Auf den Spuren von Meister
„Als ich morgens aus dem Haus trat, hatte sich die Welt in beunruhigender Weise verändert“, hätte der Meister sagen sollen; doch er beschleunigte stumm seine Schritte. In der Ferne sah er eine Ansammlung von Menschen. Er beachtete sie nicht, teilte sie mit den Händen entzwei und lief durch sie hindurch. „Was ist da bloß passiert? Sollte ich nicht lieber zurückgehen und fragen?“ Nein, auch wenn er für einen Moment neugierig war, ließ er sich von seinem Vorhaben nicht abbringen. Gerade als er über den Zebrastreifen laufen wollte, hörte er die Kirchglocken. Es war schon merklich dunkler geworden. „Ich kann nicht mehr…“ Er war aus der Puste. Er blieb stehen, stützte sich mit der Hand an einer niedrigen Mauer ab und verlagerte das Gewicht auf seinen rechten Fuß. Er nahm ein Taschentuch und wischte sich übers Gesicht und anschließend auch über seine sich weit ausgebreitete Glatze hinunter bis zum Nacken. Ein leichtes Ziehen machte sich an seinem Hals bemerkbar. Er massierte die Stelle und schaute sich den Himmel an. Die Wolken hingen tief. „Es sieht nach Regen aus.“ Sein Atem hatte sich wieder beruhigt.
Plötzlich ein Klatschen. Von ganz oben musste etwas herunter auf den Bürgerstein gefallen sein. Er drehte den Kopf in die Richtung des Geräusches und sah neben sich einen aufgeplatzten Frosch. Und dann regnete es Frösche – einer davon hatte ihn am Kopf erwischt. „Autsch!“ Das war sehr schmerzhaft. „Das ist doch wie bei Murakami, was soll ich hier? Kannst du dir etwas Originelleres einfallen lassen?“ Währenddessen prasselten immer mehr kleinere und größere Frösche auf ihn nieder, sodass er sich schnell unter einem Vordach in Sicherheit bringen musste. „Was zum …“ Er war wütend. Jetzt wusste er, warum sich diese Menge versammelt hatte; sie hatten Frösche vom Himmel fallen sehen.
Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gebracht, da liefen zwei dicke Kater eingehackt unter einem Schirm an ihm vorbei. Einer von ihnen stammte aus „Van“, denn er hatte zwei unterschiedliche Augenfarben. „Hast du gesehen, was die für einen schönen Hintern hatte? Heute Abend machen wir Party, Digga!“, sagte er ziemlich laut zu seinem rothaarigen Kumpel. Dieser blieb plötzlich stehen. „Wir haben Votan vergessen, verdammte Schleife. Der Glimpfstangen-Verschlinger wird uns in den Mund geigen, Gott verfliegt, der flickt uns, lauf, lauf sag ich! Er ist im Theater und wartet auf uns.“ Er zog den Anderen am Arm und dann liefen beide wieder in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Votan war wohl wichtiger als der Froschregen, denn sie hatten den offenen Schirm einfach neben dem Meister hingeschmissen.
Der Meister hatte es eilig und, um sich vor weiteren Verletzungen zu schützen, nahm er den Schirm. Doch er musste erst die darin gesammelten Frösche ausleeren.
„Störche, jetzt sollten bitte auch Störche kommen, hörst du? Was sollte man aus so vielen Fröschen machen? Es wäre doch sehr schade drum. Eigentlich könnte man die Nicht-Aufgeplatzten sammeln und in diesen teuren Restaurants verkaufen, wo Froschschenkeln eine Delikatesse sind. Das wäre ein gutes Geschäft, oder?“ Auf diese Idee waren wohl auch andere gekommen, denn er sah Menschen mit Zangen und Eimern. Diese hatten an anderen Tagen die Mülleimer nach Pfandflaschen durchwühlt. „Wie gut, dass dieser Irrsinn wenigstens denen zu Gute kommt.“
Der Froschregen hatte so plötzlich aufgehört, wie er gekommen war. Die Dunkelheit war weiter fortgeschritten, sodass sich die Straßenlaternen angeschaltet hatten. In diesem Viertel waren sie nicht sehr dicht aufgestellt, und in manchen waren die Birnen kaputt oder vielleicht auch geklaut.
Der Meister hatte sich verspätet. „Ich bin total kaputt.“ Gleichzeitig merkte er, wie müde er schon war. Aus seiner Brusttasche holte er eine Packung Zigaretten und zündete sich eine an. Den ersten Zug behielt er lange in der Lunge und ließ ihn dann langsam aus der Nase wieder heraus.
„Aus deiner Kindheit, nicht? Die wenigen Erinnerungen aus dieser Zeit? Du warst vernarrt in den Anblick, wie dein Vater und Onkel den Rauch aus der Nase langsam hinausströmen ließen. Ach, hättest du mich doch nur erschaffen wie deinen Vater und nicht wie den dicken Onkel. Dieser Bauch bringt mich noch um, verflixte Motze. Könnte ich doch richtig fluchen, wenigstens das? Warum kann man hier nicht fluchen? Ich frage dich, du verdickte Mikroben-Lotze.“ Der Meister wurde wütend. Er kickte einen toten Frosch in die Ferne. Doch das half nicht weiter. Er ließ die Schulter hängen und fühlte sich beunruhigender Weise leer, hoffnungslos, einsam und allein.
„Wie war denn meine Kindheit? Erzähl doch mal?“, fragte er. „Ich will meine Kindheit wissen. Warum weiß ich nichts darüber? Warum bin ich hier? Wohin werde ich gehen?“
Die Kinder hatten tagsüber mit bunter Kreide auf den Gehweg Figuren gemalt. Er blieb stehen, und in dieser merklich vorangeschrittenen Dunkelheit sahen diese aus wie die Sternformationen am Nachthimmel. Mit seiner Fußspitze schob er die toten Frösche beiseite und befreite so die Kinderbilder. Einfache Strichmännchen-Zeichnungen von Katzen, Prinzessinnen, Autos und Fahrrädern. Er bückte sich und nahm das Stück Kreide, das vom Tag liegen geblieben war. Er wollte auch etwas zeichnen, war sich aber nicht sicher, ob ihm das gelingen würde. Er kniete sich neben einer Prinzessin nieder, einer einfachen, mit Zackenkrone auf dem Haupt, aber irgendwie gefiel sie ihm. Er fing an, neben ihr den schwarzen Asphalt zu bekritzeln, als ein Auto um die Ecke fuhr. Seine Reifen schleuderte einen zerplatzen Frosch auf seinen Bauch. „Bravo, das hast du nun auch getan, du vertrocknete Mohnfratze. Warum gibt es noch das Rad, warum ist das nicht längst aus der Mode, dieses verflixte Rad. Seit der Bronzezeit bewegen wir uns damit fort. Warum fliegen wir nicht direkt? Warum rollen wir weiterhin mit einem Kreis? Aber Frösche regnen lassen, zum Beutel! Lass wenigstens das Fluchen frei! Hier, nimm, nimm alles, ich mache nichts, ich werde nichts sagen, was du mir in den Mund legen willst. Und ich werde auch nirgends hingehen. Ich werde hierbleiben und mich nicht vom Fleck rühren.“ Er hing am Fleck, der vorhin sein weißes Hemd besudelt hatte. Damit seine Hose nicht dreckig wurde entfaltete er sein Taschentuch und setzte sich darauf.
Ohne weiter nachzudenken, zeichnete der Meister einen Kreis neben der Prinzessin. Er hatte Null im Kopf, Nichts und Nichtigkeit, trotzdem zeichnete er um den Kreis herum kleine, runde Blätter. Er hatte neben der Prinzessin ein Gänseblümchen gemalt. „Was soll das? Ich habe einen Bauch und eine Glatze. Was soll bitte ein Gänseblümchen? Das schickt sich nicht für einen Mann in meinem Alter. Ein Auto oder Flugzeug, das hätte ich doch malen können.“ Was war das? Der Bogen im Punkt-Punkt-Strich-Gesicht hatte sich an den Enden nach oben gezogen. „Verblinkte Einsamkeit. Jetzt fühle ich mich gezeichneten Frauen näher. Aber, sie hat mich doch angelächelt. Schau mal, meine Hübsche, ich habe dir ein schönes Blümchen gemalt. Wie heißt du denn? Darf ich dich Gänseblümchen nennen? Mein weißes, flüchtiges Gänseblümchen?“
Niemand antwortete natürlich. Er schmiss die Kreide in die Ecke und zündete sich erneut eine an. Früher, da war das Rauchen ein Statement, nicht wahr? Da wurde auf den Hintern der Packung geschnippt, bis die Stangen wie Orgelpfeifen herauslugten. Da nahm man die Kippe direkt mit den Lippen heraus und zündete sie mit dem Zippo an.
Zebercet? Zebercet, wo bist du? Eine Frauenstimme, ganz in der Nähe. Er schauderte. Wer war das? Was machte sie da? Zum Glück war in der Straße nicht viel los. „Ja, wo sind denn die Leute? Gibt es ein Fußballspiel? Ist vielleicht WM oder EM?“
Die Frau rief weiter. Zebercet?
„Ich verstehe das nicht? Wenn es hier nur uns beide gibt, will ich mal schauen, wer sie ist“. Der Meister stand auf. Er lief Richtung Stimme. Zebercet? Früher gab es Glühwürmchen. In den heißen Sommernächten blinkten sie an und aus. Zebercet? Das Dorf hatte eine Wasserquelle, in deren Becken Wassermelonen zum Kühlen gelegt wurden. Es gab einen Fluß, den man an manchen Stellen von Stein zu Stein überqueren konnte. Zebercet? Es gab den Moment im Frühjahr, wo die Kühe zum ersten Mal nach dem langen Winter hinaus auf die Weide durften und wie sie vor Freude sprangen, hoch, so hoch, Zebercet! Das Herunterfallen von der Schaukel, weißt du noch? Als alle Kinder auf einmal in den Seilen hingen und über den Hang kullerten, wie Streuobst. Das Schreien der Großmutter und ihr Urteil über den Kirschbaum, der daraufhin gefällt werden musste, weil die Schaukel auf seinem Ast gebaut war. Zebercet, als Baby hatte er einen Autounfall. Der Reifen des Autos war geplatzt und der Wagen überschlug sich mehrere Male in die Tiefe, bis er zum Stehen kam. Seine Mutter verlor währenddessen die Stimme, aber ihm war nichts passiert. ´Der böse Blick lastet auf euch, aber die Sterne des Jungen sind stark. Er hat alle vor dem Tod bewahrt`, hatte die weise Frau nach dem Wachsgießen verkündet. Die Mutter wollte ihre Kinder besser schützen. Auf Geheiß der alten Wachsgießerin steckte sie ihre Hand zwischen ihre Beine und strich sie dann über seinen Kopf. Er hatte das gehasst, und seinen späteren Haarausfall damit begründet. Er dachte, dass sein Kopf nach Mumu roch, Zebercet, nach Mama. Und dann, irgendwann in einem anderen Land, hatte ihm seine Mutter neue Gummistiefel gekauft. Natürlich viel zu groß. Er wuchs ja noch rein. Am Kettenkarussell, als seine Lust am Größten war, als er sich drehte, über Land und Fluss, da verlor er einen seiner Stiefel im Main. Er liegt immer noch da.
Er konnte jetzt die Frau sehen. Sie war ungefähr so alt wie er, hielt eine grobe Strickjacke vorne übers Kreuz geschlossen und stand rauchend vor einem alten Holzhaus. Über der Tür stand „Otel“. Er beobachtete, wie sie mit der Hand ein Stückchen Tabak von ihrer Zunge nahm und anschließend den Rauch ausstieß. „Wenn diese Zigaretten nicht wären, wie würden wir unsere Traurigkeit zur Sprache bringen.“ Die Frau konnte ihn weder sehen noch hören. Sie rauchte so lange, bis sie ihre Kippe mit dem Fuß ausdrückte und durch die Tür verschwand. So wie wir.