughafen abgeholt hatten. Und als ich das im Auto erwähnte, konnte mir meine Schwester vergewissern, dass sie diese Anekdote ebenfalls kannte, erzählt von meiner Mutter genau an jener Stelle, wo das Ortseingangsschild sichtbar wurde.

https://www.youtube.com/watch?v=uyHOOq2OXTQ

In meinem Dorf

Während dem einwöchigen Aufenthalt im Dorf gönnten wir uns etwas Ruhe. Hier machten wir lange Spaziergänge, unter anderem auch in der Nacht. Im Dorf gibt es keine Lichtverschmutzung und die Nacht ist richtig dunkel. Mit der Taschenlampe in der Hand zu laufen ist für einen Erwachsenen schon ein Nervenkitzel, weil man sich so herrlich hineinsteigern kann. Häuser gibt es auf der Strecke selten, dafür Geräusche, die man nicht einordnen kann. Dazu streifen Grashalme – zumindest hofft man, dass es Grashalme sind – an den nackten Waden. Die Kinder – zu unseren beiden kamen auch die zwei Söhne meiner anderen Schwester – waren ganz aufgeregt, erzählten sich Geschichten von Freddy Krüger. Außerhalb der Lichtkegel der Taschenlampe sahen wir Glühwürmchen.

Das besonders schöne hier im Dorf ist, dass es sich hier nicht viel verändert hat. Und jedes Mal, wenn ich da bin, ist es wie eine Reise in meine eigene Kindheit. Das ist beruhigend. Auch wenn sich die ganze Welt wandelt, die Gerüche, die Erinnerung im Dorf bleiben gleich. Der schönste Moment ist, wenn ich mich ans Fenster stelle, das die Sicht ins Tal zeigt. Der Dorfkern liegt im Tal, am Fuße des Flusses. Als die Population wuchs und der Platz eng wurde, hatte man weiter am Berg gebaut. So wurde mir berichtet, dass die Lieblingssöhne einer Familie den Besitz am Fluss vererbt bekamen; die weniger liebsamen schickte man in die Wildnis. So war das hier bis zu den Zeiten des Teeanbaus. Eine Gegend mit viel Niederschlag und kaum gerader Fläche, abgesehen von dem Flusstal. Und es wächst hier außer Mais und Kohl nichts. Viel Wald und viele Tiere hatten sie. Das traditionelle Essen ist entsprechend; es wird beherrscht von Maisbrot, Schwarzkohl und Fisch, wobei hier nur zwei bestimmte Sorten häufig vorkommen. „Hamsi“, eine Art Sardelle und „Palamut“, eine Bonito-Art, die es nur hier im Schwarzmeer gibt. Der Fisch wird im Herbst und Winter aus dem Meer geholt, dann in Salz eingelegt. Daraus machte man allerlei verschiedene Gerichte, die ich zwar liebe, die jedoch nicht jedermanns Geschmack sind. Eins davon ist das berühmte „Hamsikoli“. Man kann das mit frischem „Hamsi“ zubereiten oder aber mit in Salz eingelegten. Letztere müssen allerdings vorher gut gewässert werden.

Der Fisch wird dazu entgrätet, dann mit kleingeschnittenem grünem Gemüse, wie Porree und Mangold gemischt. Dazu kommt Maismehl, Olivenöl, Ei, Salz und Pfeffer und es wird ein flüssiger Teig hergestellt, der dann im Backofen gebacken wird. Herrlich! Gegessen wird es mit frischen kleinen Gartengurken.

Dieses Essen ist eben speziell, weil für viele Speisen das gepökelte Innenfett von Schafen benutzt wird. In dieser Gegend gibt es keine Ölbäume und somit war Olivenöl teuer und immer von außen zu beziehen. Daher war die Verwendung von tierischem Fett gebräuchlicher. Und das gepökelte Fett riecht streng und hat einen eigenen Geschmack, der mir bei den traditionellen Gerichten fehlen würde, aber Vielen den Magen umdreht. Es gibt keine Wurstkultur, jedoch es gibt „Kavurma“; gekochtes Rindfleisch, das für den Winter in Büchsen aufbewahrt wurde. Und mit „Kavurma“ veredelte man so manches Gericht. Dazu gab es alles, was die Kühe sonst noch so hergaben. Butter und Käse, meist als „Minci“, eine Art trockener, körniger Frischkäse, der aus gegorener Milch gemacht wird und in Stoffbeuteln zum Trocknen aufgehängt wurde. Und wollte man, dass er länger hielt, so legte man ihn zwischen zwei Steine, sodass er stark entwässert wurde.

Sobald genügend Milch da war, baute Oma im Flur, der allerdings breit war wie ein Zimmer, das Butterfass auf. Es sah aus wie ein Weinfass und wurde längst auf zwei Schlingen an die Decke der Diele angebracht. Rein kam die lauwarme Milch und Oma nahm an der Kopfseite Platz und schaukelte und schlug die Milch so lange, bis sie sich in Butter und Buttermilch aufteilte. Es war für uns Kinder schön zu beobachten, wie die Butterklümpchen erst ganz klein und dann immer größer wurden. Schließlich öffnete Oma den kleinen Deckel oben auf dem Bauch des Fasses, holte mit einer Holzkelle die großen Butterklumpen raus und tat sie in eine Salzlake. Dann drehte sie das Fass um, und lies die Flüssigkeit in einem großen Kessel hineinfließen. Wir freuten und auf diese köstliche Buttermilch.

Es ist mir etwas aufgefallen, das mir durch meine Lektüre Ovids Metamorphosen deutlicher wurde. Die Erzählkunst, die mit dem Munde gesprochene, wohlgemerkt. Die alten Frauen, zumindest einige davon, beherrschen das brillant. Darin sind nicht nur Spannung und Hinauszögern der Geschichte enthalten, sondern ebenfalls die verschiedenen Nuancen. So wird an einer Stelle ein Wehklagen eingebaut, um die Dramatik der Aussichtslosigkeit zu erhöhen. Dieses Wehklagen, unterstützt mit heftigen körperlichen Bewegungen, lässt an Theaterkunst erinnern. Eine von ihnen, ich will jetzt bewusst keinen Namen nennen, um andere zu verärgern, ist darin besonders geübt. Von ihr kann ich sogar alte Geschichten immer wieder gerne hören, weil sie darin aufgeht. Sie verwandelt die Stimmlage, ihre Mimik verändert sich, wird sanft und zu Tode verängstigt, wenn sie ihre Situation in dem Moment beschreibt, die sie im Hause ihrer verheirateten Tochter erlebte, als der gewalttätige Schwiegersohn die Tochter immer wieder krankenhausreif schlug. Sie wird vor Augen der Zuhörer zu dieser verängstigten Frau, die nachts nicht schlafen konnte und in die Küche ging, um aus dem Fenster zu schauen, ob bereits der Morgen ergraut. Ihre Augen gehen der Reihe um. Jeder ihrer Zuhörer und Zuschauer wir einzeln davon überzeugt, dass ihre Tat lediglich die war, die zugezogene Gardine des Küchenfensters nur aus diesem einen Grund verschoben zu haben. Sie wollte doch nur wissen, ob der Muezzin bereits zum Morgengebet ausgerufen hatte.Woher hatte sie das gelernt? Diese Erzähltechnik, diese Kombination aus allem, dieses Einsetzen der Mimik, die sich sekundenschnell ändern konnte, die auf Fragen aus dem Publikum einging, die so gut war, wie ein Schauspieler es so nie wird erlernen können. Ein Naturtalent, oder hatte sie es irgendwem abgeschaut? Das Wehklagen der Weiber hatte ich bei Ovid gelesen. Es muss sie immer wieder gegeben haben, und es gibt sie, wenn auch nur vereinzelt, nach wie vor. Diese alten Frauen im Dorf haben diese Kunst verinnerlicht und womöglich konserviert, wenn sie sonst kein Ventil haben, ihren Gefühlen oder dem erlittenen Leid Ausdruck zu verleihen.Die Frauen hatten wahrlich kein einfaches Leben gehabt. Aber, da sie kein anderes kannten, schätzen sie sich durchaus glücklich. Ich will nicht sagen, dass ihr Leben derart bedauerlich war, auch wenn es von meiner Perspektive aus durchaus so erscheinen mag. Ist es das Leid, das diese Erzählkunst entstehen und kultivieren ließ? Oder ist es die Gabe, die das Leiden hervortreten lässt, den Charakter in diese Richtung zementieren lässt? Ich werde es nicht wissen. Stattdessen höre ich deren Erzählungen und den gelebten Sagen zu.Es gibt aber auch andere alte Frauen, die zwar in den jungen Jahren alle erdenkliche Bosheit am eigenen Leib erlebt haben; von ihren Männern oder von ihren Schwiegereltern, doch im Alter kehrt sich das um. Meistens überleben sie ihren Ehemann und sind dann selbst die Herrscher des Clans. Sie wohnen mit den verheirateten Söhnen und dessen Familie zusammen, Haus und Hof im Dorf gehört ihnen. Und so tun sie nichts anderes mehr als in der Morgensonne vor die Tür zu treten, mit langsamen Schritten, durch Zuhilfenahme eines Gehstocks, sich gegenseitig zu besuchen und über die Wehwehchen zu klagen, und auch den Tratsch des Dorfes weiter zu verbreiten. Und wenn dann so eine wie ich zu Besuch kommt, und die alten Geschichten erzählt haben möchte, dann blüht diese alte Dame erst richtig auf. Sie lässt mich teilhaben an ihrem Reichtum. So manch einer der Zuhörer in der Runde mag sich durchaus gelangweilt fühlen, weil sie diese Geschichten bereits so oft gehört haben. Da müssen sie durch. Ich ermutige sie, sie mir immer wieder zu erzählen, weniger wegen des Inhalts, denn dieser ist inzwischen auch mir bekannt, vielmehr wegen der wahrhaftig großartigen Erzählkunst.

Der Abschied vom Dorf ist nicht besonders schwer. Meist bin ich nie länger als eine Woche da. Und jedes Mal denke ich, eine Woche ist so kurz, ich sollte länger bleiben. Die ersten Tage sind voller Enthusiasmus. Ich will jeden Winkel der Wege und das unbeschreibliche Grün in mir aufsaugen und für die Zeit des „Nichtdaseinkönnens“ speichern. Wie ein Fotoapparat knipse ich Bilder für mich, atme die Luft tief ein, die nach frischem grünen Tee riecht; speichere den Sound des Regens, der von den Zinnen auf breite Blätter hinuntertropft und auf achtlos weggeschmissene oder liegengebliebene Gegenstände trommelt, sammle die Erinnerung an kühle Abende, wie ich abwechselnd mein Gesicht und meine Fußsohlen an dem Küchenofen „Kuzina“ erwärme; horte den Blick des Hundes Eşkiya, seine lautlose Freude, wenn man sich seiner annimmt, ihn streichelt, mit ihm spielt, ihn füttert, oder mit ihm einfach einen Spaziergang macht. Eşkiya bellt niemanden an, der hier lebt, doch er verscheucht Wildschweine und Schakale, die sich oft in die Nähe der Häuser wagen, um schnelles Futter zu finden. All das ist nichts Besonderes, doch für mich das, wonach ich mich von Zeit zu Zeit sehne und mir dann immer wieder diese Eindrücke hervorrufe und mich an ihnen erfreue. Doch die anfängliche Freude, Begeisterung, Rührung nimmt mit der Dauer des Aufenthaltes ab. Alles, auch eine Wiederholung des Guten, ist zu viel. Und so vergehen die restlichen Tage mit Warten auf den Abschied. Wie kann man von allem, was man so sehr liebt, so schnell satt werden? Man sollte darin unersättlich sein, denn dann könnte ich jeden Tag aufs Neue alles genauso genießen wie am ersten Tag.