Pupuze Berber

Der Sex hat der Liebe zu dienen

Der Sex hat der Liebe zu dienen!

 

Die Signale pulsieren, die Ganglien sind kurz vorm Verglühen, der Prozessor überhitzt, das Schaltzentrum droht die Kontrolle zu verlieren. Gleich, gleich wird die Macht ausgeschaltet und ich werde über die Mauer springen, um einen Blick hinüber zu werfen. Möglicherweise erleben wir die unendliche Sekunde, in der das Wasser die Zeit nicht hat, um aus dem umgekippten Glas hinauszuströmen, wir allerdings genügend Zeit haben, um in aller Muße die Gärten der Ewigkeit zu durchstreifen. Und wer weiß, vielleicht gelingt es mir sogar, dir einen Apfel zu pflücken.

Nein, wir haben nicht geflirtet. Wer tut das noch heute? Wer gibt sich mit „Ausgang ungewiss“ zufrieden? Warum soll man sich dem ausufernden Gespinst des Zufalls ausliefern? Niemand ist allein. Es gibt viele Möglichkeiten, unendlich viele sogar. Man wird die Passenden suchen und finden, die Gleichgesinnten werden zueinander stoßen, um einander mit besonderen Auftritten, Kunststücken und Kostümierungen zu bereichern. So gebären Möglichkeiten Ideen. Und die Möglichkeit wird zur berechenbaren Wahrscheinlichkeit. Ist nicht jede Idee wahrscheinlich, wenn doch alles berechenbar ist? Ich mache jedenfalls mit und schlucke eine Kobra, nur um sie wieder lebendig auszuspeien.

Die Zunge lenkt meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie hilft mir unterzutauchen, ganz tief unter meine Haut zu rutschen und zu dem Punkt zu gleiten, von dem die Signale ausgehen. Meine ganze Wahrnehmung ist darauf konzentriert, ich folge den Wellen, die ich in unterschiedlichen Arealen empfange und modelliere. Der Körper aus Fleisch und Blut hat sich aufgelöst; geblieben ist ein Zentrum, aus dem die Signalbahnen laufen. Es ist wie eine dieser Landschaftsnach-bildungen, die in manchen Heimatmuseen zu sehen sind und auf denen einzelne kleine Glühbirnen Orte darstellen. Und drückt man auf den entsprechenden Knopf, brennt irgendwo auf der Nachbildung eine kleine farbige Glühbirne und man weiß nun genau, wo sich dieser befindet. Ich bin deine Bergkette, mit Höhen und Tiefen.

Der Rauch der Zigarette schlängelt sich über unseren Köpfen und verdünnt sich gräulich in die Dunkelheit. Gott schuf also den Menschen nach seinem Ebenbild? Nur hat er mir die Unsterblichkeit vorenthalten. In mir ist der Tod gesät und wächst mit jedem Tag. Ich bin in Zeiten gesplittert. Es gibt mich jetzt, gab mich vorhin, es gab mich gestern, vorgestern, letzte Woche, letztes Jahr und viele Jahre davor. Und morgen gibt es mich, möglicherweise noch, mit abnehmender Wahrscheinlichkeit in ferner Zukunft, denn Cookies haben eine begrenzte Lebensdauer. Bin ich nur die Summe meiner Zeiten? Wo bleiben all die unausgesprochenen Wünsche, Ängste, Ahnungen, Trauer und Freude? Und wo das Verborgene, das selbst ich noch nicht kenne? Vielleicht schwimme ich nur, weil ich die Berge nicht habe?

Auf dem kleinen Balkon haben wir der kranken Taube einen Verschlag gebaut. Einer Taube! Wer rettet heute noch das Leben einer gewöhnlichen Ringeltaube, dieser Ratte der Lüfte? Bugs pflegt man nicht, man beseitigt sie! Es gab viel Kopfschütteln. Wir brachten sie trotzdem bei uns unter. Auf dem Balkon unserer Einzimmerwohnung in diesem kastenförmigen Hochhaus aus Beton. Unser Essen teilten wir mit ihr und betteten sie in einem alten Wollpullover. Sechs Tage lang waren wir glücklich. Sie gurrte uns etwas vor, das wir nicht verstanden haben, trotzdem waren wir verzückt. Nur den Apfel hätte sie vielleicht nicht bekommen sollen.

Wir küssen, zärtlich, nicht forsch, im Einklang miteinander. In all meinen Vorstellungen hätte ich mir das nicht ausmalen können. Überhaupt kann ich mir das Küssen nicht vorstellen; ich könnte es auch nie beschreiben. Den Akt hingegen schon. Er ist zielgerichtet, hat eine Agenda, schlägt mit harten Beats um sich, wackelt, schaukelt, donnert, immer und immer wieder. Er ist die stupide Wiederholung der Wiederholung und doch nie langweilig. Dagegen sind Küsse flüchtig, sie entstehen ganz von allein und in dem Moment, jeder Kuss ist anders, unbeschreiblich, unvorhersehbar. Der Kuss ist eine spontane Handlung, eine Performancekunst. Den Akt kann man lernen, das Küssen nicht. Der Kuss kann allerdings unangenehm sein, wenn eine fremde Zunge wie ein Dolch im Mundraum herumstochert, oder ein Mund verschlossen bleibt, Lippen wie kleine Saugnäpfe das Gesicht befeuchten und das Verlangen löschen. Er kann sogar regelrecht öde sein. Wenn er aber gelingt, so wie jetzt bei uns, dann herrscht ein verträglicher Gleichklang im Mund, eine Art Tanz, in dem Lutschen, Lecken und Saugen ineinander übergehen. Der Kuss steht für sich und braucht kein Weiter, kein Mehr. Er verspricht nichts, ist sich selbst genug und wächst doch über sich selbst hinaus, füllt und leert sich, schließt und öffnet sich. Auf und zu. An und aus.

-Vertont für die Ausstellung “Die Stadt als Datenfeld” in Graz

Die Schweinemilch

Die ersten Gastarbeiter aus Italien waren gezwungen, Olivenöl in Apotheken zu kaufen. Der Apotheker gab ihnen den Hinweis, sie mögen es in geringen Maßen zu sich nehmen, denn das Olivenöl sei ein Arzneimittel und würde sonst zu Magen-Darm-Verstimmungen führen. Der Italiener war in der Tat verstimmt: über den zu zahlenden Preis. So suchten sie nach anderen Möglichkeiten, denn die deutsche Küche war für sie keine Alternative. Sie eröffneten Läden für südländische Lebensmittel, Pizzerien und Restaurants. Diese Aktion der Selbsthilfe übernahmen alle Gastarbeiter, egal ob aus Griechenland, Ex-Jugoslawien oder der Türkei.

Diese kleinen Läden waren in erste Linie für Gastarbeiter gedacht. Doch hin und wieder verliefen sich darin auch deutsche Bürger. Und da erzählte ein türkischer Ladenbesitzer, wie ein deutscher Kunde eine Zucchini gekauft und sie am nächsten Tag zurückgebracht hätte, mit der Bemerkung, „die Gurke wäre zu hart.“ „Das keine Gurke, das Zucchini, du vorher kochen und dann essen.“ So ungefähr musste der Ladenbesitzer diesen Sachverhalt seinem Kunden erklärt haben. Das stand nicht im Zeitungsartikel, aus dem ich gerade berichte, aber da die erste Generation in der Grundform gesprochen hat, so wie meine Eltern, Gott habe die beiden selig, stelle ich mir beim Lesen des Artikels den schnurbärtigen Verkäufer entsprechend redend. Und Schnurbart gehörte zum Türken wie der Knoblauch und der Kümmel, daher auch das etablierte Schimpfwort „Kümmeltürke“.

Und dann geht er nach Haues und erzählt mit Stolz seiner Frau Ayse oder Hatice, eine diese alten Namen dürfte die Gute besitzen, wie er den so klugen und gebildeten Deutschen Kundschaft die Zucchini vorgestellt hat. Ayse oder Hatice, (ich habe mich leider nicht entscheiden können, wie sie nun heißen sollte), lacht mit wogendem Busen und wiederholt Alis Worte, so nenne ich den Bärtigen jetzt einfach, als Beispiel für einen Muster-Türken. „nix Kurke, Zucchini, kochen, du musse kochen.“ Und da lacht sie wieder und wenn wir dabei gewesen wären, könnten wir ihren goldenen Zahn blitzen sehen. Goldene Zähne sind aus der Mode gekommen. Man sieht sie nicht mehr in Mündern. Das ist sehr schade, es wird sich zukünftig nicht lohnen, Gräber auszuplündern. 

Aber, zurück zu unserem Thema: Fremde Essgewohnheiten. Nicht nur die deutsche Bevölkerung fremdelte bei den Essgewohnheiten der neuen Arbeitskräfte, auch diese hatten so ihre Sorgen. Den gläubigen Muslimen kam die Frage auf, ob es Schweinemilch gab. Schwein ist in deren Religion haram, und ebenso wäre die Schweinemilch haram. Sie kannten Kuhmilch, Ziegenmilch, Kamelmilch und Schafsmilch, aber da sie keine Schweine kannten, wussten sie nichts über die Schweinemilch.

So weiß ich aus primärer Quelle, dass mein Vater, ein gläubiger Muslim durch und durch, seinen deutschen Kumpel aus der Fabrik danach gefragt hatte. Der hatte als Antwort gelacht und kopfschüttelnd verneint. Nicht, dass er sie nicht trinken würde, bekäme er welche, aber da wäre der Wurf schneller.

Und da kommt mein Vater nach Hause und erzählt meiner Mutter, dass die Ferkel alles trinken, Gott sei Dank!

– Veröffentlich sfd (zeitschrift der schule für dichung wien) & ohne netz

Auf den Spuren von Meister

Auf den Spuren von Meister

 

„Als ich morgens aus dem Haus trat, hatte sich die Welt in beunruhigender Weise verändert“, hätte der Meister sagen sollen; doch er beschleunigte stumm seine Schritte. In der Ferne sah er eine Ansammlung von Menschen. Er beachtete sie nicht, teilte sie mit den Händen entzwei und lief durch sie hindurch. „Was ist da bloß passiert? Sollte ich nicht lieber zurückgehen und fragen?“ Nein, auch wenn er für einen Moment neugierig war, ließ er sich von seinem Vorhaben nicht abbringen. Gerade als er über den Zebrastreifen laufen wollte, hörte er die Kirchglocken. Es war schon merklich dunkler geworden. „Ich kann nicht mehr…“ Er war aus der Puste. Er blieb stehen, stützte sich mit der Hand an einer niedrigen Mauer ab und verlagerte das Gewicht auf seinen rechten Fuß. Er nahm ein Taschentuch und wischte sich übers Gesicht und anschließend auch über seine sich weit ausgebreitete Glatze hinunter bis zum Nacken. Ein leichtes Ziehen machte sich an seinem Hals bemerkbar. Er massierte die Stelle und schaute sich den Himmel an. Die Wolken hingen tief. „Es sieht nach Regen aus.“ Sein Atem hatte sich wieder beruhigt.

Plötzlich ein Klatschen. Von ganz oben musste etwas herunter auf den Bürgerstein gefallen sein. Er drehte den Kopf in die Richtung des Geräusches und sah neben sich einen aufgeplatzten Frosch. Und dann regnete es Frösche –  einer davon hatte ihn am Kopf erwischt. „Autsch!“ Das war sehr schmerzhaft. „Das ist doch wie bei Murakami, was soll ich hier? Kannst du dir etwas Originelleres einfallen lassen?“ Währenddessen prasselten immer mehr kleinere und größere Frösche auf ihn nieder, sodass er sich schnell unter einem Vordach in Sicherheit bringen musste. „Was zum …“ Er war wütend. Jetzt wusste er, warum sich diese Menge versammelt hatte; sie hatten Frösche vom Himmel fallen sehen.

Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gebracht, da liefen zwei dicke Kater eingehackt unter einem Schirm an ihm vorbei. Einer von ihnen stammte aus „Van“, denn er hatte zwei unterschiedliche Augenfarben. „Hast du gesehen, was die für einen schönen Hintern hatte? Heute Abend machen wir Party, Digga!“, sagte er ziemlich laut zu seinem rothaarigen Kumpel. Dieser blieb plötzlich stehen. „Wir haben Votan vergessen, verdammte Schleife. Der Glimpfstangen-Verschlinger wird uns in den Mund geigen, Gott verfliegt, der flickt uns, lauf, lauf sag ich! Er ist im Theater und wartet auf uns.“ Er zog den Anderen am Arm und dann liefen beide wieder in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Votan war wohl wichtiger als der Froschregen, denn sie hatten den offenen Schirm einfach neben dem Meister hingeschmissen.

Der Meister hatte es eilig und, um sich vor weiteren Verletzungen zu schützen, nahm er den Schirm. Doch er musste erst die darin gesammelten Frösche ausleeren.

„Störche, jetzt sollten bitte auch Störche kommen, hörst du? Was sollte man aus so vielen Fröschen machen? Es wäre doch sehr schade drum. Eigentlich könnte man die Nicht-Aufgeplatzten sammeln und in diesen teuren Restaurants verkaufen, wo Froschschenkeln eine Delikatesse sind. Das wäre ein gutes Geschäft, oder?“ Auf diese Idee waren wohl auch andere gekommen, denn er sah Menschen mit Zangen und Eimern. Diese hatten an anderen Tagen die Mülleimer nach Pfandflaschen durchwühlt. „Wie gut, dass dieser Irrsinn wenigstens denen zu Gute kommt.“

Der Froschregen hatte so plötzlich aufgehört, wie er gekommen war. Die Dunkelheit war weiter fortgeschritten, sodass sich die Straßenlaternen angeschaltet hatten. In diesem Viertel waren sie nicht sehr dicht aufgestellt, und in manchen waren die Birnen kaputt oder vielleicht auch geklaut.

Der Meister hatte sich verspätet. „Ich bin total kaputt.“ Gleichzeitig merkte er, wie müde er schon war. Aus seiner Brusttasche holte er eine Packung Zigaretten und zündete sich eine an. Den ersten Zug behielt er lange in der Lunge und ließ ihn dann langsam aus der Nase wieder heraus.

„Aus deiner Kindheit, nicht? Die wenigen Erinnerungen aus dieser Zeit? Du warst vernarrt in den Anblick, wie dein Vater und Onkel den Rauch aus der Nase langsam hinausströmen ließen. Ach, hättest du mich doch nur erschaffen wie deinen Vater und nicht wie den dicken Onkel. Dieser Bauch bringt mich noch um, verflixte Motze. Könnte ich doch richtig fluchen, wenigstens das? Warum kann man hier nicht fluchen? Ich frage dich, du verdickte Mikroben-Lotze.“ Der Meister wurde wütend. Er kickte einen toten Frosch in die Ferne. Doch das half nicht weiter. Er ließ die Schulter hängen und fühlte sich beunruhigender Weise leer, hoffnungslos, einsam und allein.

„Wie war denn meine Kindheit? Erzähl doch mal?“, fragte er. „Ich will meine Kindheit wissen. Warum weiß ich nichts darüber? Warum bin ich hier? Wohin werde ich gehen?“

Die Kinder hatten tagsüber mit bunter Kreide auf den Gehweg Figuren gemalt. Er blieb stehen, und in dieser merklich vorangeschrittenen Dunkelheit sahen diese aus wie die Sternformationen am Nachthimmel. Mit seiner Fußspitze schob er die toten Frösche beiseite und befreite so die Kinderbilder. Einfache Strichmännchen-Zeichnungen von Katzen, Prinzessinnen, Autos und Fahrrädern. Er bückte sich und nahm das Stück Kreide, das vom Tag liegen geblieben war. Er wollte auch etwas zeichnen, war sich aber nicht sicher, ob ihm das gelingen würde. Er kniete sich neben einer Prinzessin nieder, einer einfachen, mit Zackenkrone auf dem Haupt, aber irgendwie gefiel sie ihm. Er fing an, neben ihr den schwarzen Asphalt zu bekritzeln, als ein Auto um die Ecke fuhr. Seine Reifen schleuderte einen zerplatzen Frosch auf seinen Bauch. „Bravo, das hast du nun auch getan, du vertrocknete Mohnfratze. Warum gibt es noch das Rad, warum ist das nicht längst aus der Mode, dieses verflixte Rad. Seit der Bronzezeit bewegen wir uns damit fort. Warum fliegen wir nicht direkt? Warum rollen wir weiterhin mit einem Kreis? Aber Frösche regnen lassen, zum Beutel! Lass wenigstens das Fluchen frei! Hier, nimm, nimm alles, ich mache nichts, ich werde nichts sagen, was du mir in den Mund legen willst. Und ich werde auch nirgends hingehen. Ich werde hierbleiben und mich nicht vom Fleck rühren.“ Er hing am Fleck, der vorhin sein weißes Hemd besudelt hatte. Damit seine Hose nicht dreckig wurde entfaltete er sein Taschentuch und setzte sich darauf.

Ohne weiter nachzudenken, zeichnete der Meister einen Kreis neben der Prinzessin. Er hatte Null im Kopf, Nichts und Nichtigkeit, trotzdem zeichnete er um den Kreis herum kleine, runde Blätter. Er hatte neben der Prinzessin ein Gänseblümchen gemalt. „Was soll das? Ich habe einen Bauch und eine Glatze. Was soll bitte ein Gänseblümchen? Das schickt sich nicht für einen Mann in meinem Alter. Ein Auto oder Flugzeug, das hätte ich doch malen können.“ Was war das? Der Bogen im Punkt-Punkt-Strich-Gesicht hatte sich an den Enden nach oben gezogen. „Verblinkte Einsamkeit. Jetzt fühle ich mich gezeichneten Frauen näher. Aber, sie hat mich doch angelächelt. Schau mal, meine Hübsche, ich habe dir ein schönes Blümchen gemalt. Wie heißt du denn? Darf ich dich Gänseblümchen nennen? Mein weißes, flüchtiges Gänseblümchen?“

Niemand antwortete natürlich. Er schmiss die Kreide in die Ecke und zündete sich erneut eine an. Früher, da war das Rauchen ein Statement, nicht wahr? Da wurde auf den Hintern der Packung geschnippt, bis die Stangen wie Orgelpfeifen herauslugten. Da nahm man die Kippe direkt mit den Lippen heraus und zündete sie mit dem Zippo an.

Zebercet? Zebercet, wo bist du? Eine Frauenstimme, ganz in der Nähe. Er schauderte. Wer war das? Was machte sie da? Zum Glück war in der Straße nicht viel los. „Ja, wo sind denn die Leute? Gibt es ein Fußballspiel? Ist vielleicht WM oder EM?“
 Die Frau rief weiter. Zebercet?
Ich verstehe das nicht? Wenn es hier nur uns beide gibt, will ich mal schauen, wer sie ist“. Der Meister stand auf. Er lief Richtung Stimme. Zebercet? Früher gab es Glühwürmchen. In den heißen Sommernächten blinkten sie an und aus. Zebercet? Das Dorf hatte eine Wasserquelle, in deren Becken Wassermelonen zum Kühlen gelegt wurden. Es gab einen Fluß, den man an manchen Stellen von Stein zu Stein überqueren konnte. Zebercet? Es gab den Moment im Frühjahr, wo die Kühe zum ersten Mal nach dem langen Winter hinaus auf die Weide durften und wie sie vor Freude sprangen, hoch, so hoch, Zebercet! Das Herunterfallen von der Schaukel, weißt du noch? Als alle Kinder auf einmal in den Seilen hingen und über den Hang kullerten, wie Streuobst. Das Schreien der Großmutter und ihr Urteil über den Kirschbaum, der daraufhin gefällt werden musste, weil die Schaukel auf seinem Ast gebaut war. Zebercet, als Baby hatte er einen Autounfall. Der Reifen des Autos war geplatzt und der Wagen überschlug sich mehrere Male in die Tiefe, bis er zum Stehen kam. Seine Mutter verlor währenddessen die Stimme, aber ihm war nichts passiert. ´Der böse Blick lastet auf euch, aber die Sterne des Jungen sind stark. Er hat alle vor dem Tod bewahrt`, hatte die weise Frau nach dem Wachsgießen verkündet. Die Mutter wollte ihre Kinder besser schützen. Auf Geheiß der alten Wachsgießerin steckte sie ihre Hand zwischen ihre Beine und strich sie dann über seinen Kopf. Er hatte das gehasst, und seinen späteren Haarausfall damit begründet. Er dachte, dass sein Kopf nach Mumu roch, Zebercet, nach Mama. Und dann, irgendwann in einem anderen Land, hatte ihm seine Mutter neue Gummistiefel gekauft. Natürlich viel zu groß. Er wuchs ja noch rein. Am Kettenkarussell, als seine Lust am Größten war, als er sich drehte, über Land und Fluss, da verlor er einen seiner Stiefel im Main. Er liegt immer noch da.

Er konnte jetzt die Frau sehen. Sie war ungefähr so alt wie er, hielt eine grobe Strickjacke vorne übers Kreuz geschlossen und stand rauchend vor einem alten Holzhaus. Über der Tür stand „Otel“. Er beobachtete, wie sie mit der Hand ein Stückchen Tabak von ihrer Zunge nahm und anschließend den Rauch ausstieß. „Wenn diese Zigaretten nicht wären, wie würden wir unsere Traurigkeit zur Sprache bringen.“ Die Frau konnte ihn weder sehen noch hören. Sie rauchte so lange, bis sie ihre Kippe mit dem Fuß ausdrückte und durch die Tür verschwand. So wie wir.

Der Gott vom Handwerkerstrich

Y und S streiten sich
In der oberen Etage
Der Altbauwohnung
Am großen Tisch
Auch G mit zitterndem Adamsapfel
An der Wand Torten und Säulen
Dazu ein Schrank
Der eine Vitrine ist
Altmodisch
Mit Glastüren rechts und links
Eiche dunkel
(Der ewig Deutscher)
Darin eine rotierende Vorrichtung
Ein kleiner Paternoster

Der Mann
(Hat vorhin die Vitrine zusammengebaut)
Ein Rumäne
(Dreckige Klamotten)
Lächelt mich an
Auf dem Boden
Dutzend tote Säuglinge
In Tüchern eingehüllt
Wir sehen sie
(Ich bin traurig)
Interpretiere den Kuchen vom Chart
Y betrunken
Legt sich auf den Konferenztisch
Der ist so hoch
Wir sitzen auf Barhockern

Ich bezahle den Mann
Er hat ein gebräuntes Gesicht
Von der Arbeit
Darin sein hellblaues Lachen
Mit Augen
Die nicht dazu passen
Er nimmt das Geld
Und bringt die Säuglinge zum Weinen
Y torkelt hin
Umarmt einen
Kreischenden Kokon
Auch in nehme einen
Und schaue das schreiende Kind

Wie unergründlich
Sind deine Gerichte
Und unausforschlich
Deine Wege
Ich danke dir
Gott vom Handwerkerstrich!

– Träume

Bild-Haft

„Die Sprache läuft immer mit!“ Eine Welt aus SPRACHE.
Gibt es für alles ein Wort? Ein W-ORT? (Ver-ORTEN!)
Wo?

Im LAND? (ein Land)
Im RAUM? (ein Raum)
In RÄUME? (Imaginär)
In T-RÄUME? (Träume)
Ein Faden aus Erinnerungen, aufgerollt als Knäul. Er löst sich, verbreitet sich, vergrößert sich, verschafft sich RAUM, wird T-RAUM.
EIN RADIO, EIN KRIMI, DAS SONNENLICHT durch die Fensterscheibe und Toto.
Was macht sie? Ist der Tag bei ihr ebenfalls hängen geblieben?
KLEBEN, es kleben die Räume, verwachsen ins LEBEN.
STILLE
RADIO
STAUBKÖRNER
Toto stickt ihre Aussteuer. Im Radio ein Mord. Stich für Stich führt sie den Faden ins Kreuz. Sie hat den Moment in den Batist gestickt, für immer, mit rosa Stichen, hängen wir an ihrer inzwischen vergilbter AUS-Steuer. (Weg! Raus! Durch das Fenster! Es ist doch nur das Erdgeschoss.) Sie horcht. Jemand rennt die Treppe hoch.
UND?
UND!
Und, und, und … Grün! Ich blicke ins Grün. Die Welt ist grün, hinter der Scheibe.
Wäre ich ein anderer Mensch geworden? Warum bin ich weggezogen? Ich bin weggezogen worden und klebe doch im RAUM, bin vor ORT. Toto hat dort alles ins Weiße gesticht (gestochen!). Hat man den Mörder erwischt? Danach lief Musik, der Krimi war ein Mehr-Teiler, kein Lang-Weiler, ein Kurz-Bleiber, Dauer-Brenner. Toto ließ alles andere dafür liegen, nur stach sie und zog am Faden.
Rosen. Stich um Stich, rosa Rosen, die ganze Reihe entlang. Alles für die Hochzeitsnacht. Und ich? Ich will da nur raus. (Die Stille hat alles eingefädelt, ist an allem schuld.)

Toto und ihr Radio. Es hatte Zauberkräfte. Erst dudelte es, (dudel, dudel) und oft ein Rauschen. Toto saß dicht daran, genau daneben, das Stickzeug in ihrem Schoß. In ihrem Schoß stickt sie alles fest. Und das Ohr dicht ans gesprochene Wort, das ihr Räume schafft, über ihrem Kopf tanzt der Staub im Licht.
L E E R E
S T I C H E
L E E R S T I C H ES T I C H E   I N S  L E E R E 

W

K R E U Z  

I

S

E

Toto war keine 18. Wie alt ist Toto? Ob Toto daran denkt? Ob Toto weiß, wer der Mörder war? Ich habe sie nie gefragt. Was hatte ich mit Toto gesprochen? Hatte ihr Vater noch gelebt? Ist das Radio noch da?
S T A U B K Ö R N E R
Ich hatte sie zum ersten Mal über Totos Kopf tanzen sehen. GEISTER, DIE TOTO RIEF? Sie tanzten über ihr im Licht. Schamlos! Toto, du hättest uns diese Horrorgeschichten nicht erzählen sollen. Du hast sie um dich herum gehabt.
DURCH NICHTS GE-WÜHLT ZEIT ORDNUNG PASST FALSCH
(Versuche es richtig einzugliedern!) 
(Nein!)
D I E  L U F T  I S T  N I E  R E I N !
Ich sah die UN-REINHEIT. Niemand ist davon befreit. Auch Toto nicht. Ich sah ihre ………………….. <= da kann so alles hinein. Lassen wir das LOCH da.
L O C H I S T L E E R 
Toto sticht Löcher in die Blumen. Ich weiß nicht mehr, ob sie sie gefüllt hat. Ich weiß so vieles nicht. So viel NICHT-WISSEN. Warum frage ich Toto nicht? Ob sie das noch weiß? Ob sie mir sagen kann, OB sie die Löcher gefüllt hat, oder ……………………?
Toto hat viel gelacht. Ich kann mich nicht erinnern, mitgelacht zu haben. Bei ihr bin ich mir ziemlich sicher. Totos Schneidezähne waren kürzer als die Eckzähne und ich habe sie oft gesehen.
Ich war da. Im Haus, wie ein Dieb schlich ich mich ins Zimmer. Das Radio ist weg, Toto schon lange. Nur das Fenster war da und das Grün dahinter.