Pupuze Berber

In meinem Dorf

Während dem einwöchigen Aufenthalt im Dorf gönnten wir uns etwas Ruhe. Hier machten wir lange Spaziergänge, unter anderem auch in der Nacht. Im Dorf gibt es keine Lichtverschmutzung und die Nacht ist richtig dunkel. Mit der Taschenlampe in der Hand zu laufen ist für einen Erwachsenen schon ein Nervenkitzel, weil man sich so herrlich hineinsteigern kann. Häuser gibt es auf der Strecke selten, dafür Geräusche, die man nicht einordnen kann. Dazu streifen Grashalme – zumindest hofft man, dass es Grashalme sind – an den nackten Waden. Die Kinder – zu unseren beiden kamen auch die zwei Söhne meiner anderen Schwester – waren ganz aufgeregt, erzählten sich Geschichten von Freddy Krüger. Außerhalb der Lichtkegel der Taschenlampe sahen wir Glühwürmchen.

Das besonders schöne hier im Dorf ist, dass es sich hier nicht viel verändert hat. Und jedes Mal, wenn ich da bin, ist es wie eine Reise in meine eigene Kindheit. Das ist beruhigend. Auch wenn sich die ganze Welt wandelt, die Gerüche, die Erinnerung im Dorf bleiben gleich. Der schönste Moment ist, wenn ich mich ans Fenster stelle, das die Sicht ins Tal zeigt. Der Dorfkern liegt im Tal, am Fuße des Flusses. Als die Population wuchs und der Platz eng wurde, hatte man weiter am Berg gebaut. So wurde mir berichtet, dass die Lieblingssöhne einer Familie den Besitz am Fluss vererbt bekamen; die weniger liebsamen schickte man in die Wildnis. So war das hier bis zu den Zeiten des Teeanbaus. Eine Gegend mit viel Niederschlag und kaum gerader Fläche, abgesehen von dem Flusstal. Und es wächst hier außer Mais und Kohl nichts. Viel Wald und viele Tiere hatten sie. Das traditionelle Essen ist entsprechend; es wird beherrscht von Maisbrot, Schwarzkohl und Fisch, wobei hier nur zwei bestimmte Sorten häufig vorkommen. „Hamsi“, eine Art Sardelle und „Palamut“, eine Bonito-Art, die es nur hier im Schwarzmeer gibt. Der Fisch wird im Herbst und Winter aus dem Meer geholt, dann in Salz eingelegt. Daraus machte man allerlei verschiedene Gerichte, die ich zwar liebe, die jedoch nicht jedermanns Geschmack sind. Eins davon ist das berühmte „Hamsikoli“. Man kann das mit frischem „Hamsi“ zubereiten oder aber mit in Salz eingelegten. Letztere müssen allerdings vorher gut gewässert werden.

Der Fisch wird dazu entgrätet, dann mit kleingeschnittenem grünem Gemüse, wie Porree und Mangold gemischt. Dazu kommt Maismehl, Olivenöl, Ei, Salz und Pfeffer und es wird ein flüssiger Teig hergestellt, der dann im Backofen gebacken wird. Herrlich! Gegessen wird es mit frischen kleinen Gartengurken.

Dieses Essen ist eben speziell, weil für viele Speisen das gepökelte Innenfett von Schafen benutzt wird. In dieser Gegend gibt es keine Ölbäume und somit war Olivenöl teuer und immer von außen zu beziehen. Daher war die Verwendung von tierischem Fett gebräuchlicher. Und das gepökelte Fett riecht streng und hat einen eigenen Geschmack, der mir bei den traditionellen Gerichten fehlen würde, aber Vielen den Magen umdreht. Es gibt keine Wurstkultur, jedoch es gibt „Kavurma“; gekochtes Rindfleisch, das für den Winter in Büchsen aufbewahrt wurde. Und mit „Kavurma“ veredelte man so manches Gericht. Dazu gab es alles, was die Kühe sonst noch so hergaben. Butter und Käse, meist als „Minci“, eine Art trockener, körniger Frischkäse, der aus gegorener Milch gemacht wird und in Stoffbeuteln zum Trocknen aufgehängt wurde. Und wollte man, dass er länger hielt, so legte man ihn zwischen zwei Steine, sodass er stark entwässert wurde.

Sobald genügend Milch da war, baute Oma im Flur, der allerdings breit war wie ein Zimmer, das Butterfass auf. Es sah aus wie ein Weinfass und wurde längst auf zwei Schlingen an die Decke der Diele angebracht. Rein kam die lauwarme Milch und Oma nahm an der Kopfseite Platz und schaukelte und schlug die Milch so lange, bis sie sich in Butter und Buttermilch aufteilte. Es war für uns Kinder schön zu beobachten, wie die Butterklümpchen erst ganz klein und dann immer größer wurden. Schließlich öffnete Oma den kleinen Deckel oben auf dem Bauch des Fasses, holte mit einer Holzkelle die großen Butterklumpen raus und tat sie in eine Salzlake. Dann drehte sie das Fass um, und lies die Flüssigkeit in einem großen Kessel hineinfließen. Wir freuten und auf diese köstliche Buttermilch.

Es ist mir etwas aufgefallen, das mir durch meine Lektüre Ovids Metamorphosen deutlicher wurde. Die Erzählkunst, die mit dem Munde gesprochene, wohlgemerkt. Die alten Frauen, zumindest einige davon, beherrschen das brillant. Darin sind nicht nur Spannung und Hinauszögern der Geschichte enthalten, sondern ebenfalls die verschiedenen Nuancen. So wird an einer Stelle ein Wehklagen eingebaut, um die Dramatik der Aussichtslosigkeit zu erhöhen. Dieses Wehklagen, unterstützt mit heftigen körperlichen Bewegungen, lässt an Theaterkunst erinnern. Eine von ihnen, ich will jetzt bewusst keinen Namen nennen, um andere zu verärgern, ist darin besonders geübt. Von ihr kann ich sogar alte Geschichten immer wieder gerne hören, weil sie darin aufgeht. Sie verwandelt die Stimmlage, ihre Mimik verändert sich, wird sanft und zu Tode verängstigt, wenn sie ihre Situation in dem Moment beschreibt, die sie im Hause ihrer verheirateten Tochter erlebte, als der gewalttätige Schwiegersohn die Tochter immer wieder krankenhausreif schlug. Sie wird vor Augen der Zuhörer zu dieser verängstigten Frau, die nachts nicht schlafen konnte und in die Küche ging, um aus dem Fenster zu schauen, ob bereits der Morgen ergraut. Ihre Augen gehen der Reihe um. Jeder ihrer Zuhörer und Zuschauer wir einzeln davon überzeugt, dass ihre Tat lediglich die war, die zugezogene Gardine des Küchenfensters nur aus diesem einen Grund verschoben zu haben. Sie wollte doch nur wissen, ob der Muezzin bereits zum Morgengebet ausgerufen hatte.Woher hatte sie das gelernt? Diese Erzähltechnik, diese Kombination aus allem, dieses Einsetzen der Mimik, die sich sekundenschnell ändern konnte, die auf Fragen aus dem Publikum einging, die so gut war, wie ein Schauspieler es so nie wird erlernen können. Ein Naturtalent, oder hatte sie es irgendwem abgeschaut? Das Wehklagen der Weiber hatte ich bei Ovid gelesen. Es muss sie immer wieder gegeben haben, und es gibt sie, wenn auch nur vereinzelt, nach wie vor. Diese alten Frauen im Dorf haben diese Kunst verinnerlicht und womöglich konserviert, wenn sie sonst kein Ventil haben, ihren Gefühlen oder dem erlittenen Leid Ausdruck zu verleihen.Die Frauen hatten wahrlich kein einfaches Leben gehabt. Aber, da sie kein anderes kannten, schätzen sie sich durchaus glücklich. Ich will nicht sagen, dass ihr Leben derart bedauerlich war, auch wenn es von meiner Perspektive aus durchaus so erscheinen mag. Ist es das Leid, das diese Erzählkunst entstehen und kultivieren ließ? Oder ist es die Gabe, die das Leiden hervortreten lässt, den Charakter in diese Richtung zementieren lässt? Ich werde es nicht wissen. Stattdessen höre ich deren Erzählungen und den gelebten Sagen zu.Es gibt aber auch andere alte Frauen, die zwar in den jungen Jahren alle erdenkliche Bosheit am eigenen Leib erlebt haben; von ihren Männern oder von ihren Schwiegereltern, doch im Alter kehrt sich das um. Meistens überleben sie ihren Ehemann und sind dann selbst die Herrscher des Clans. Sie wohnen mit den verheirateten Söhnen und dessen Familie zusammen, Haus und Hof im Dorf gehört ihnen. Und so tun sie nichts anderes mehr als in der Morgensonne vor die Tür zu treten, mit langsamen Schritten, durch Zuhilfenahme eines Gehstocks, sich gegenseitig zu besuchen und über die Wehwehchen zu klagen, und auch den Tratsch des Dorfes weiter zu verbreiten. Und wenn dann so eine wie ich zu Besuch kommt, und die alten Geschichten erzählt haben möchte, dann blüht diese alte Dame erst richtig auf. Sie lässt mich teilhaben an ihrem Reichtum. So manch einer der Zuhörer in der Runde mag sich durchaus gelangweilt fühlen, weil sie diese Geschichten bereits so oft gehört haben. Da müssen sie durch. Ich ermutige sie, sie mir immer wieder zu erzählen, weniger wegen des Inhalts, denn dieser ist inzwischen auch mir bekannt, vielmehr wegen der wahrhaftig großartigen Erzählkunst.

Der Abschied vom Dorf ist nicht besonders schwer. Meist bin ich nie länger als eine Woche da. Und jedes Mal denke ich, eine Woche ist so kurz, ich sollte länger bleiben. Die ersten Tage sind voller Enthusiasmus. Ich will jeden Winkel der Wege und das unbeschreibliche Grün in mir aufsaugen und für die Zeit des „Nichtdaseinkönnens“ speichern. Wie ein Fotoapparat knipse ich Bilder für mich, atme die Luft tief ein, die nach frischem grünen Tee riecht; speichere den Sound des Regens, der von den Zinnen auf breite Blätter hinuntertropft und auf achtlos weggeschmissene oder liegengebliebene Gegenstände trommelt, sammle die Erinnerung an kühle Abende, wie ich abwechselnd mein Gesicht und meine Fußsohlen an dem Küchenofen „Kuzina“ erwärme; horte den Blick des Hundes Eşkiya, seine lautlose Freude, wenn man sich seiner annimmt, ihn streichelt, mit ihm spielt, ihn füttert, oder mit ihm einfach einen Spaziergang macht. Eşkiya bellt niemanden an, der hier lebt, doch er verscheucht Wildschweine und Schakale, die sich oft in die Nähe der Häuser wagen, um schnelles Futter zu finden. All das ist nichts Besonderes, doch für mich das, wonach ich mich von Zeit zu Zeit sehne und mir dann immer wieder diese Eindrücke hervorrufe und mich an ihnen erfreue. Doch die anfängliche Freude, Begeisterung, Rührung nimmt mit der Dauer des Aufenthaltes ab. Alles, auch eine Wiederholung des Guten, ist zu viel. Und so vergehen die restlichen Tage mit Warten auf den Abschied. Wie kann man von allem, was man so sehr liebt, so schnell satt werden? Man sollte darin unersättlich sein, denn dann könnte ich jeden Tag aufs Neue alles genauso genießen wie am ersten Tag.