Pupuze Berber

Sexliteratur aus der Sandkiste

Als ich anfing, einen Roman zu schreiben, worin sexuelle Handlungen explizit beschrieben werden sollten, merkte ich, wie befangen ich dabei war. Da saß ich dann mit Kuli und Kladde auf der Treppe vor der Musikschule mit Blick auf den Kinderspielplatz – und versuchte zu beschreiben, wie sich meine Heldin durch die Türkei vögelte. Es blieb meistens beim Versuch. Ich war nicht in der Lage, auch nur das Wort „Schwanz“ zu schreiben, ohne Herzrasen oder feuchte Hände zu bekommen.

Woran lag das bloß? War womöglich meine Herkunft schuld daran, die Türkei, die türkische Kultur, die mich prägte und daran hinderte, über die schönste Nebensache der Welt zu schreiben? Nun, das Buch konnte ich nach einigen Anläufen doch noch beenden, aber die Frage, ob und wie die kulturellen Unterschiede mein Schreiben beeinflusst hatten, beschäftigt mich weiterhin.

Ist die Sexualität in der Kultur meiner Herkunft ein Tabu, worüber man nicht spricht? Hatte ich deswegen Hemmungen und war prüde? Nun ja, wenn ich überlege, dass meine Eltern den Fernsehkanal wechselten, sobald sich zwei Leute küssten, oder mein Großvater uns Kindern weismachen wollte, dass dort der Mann die Zähne der Frau kontrollierte, also eine Art Zahnarzt sei, dann ist eine gewisse Tabuisierung durchaus vorhanden.

Auf der anderen Seite ist die Sexualität allgegenwärtig in Schimpfwörtern, in Form des verbalen Abreagierens, wenn Menschen aufeinander sauer sind. Dann wird auf Türkisch schnell „gefickt“, wo auf Deutsch ein schlichtes „Mist“ oder „Scheiße“ ausreicht. In meiner Herkunftskultur gibt man sich mit den schlichten Fäkalien nicht ab, nein, da geht es rustikaler zu.

Und falls der Eindruck erweckt wird, dies wäre ein bevorzugter Radaustil der Männer, muss ich korrigieren: Frauen benutzen ihn ebenfalls in verschiedenen Variationen. Meine Mutter denkt sich jemanden aus, der es dem Beschimpften besorgen soll, und wenn sie „Arap“ sagt – damit meint sie einen Schwarzhäutigen – ist ihre Wut besonders groß. Die verstorbene Oma hingegen übernahm den Akt der sexuellen Sanktionierung lieber selber. Dann knüpfte sie sich die ganze Sippschaft des Gemaßregelten vor, als sei sie in Fahrt gebracht worden und könne nicht bremsen – wie ein LKW mit geplatztem Reifen.

Es war schon sehr merkwürdig, in einem Umfeld aufzuwachsen, wo bei einer harmlosen Kussszene im Fernsehen eilig umschaltet wurde, im selben Atemzug man sich jedoch verbal fickend über die Sippschaft hermachte.

Nun, das seien eben einfache Menschen, Unterschicht, anatolische Bauern, bekam ich von Freunden zu hören, das ist doch keine Kultur! Ich müsste mich mehr in der Literatur umschauen. Wie offen oder nicht offen wird dort die Sexualität behandelt?

Also begann ich zu recherchieren. Weil ich in Deutschland aufgewachsen bin und mich mit der türkischen Literatur kaum auskenne, fragte ich den Mann meiner Schwester, der als Lehrer in Istanbul arbeitet. Er nannte mir ein paar Romane, worin ich Sexbeschreibungen finden konnte. Darunter „Turbane in Venedig“ von Nedim Gürsel, ein in Paris lebender türkischer Autor. Glücklicherweise hatte ich dieses Buch sogar auf Deutsch vorliegen.

„Unter dem Wintermantel gleitet seine rechte Hand zu Lucias Beinen. Etwas weiter oben, direkt unter dem weggerutschten Rock, fand er das kleine, haarige Biest, ein Felltierchen.“ Da in meiner Herkunftskultur Haare am Körper unerwünscht sind, insbesondere bei den Geschlechtsteilen, fühlte sich Kamil, der Protagonist im Roman, wohl angeekelt? Oder warum nennt er die Vagina ein Biest? „Er zog seine Hand sofort weg“, lese ich weiter, „als ob er sich verbrannt hätte“. Eindeutig traumatische Zustände wie bei mir, denn wie kann man sich an einem feuchten Ort verbrennen?

Lucia gefällt das nicht. Sie schiebt seine Hand zum „Biest“ zurück und lässt sie weiterreiben, bis sie „nahe dran war zu schreien. Im gleichen Moment spürte er etwas Warmes, Schleimiges an seinen Fingern.“ Ist das ein Beweis, dass der türkische Mann nichts von der Frau versteht? Zumindest deckt sich das mit dem Wegzappen der Kussszenen. Eben ein notwendiges Übel. Man muss darüber schreiben, zumindest wenn man in Paris lebt, in der Stadt der Liebe, muss sich der Autor dabei gedacht haben. Und da war die behaarte Muschi ein Biest. An späterer Stelle, als Kamil mit einer Nutte im Taxi nach Hause fährt, heißt es: „Eine Hand streichelte seinen Penis unter der Hose, er war also nicht allein. Er legte auch seine Hand zwischen den Schenkeln der Frau und fand das Tierchen.“ Die Frauen wechseln, das Tierchen bleibt.

Ich legte dieses Buch etwas verärgert zur Seite. Aber ein Autor macht noch keine Kultur. Die modernen türkischen Autoren schreiben über Sex immer in Kombination mit Liebe oder als Frucht der Liebe, das kannte ich bereits. Die Handlung wird oft umschrieben oder findet eine schnelle Erwähnung, ohne dass eine akkurate Beschreibung für notwendig erachtet wird.

In „Ince Memed“ lässt der größte Romancier Yasar Kemal den Leser im Dunkeln, wie Hatce von ihrer großen Liebe im Wald entjungfert wird. „Er fasst sie an den Handgelenken und zieht sie zum Felsen hin. Als sie zu sich kommt, ist Hatce eine Frau.“ In Ahmet Hamdi Tanpinars „Huzur“ geht Mümtaz mit der verheirateten Nuran eine heimliche Beziehung ein. Sie treffen sich zum Sex, aber auch hier lässt uns der Autor im Dunkeln, wie sie es treiben, als wäre das eine sehr private Angelegenheit der beiden.

Weiter zurück in der Literaturgeschichte begegne ich dem 1931 verstorbenen Mehmet Rauf. Der Autor, der mit „Eylül“ den ersten psychologischen Roman der Türkei geschrieben hatte, saß wegen eines dünnes Heftchens von 60 Seiten acht Monate im Gefängnis und wurde dabei seine gesellschaftliche Ehre los. In „Die Geschichte der Lilie“ beschreibt er pornografisch exakt den Akt sowohl zwischen Mann und Frau als auch zwischen zwei Frauen. Das Buch hat keine andere Handlung als die des Sexes; weder eine große Liebe, noch ein umständliches Anwerben drum herum. Im Gegensatz zu „Biest-Felltierchen-Kamil“ ist sein Protagonist gerade entzückt von der Genitalbehaarung seiner Gespielinnen.

Es machte mir Spaß, den Roman zu lesen, denn dieser Mann versteht die Frauen. Bevor er in seine 15-jährige Angebetete Zambak (Lilie) eindringt, bringt er sie tagelang mit Zunge und Hand zum Höhepunkt, um ihr Begehren für ihn zu steigern. Später genießt er als Voyeur aus seinem Versteck heraus die intimen Handlungen seiner zarten Lilie mit einer bekannten Lesbierin. Und als Höhepunkt, sowohl des Buches als auch für ihn, tritt er aus seinem Wandschrank hervor und verkehrt mit der Lesbierin – unter anderem anal.

Es gab und gibt also in meiner Herkunftskultur die pornografischen Texte, vermutlich wie in jeder anderen Kultur auch. Bei den alten Osmanen gab es die „Behnames“, spezielle Sexratgeber wie die Kama Sutra. An einer Stelle darin heißt es: „Im Sommer zu Frauen, im Winter zu jungen Männern.“ Dem Mann wurde Bisexualität empfohlen. Die Volkslieder sind noch heute voll von „wippenden Brüsten“ und anderen Anzüglichkeiten. Und MILF ist keine neue Modeerscheinung: „Was soll ich mit dir, schick mir lieber deine schöne Mutter“, schmachtet in einem Lied der Geliebte eines Mädchens.

Wie weit war nun diese Kultur an meinem Schreibhemmnis schuld? Oder lag es eher an den Kinderspielplätzen, wo ich die Geschichte schrieb? Oder war es eine Kombination aus beiden? Übertrug sich das Wegzappen der Kussszenen auf mich als Mutter? Spielte im Hintergrund das schlechte Gewissen aus dieser Zeit eine Rolle? War es so, dass ich mich schämte, im Beisein meiner Tochter über Sex zu schreiben? Etwa so wie meine Eltern sich geniert haben müssen, mit uns Kindern diese Szenen anzuschauen?

Wie auch immer. Die Antwort werde ich vermutlich nie herausfinden. Das Problem hatte ich sowieso gelöst: Ich schrieb die heißen Stellen einfach auf Türkisch. Denn in dieser Sprache lag mir, dank der alltäglichen Schimpfrituale, das reichhaltige Vokabular vom Ficken, Vögeln und Bumsen auf der Zunge.