Pupuze Berber

Der Sex hat der Liebe zu dienen

Der Sex hat der Liebe zu dienen!

 

Die Signale pulsieren, die Ganglien sind kurz vorm Verglühen, der Prozessor überhitzt, das Schaltzentrum droht die Kontrolle zu verlieren. Gleich, gleich wird die Macht ausgeschaltet und ich werde über die Mauer springen, um einen Blick hinüber zu werfen. Möglicherweise erleben wir die unendliche Sekunde, in der das Wasser die Zeit nicht hat, um aus dem umgekippten Glas hinauszuströmen, wir allerdings genügend Zeit haben, um in aller Muße die Gärten der Ewigkeit zu durchstreifen. Und wer weiß, vielleicht gelingt es mir sogar, dir einen Apfel zu pflücken.

Nein, wir haben nicht geflirtet. Wer tut das noch heute? Wer gibt sich mit „Ausgang ungewiss“ zufrieden? Warum soll man sich dem ausufernden Gespinst des Zufalls ausliefern? Niemand ist allein. Es gibt viele Möglichkeiten, unendlich viele sogar. Man wird die Passenden suchen und finden, die Gleichgesinnten werden zueinander stoßen, um einander mit besonderen Auftritten, Kunststücken und Kostümierungen zu bereichern. So gebären Möglichkeiten Ideen. Und die Möglichkeit wird zur berechenbaren Wahrscheinlichkeit. Ist nicht jede Idee wahrscheinlich, wenn doch alles berechenbar ist? Ich mache jedenfalls mit und schlucke eine Kobra, nur um sie wieder lebendig auszuspeien.

Die Zunge lenkt meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie hilft mir unterzutauchen, ganz tief unter meine Haut zu rutschen und zu dem Punkt zu gleiten, von dem die Signale ausgehen. Meine ganze Wahrnehmung ist darauf konzentriert, ich folge den Wellen, die ich in unterschiedlichen Arealen empfange und modelliere. Der Körper aus Fleisch und Blut hat sich aufgelöst; geblieben ist ein Zentrum, aus dem die Signalbahnen laufen. Es ist wie eine dieser Landschaftsnach-bildungen, die in manchen Heimatmuseen zu sehen sind und auf denen einzelne kleine Glühbirnen Orte darstellen. Und drückt man auf den entsprechenden Knopf, brennt irgendwo auf der Nachbildung eine kleine farbige Glühbirne und man weiß nun genau, wo sich dieser befindet. Ich bin deine Bergkette, mit Höhen und Tiefen.

Der Rauch der Zigarette schlängelt sich über unseren Köpfen und verdünnt sich gräulich in die Dunkelheit. Gott schuf also den Menschen nach seinem Ebenbild? Nur hat er mir die Unsterblichkeit vorenthalten. In mir ist der Tod gesät und wächst mit jedem Tag. Ich bin in Zeiten gesplittert. Es gibt mich jetzt, gab mich vorhin, es gab mich gestern, vorgestern, letzte Woche, letztes Jahr und viele Jahre davor. Und morgen gibt es mich, möglicherweise noch, mit abnehmender Wahrscheinlichkeit in ferner Zukunft, denn Cookies haben eine begrenzte Lebensdauer. Bin ich nur die Summe meiner Zeiten? Wo bleiben all die unausgesprochenen Wünsche, Ängste, Ahnungen, Trauer und Freude? Und wo das Verborgene, das selbst ich noch nicht kenne? Vielleicht schwimme ich nur, weil ich die Berge nicht habe?

Auf dem kleinen Balkon haben wir der kranken Taube einen Verschlag gebaut. Einer Taube! Wer rettet heute noch das Leben einer gewöhnlichen Ringeltaube, dieser Ratte der Lüfte? Bugs pflegt man nicht, man beseitigt sie! Es gab viel Kopfschütteln. Wir brachten sie trotzdem bei uns unter. Auf dem Balkon unserer Einzimmerwohnung in diesem kastenförmigen Hochhaus aus Beton. Unser Essen teilten wir mit ihr und betteten sie in einem alten Wollpullover. Sechs Tage lang waren wir glücklich. Sie gurrte uns etwas vor, das wir nicht verstanden haben, trotzdem waren wir verzückt. Nur den Apfel hätte sie vielleicht nicht bekommen sollen.

Wir küssen, zärtlich, nicht forsch, im Einklang miteinander. In all meinen Vorstellungen hätte ich mir das nicht ausmalen können. Überhaupt kann ich mir das Küssen nicht vorstellen; ich könnte es auch nie beschreiben. Den Akt hingegen schon. Er ist zielgerichtet, hat eine Agenda, schlägt mit harten Beats um sich, wackelt, schaukelt, donnert, immer und immer wieder. Er ist die stupide Wiederholung der Wiederholung und doch nie langweilig. Dagegen sind Küsse flüchtig, sie entstehen ganz von allein und in dem Moment, jeder Kuss ist anders, unbeschreiblich, unvorhersehbar. Der Kuss ist eine spontane Handlung, eine Performancekunst. Den Akt kann man lernen, das Küssen nicht. Der Kuss kann allerdings unangenehm sein, wenn eine fremde Zunge wie ein Dolch im Mundraum herumstochert, oder ein Mund verschlossen bleibt, Lippen wie kleine Saugnäpfe das Gesicht befeuchten und das Verlangen löschen. Er kann sogar regelrecht öde sein. Wenn er aber gelingt, so wie jetzt bei uns, dann herrscht ein verträglicher Gleichklang im Mund, eine Art Tanz, in dem Lutschen, Lecken und Saugen ineinander übergehen. Der Kuss steht für sich und braucht kein Weiter, kein Mehr. Er verspricht nichts, ist sich selbst genug und wächst doch über sich selbst hinaus, füllt und leert sich, schließt und öffnet sich. Auf und zu. An und aus.

-Vertont für die Ausstellung “Die Stadt als Datenfeld” in Graz