Pupuze Berber

Ein gutes Gespräch

Gestern Abend waren wir in einem Thai-Restaurant essen. Dort hörte ich die Geschichte mit der Tüte. Die Geschichte wurde nicht direkt mir erzählt; ich wurde ein stiller Zuhörer, ganz zufällig. Die Gäste am Nachbartisch haben sich darüber unterhalten. Sie saßen hinter meinem Freund. Ich sah sie, wenn ich meinen Freund ansah, was üblich ist, wenn man zusammen essen geht. An dem besagten Tisch war ein älteres Ehepaar, das mit dem Rücken zu mir saß, ihnen gegenüber eine ältere Dame und ein Herr mittleren Alters; wie ich im Laufe ihres Gespräches erfahren konnte, war er der Sohn der älteren Dame.

Ich habe nicht gelauscht. Ich habe mich mit meinem Freund unterhalten. Ich erzählte ihm vom Osterbrunch meiner Freundin. Er war nicht dabei gewesen, und so beschrieb ich ihm die anderen Gäste, wer sie waren und worüber wir uns unterhalten hatten. Während ich erzählte, hörte ich, was am Nachbartisch gesprochen wurde, am Anfang noch unbewusst. Peter saß mir gegenüber und bemühte sich, mit meiner Erzählung mitzukommen. Ich bin mir sicher, er hat es irgendwann aufgegeben und nur so getan, als hörte er mir zu. Ich merke es, wenn er mit den Gedanken woanders ist. Aber egal, ich habe weitererzählt. So auch die ältere Dame, die Mutter des Herrn mittleren Alters am Nachbartisch. Nur mit dem Unterschied, dass sie sich vehement Gehör verschaffen wollte und ihre Geschichte mit der Tüte einige Male wiederholt hat, so dass auch ich jede Einzelheit mitbekam. Ich dagegen war eher gelassen und führte einen Monolog.

Wie ich die Geschichte mit der Tüte im Nachhinein rekonstruieren konnte, hat diese Dame eine Ferienwohnung in Frankreich. Wo genau, kann ich nicht sagen, da die genannten Ortsnamen mir entfallen sind; sie waren mir nicht bekannt. Das Paar, das ihr gegenüber saß, war nicht von hier. Das hörte ich heraus, als sie bezahlen wollten und der Sohn darauf bestand, sie einladen zu dürfen. Der Mann protestierte, worauf der Sohn sagte: “Das ist meine Heimatstadt und hier bezahle ich.” Kurze Zeit später erfuhr ich, dass sie aus Köln waren. Die Mutter sagte, die Entfernung von Köln nach Frankreich sei kürzer. „Es sind von Köln nur 150 km bis nach Frankreich.“

Das Kölner Pärchen möchte nach Frankreich fahren. Sie sind in Frankfurt, weil sie den Schlüssel für die Ferienwohnung brauchen. Wahrscheinlich, dachte ich, sind sie heute in Frankfurt angereist, gehen gemeinsam essen, werden die Nacht bei der Mutter schlafen und morgen nach Frankreich fahren. Ich vermutete, dass der Vater des Mannes mittleren Alters bereits verstorben ist. Das habe ich nicht heraushören können, und fragen wollte ich auch nicht. Ging mich ja nichts an, aber um die Geschichte für mich zu vervollständigen, habe ich beschlossen, dass sein Vater schon seit langer Zeit tot ist. Vielleicht ist er nur krank und liegt zu Hause, zweifelte ich für einen Augenblick, aber dann wären sie bestimmt nicht auswärts Essen gegangen. Dann hätte die Mutter etwas gekocht und sie wären bei ihm geblieben. Der Vater muss verstorben sein, entschied ich.

Also, das Pärchen fährt am nächsten Tag nach Frankreich und ist gekommen, um den Schlüssel abzuholen. Während ich diese Geschichte im Geiste nachbaute, erzählte ich vom Osterbrunch. So in etwa wird es die Mutter am Nachbartisch mitgekriegt haben, wenn sie nebenbei mir zuhörte, ähnlich wie ich ihr. Es waren eingeladen; ein normales Paar („Der Mann hat einen VW-Käfer auf ein Ei gemalt, kannst Du es Dir vorstellen? Das ganze Ei war ein VW-Käfer, nur etwas lang gezogen, und auch sonst interessiere er sich nur für Autos, sagte er, und seine Frau ist Heilpraktikerin, aber praktiziert nicht mehr, ein Burnout, wie schrecklich, sie hat zuletzt Angst gehabt, Angst, Patienten schlecht zu beraten, ihnen was Falsches zu geben, aber sie möchte wieder anfangen, vielleicht in einer Gemeinschaftspraxis oder so“), ein lesbisches Paar („Stell dir vor, ich habe es gar nicht gemerkt, sie sahen völlig normal aus, keine Ahnung, wie ich mir Lesben vorstelle, vielleicht denke ich in Klischees, dass die eine sehr maskulin sein müsse oder so, weißt Du, und apropos, das schwule Paar hatte abgesagt, den Toni kennst du auch, mit dem waren wir im King Khameamea Club“), ein deutscher Textil-Import-Exporteur aus Gomera („Er verkauft Klamotten, aber Andrea sagt, die sind nichts für mich, lauter Hippie-Sachen, er gab mir seine Telefonnummer, falls ich Interesse hätte, aber ich habe die Nummer nicht mehr, ach, weißt du, wenn die eh nichts für mich sind, dachte ich“), eine Frauenratgeber-Autorin („Sie hat mit einer Freundin bereits drei Bücher geschrieben, ihr letztes Buch ist ein erotisches Buch für Frauen, für das sie sehr viel Zeit in die Recherche investiert hat, sagte man mir, außerdem lebt sie die Hälfte des Jahres in Kalifornien, in Santa Barbara, mit ihrem zweiten Ehemann, der viel älter ist als sie, und mit dem hat sie keinen Sex mehr, aber mit andern Männern schon und der zweite Ehemann weiß das, sie sind sehr offen in dieser Beziehung, sagte sie mir“) und eine Frau („Sie war auch alleine da, mit ihrer Beziehung stimmt etwas nicht, sie waren zehn Jahre zusammen und haben sich vor drei Monaten getrennt und kommen aber nicht voneinander los, und jetzt sagt sie, sie habe nur eine Affäre mit ihm“). So ungefähr muss es sich vom Nachbartisch angehört haben.

Die Mutter wollte unbedingt erklären, wie das Pärchen in die Wohnung reinkommt. Ich hörte zuerst etwas von einem Maler, der eine Tüte in den Garten geschmissen haben muss. Da hatte ich die Geschichte noch nicht verstanden und hörte etwas aufmerksamer zu. Ihr Sohn wollte sie unterbrechen und sagte: „Mama, das müssen wir doch nicht jetzt und hier bereden oder? Das können wir doch später klären?“ Ich dachte, nein, später bin ich nicht dabei und drückte für die Mutter die Daumen, dass sie sich gegen den Sohn durchsetzen möge. Und schon hörte ich sie sagen: „Ruhe da! Man muss doch mal darüber sprechen können, man muss über alles sprechen, nicht?“ Volltreffer, sagte ich mir und hörte aufmerksamer zu. Also, diese Tüte liegt im Garten. „Ist sie denn immer noch im Garten?“, fragte die Frau aus Köln. „Nein“, sagte die Mutter, „die Mieter haben die Tüte in die Wohnung geholt. Sie muss irgendwo in der Diele liegen.“ Ich gebe zu, ich verstand nicht, was in der Tüte drin war. Es lag mir fast auf der Zunge zu fragen, als der Kölner Ehemann etwas Licht ins Dunkel brachte. „Aber wie kommen wir in die Wohnung, wenn der Schlüssel in der Tüte ist?“ Aha, dachte ich, in der Tüte ist ein Schlüssel drin. Vielleicht der Schlüssel für die Wohnung? „Nein, den Schlüssel für die Wohnung gebe ich euch, den habe ich bei mir“, hörte ich die Mutter dem Kölner Paar erklären, und gleichzeitig schaute sie ihren Sohn an, als Aufforderung, ihr den Schlüsselbund aus der Manteltasche zu holen. Ein Funken Protest blinzelte für einen kurzen Moment in seinen Augen, doch er gab nach, stand auf und ging zur Garderobe des Lokals.

„Also“, setzte die Mutter zum dritten Anlauf an, um es ihren Zuhörern ein für alle Mal begreiflich zu machen, wie sie vorzugehen hätten. Ich spitzte die Ohren, während ich meiner besseren Hälfte erzählte, dass ich auf mein erstes Osterei mit Lila – neben Hellblau der einzig richtig malende Stift – kleine Blumen malte, die von den anderen als Sterne bezeichnet wurden. „Ihr kommt mit diesem Wohnungsschlüssel in die Wohnung rein“, fuhr die Dame fort und löste einen Schlüssel aus ihrem Schlüsseletui. „Und in der Wohnung liegt diese Tüte, die der Maler in den Garten geschmissen hat. Darin ist der Schlüssel für das Gartentor.“ So war das, dachte ich. Der Maler hat das Gartentor gestrichen, von außen und von innen. Dafür hat er den Schlüssel gebraucht. Als er fertig war, hat er das Tor von außen abgeschlossen, den Schlüssel in eine Tüte getan und in den Garten geworfen. So einfach. Das sei so mit ihr vereinbart gewesen, hörte ich sie sagen. „Wie kam die Tüte in die Wohnung hinein?“, fragte die Frau aus Köln.

Ich erzählte in diesem Moment, wie ich vor lauter Neid auf den VW-Käfer-Ei-Mann der Runde ankündigte, mit einem Goldstift eine nackte Frau auf meinem zweiten Osterei malen zu wollen, wie ich jedoch beim ersten Versuch, zwei Brüste auf ein Ei zu malen, scheiterte, danach meine Ankündigung korrigierte, dass ich viel lieber Ornamente zeichnen möchte, weil diese Kunst seit 5.000 Jahren existiere, also bei weitem älter sei als die gegenständliche Malerei und in jeder Kultur auf der Welt vorgekommen sei, während die gegenständliche Kunst eine Erfindung des Abendlandes sei, und außerdem die Tüte von den Mietern in die Wohnung gebracht wurde, nachdem der Maler sie in den Garten geschmissen hatte. „Das ist doch klar”, sprach ich, „der Maler wurde beauftragt, das Gartentor zu streichen. Die Mutter hat das bestimmt telefonisch veranlasst, sonst hätte sie den Schlüssel nicht in einer Tüte in den Garten schmeißen lassen wollen oder?” und fuhr fort: „Manche Menschen hören einfach nicht zu. Ich habe diese Geschichte mit der Tüte von meinem Platz aus verstanden, aber stell Dir vor, das Kölner Ehepaar, das morgen nach Frankreich reist, um wahrscheinlich in der Wohnung der Mutter Ferien zu machen, hat dagegen nichts verstanden. Sie hat doch tatsächlich gerade gefragt, wie die Tüte in die Ferienwohnung gekommen ist, kannst Du das verstehen?“ „Kann ich mal Dein Essen probieren?“, fragte mich mein Freund.

Der Sohn griff ein, als die Mutter, zu meinem Überdruss, die Geschichte mit der Tüte zum vierten Mal erzählen wollte, und schlug vor, die Kölner sollten erst verreisen und von dort aus anrufen, wenn sie weitere Fragen haben sollten. Er schnappte den vorbeilaufenden Kellner und bat ihn um die Rechnung. Gott sei Dank, das wäre nun geklärt, dachte ich, und fing an von meinem dritten, selbstbemalten Osterei zu erzählen, während das Kölner Paar, die Mutter und der Sohn, aufstand und ging. „Es war ein schöner Abend, nicht wahr? Wir haben uns schon lange nicht so gut unterhalten“, sagte ich zu Peter. „Du hast recht“, antwortete er, „wollen wir bezahlen?“

Als ich aufstand, um meine Jacke anzuziehen, sah ich nun endlich auch die Personen, zwei Männer und eine Frau, die am Tisch hinter mir saßen. Sie hatten sich während des ganzen Abends auf Englisch über Vor- und Nachteile von Wohngemeinschaften unterhalten. Ich hatte mit meiner Vermutung recht gehabt. Alle drei waren sehr jung.