Pupuze Berber

Ein ausgenuckelter Roman

„Mann, was für eine Enttäuschung! Bist doch selbst schuld!“ schimpfte ich mit mir. „Was für eine mega Demütigung musstes du ertragen! Sie steht einfach auf und setzt sich woanders hin. Was denkt sie sich, wie ich mich da fühle. Diese dumme Kuh! Nur ein Sachbuch hat sie geschrieben. Und was ein Schlechtes! Mit den Zahlen des statistischen Bundesamtes. Nimmt dessen Tabellen, dichtet eine Story dazu und prophezeit damit die Zukunft. Die blöden Medien haben sie wohl so gehypt, dass die Gute ihre Manieren vergessen hat.“

Das Taxi ließ die Lichter der Wolkenkratzer im Nachthimmel hinter sich. Eine Anfreundung mit der Autorin bei ihrer Lesung im 34. Stock hätte für meinen ungeschriebenen Roman ein schöner Anfang werden können. So von Autorin zu (Fast-)Autorin, hätten wir uns doch austauschen könne. Und was macht sie? Setzt sich einfach woanders hin, als wollte sie mir sagen „Halt die Klappe“ (halten Sie den Mund!).“

Ich, dumme Gans, zahlte auch noch Eintritt und ließ mir das blöde Buch signieren. „Warte nur, bis ich meinen eigenen Roman geschrieben habe.“ Ich werde nämlich eine berühmte Schriftstellerin und sie wird sich in eine Schlange einreihen müssen, um ein signiertes Exemplar meines neuen Romans zu bekommen. Da werde ich sie erst einmal mit erhobenen Augenbrauen fixieren. „Du hast lange nichts Neues geschrieben. Hat das statistische Amt nichts mehr zu bieten? Geh doch einfach zum Finanzamt, die haben auch Zahlen.“ Gönnerhaft und sehr unleserlich werde ich dann „für Lisa, Tabellenmärchentante“ ins Buch kritzeln und es ihr zurückgeben.

Während ich solche Pläne in meine Zukunft hineinschmiedete, löste sich die Wut auf diese Frau in eine wohlige Müdigkeit auf. Zukunftspläne waren schon immer mein Nuckel gegen die Gegenwartsohnmacht gewesen. Hatte mich in der Schule eine Mitschülerin geärgert, verzog ich mich gleich in eine Ecke und grübelte darüber nach, wie ich es ihr später heimzahlen würde. Ich machte ständig Pläne und nie ist einer wahr geworden. Trotzdem behielt ich meinen Nuckel. 

Das Taxi hielt vor meinem Wohnblock an. Endlich konnte ich zu meiner Katze Paula gehen und mich schlafen legen.

Am nächsten Tag war ich völlig geflasht. Ein Instagram-Bekannter bat mich darum, seine entfernte, ältere Verwandte (eine sehr erfolgreiche Schriftstellerin und Literatin!) zu helfen, die in meiner Stadt wohnte. Ich sollte ein Facebook-Account für sie einrichten und sie in die Nutzung von Social Media einführen. Davon hatte sie keine Ahnung, wollte aber trotzdem ein Konto, um mitreden zu können (und um ihr Wissen mit der Welt zu teilen!). Ob ich denn aushelfen wollte… Er könnte mir ihre Telefonnummer geben. Was für eine blöde Frage. Das Schicksal hatte mir eine Riesenchance gegeben. Ich sah mich meinem Ziel, einen Roman zu schreiben, näherkommen als jemals zuvor. Also rief ich die Autorin noch am selben Tag an und besuchte sie am darauffolgenden.

Da lagen 40 Jahre zwischen uns. Ich sehr aufgeregt, sie ganz gechillt. Wir machten uns an die Arbeit. Ich legte für sie ein Profil an, mit einem sehr vorteilhaften Foto von ihr (am Tisch ein Buch lesend) und klärte sie über Like-Phänomene auf: „Babykatzen und Welpen, in Herzen gerahmte Portraitbilder, blinkenden Blumen! Das zieht alte einsame Herren an! Finger weg!“ Anschließend zeigte ich ihr wie sie nach Personen suchen konnte. Im Minutentakt fand sie irgendjemanden, den ich nicht kannte, klickte auf „FreundIn hinzufügen“ und eilte schon wieder zum nächsten Bekannten. Ab da war sie kaum ansprechbar. Ich langweilte mich, und wusste nicht, ob ich einfach gehen sollte, blieb aber doch. Von dieser Begegnung sollte immerhin auch was für mich herausspringen. So leicht würde ich nicht aufgeben. Sie sollte mir als Gegenleistung etwas von ihrem Wissen abgeben und mich bei meinem angefangenen Liebesroman beraten. „Du kannst mich immer anrufen, wenn du Fragen hast“, versicherte ich ihr beim Abschied.

Sie rief nicht an. Ich lud sie am nächsten Tag zu einem Kaffee ein. Das Treffen sollte an einem Ort sein, an dem sie nicht einfach so im Computer verschwinden konnte. Ein recht plüschiges „Oma-Café“ war genau das richtige. Da würden wir uns gegenübersitzen und sie müsste sich dann wohl oder übel auch mit mir und meinen Belangen beschäftigen. Sie hatte schlechte Augen und so dürfte ich ihr in der Tat die wenigen Zeilen meines Romanentwurfs vorlesen. „Eine unsäglich langweilige Geschichte“ tadelte sie mich lautstark, worüber ich mich besonders freute. Denn, sie war ja keine Freundin, die mich mit Lob loswerden wollte. Sie war eine Schriftstellerin, und setze sich mit meinem Text auseinander. Ich sog ihre Worte auf wie Zewa Wisch und Weg das Wasser (zu abgedroschen und langweilig!), oder wie meine Hightech-Binde die Monatsblutung (das ist keine Metapher, das ist neumodisches Gender-Geplapper!)

Nun hatte ich endlich die Gelegenheit a) meinen Roman mit entsprechend fachlicher Unterstützung zu beenden und b) über sie andere Schriftstellerinnen kennen zu lernen. Also musste ich unsere aufkeimende Bekanntschaft über das Facebook-Anlernen hinaus vertiefen.

Auf jede ihrer Wünsche ging ich ein. Da sie in ihrem Alter nicht gerne unterwegs war, besuchte ich sie häufiger in ihrer Altbauwohnung, die sie mit ihrem Mann bewohnte. Da saß ich also stundenlang vor einer Tasse kaltem Tee, aß den mitgebrachten Käsekuchen, (den sie so liebte) und war einfach nur glücklich. Die berühmte Schriftstellerin nahm sich Zeit für mich, unglaublich. Ich zeigte ihr die überarbeiteten Versionen meines Romans, und sie erzählte mir von ihren Facebook-Abenteuern. Inzwischen hatte sie nach entfernten Familienmitgliedern gesucht und vergessene Kommilitonen gefunden. Ich freute mich für sie (dass sie so schnell lernte) und auch für mich. Hin und wieder durfte ich erneut vorlesen: „Sie zog nervös an ihrer Zigarette und…“ „Was? Rauchende Frauen, gaaanz schlecht. Klischeehafter Mumpitz!“ Erneut haute sie mir die überarbeitete Version um die Ohren. Das machte mir aber nichts aus. „So wie sie Facebook von mir gelernt hatte, werde ich von ihr Schreiben lernen“, tröstete ich mich im Stillen, und hoffte bald schon Fortschritte machen zu können, damit sie nicht abermals mit groben Worten über die ausgedruckten Seiten herfiel (Was schreibst du so lange Sätze? Du bist doch kein Musil!).

Ach, es waren glückliche Tage! Bis spät in die Nacht erzählte sie mir von ihren Facebook-Diskussionen und beendete sie mit: „Alles Idioten!“ Zuhause ging ich mit der kuscheligen Zufriedenheit ins Bett von ihr zu lernen. Inzwischen war sie für mich nicht nur eine Schriftstellerin; sie wusste sehr viel, hatte zu jedem Thema eine Meinung und verteidigte sie hart. Nach kurzer Zeit hatte sie es geschafft, auf Facebook mehr Nutzer zu blockieren als Freunde zu gewinnen (das Blockieren hatte ich ihr gezeigt, falls sie Fotos von entblößten männlichen Genitalien bekam. Und sie bekam so viele!) Ich tröstete sie: Es gäbe noch genug Menschen auf der Welt. Warum nicht einfach Unbekannte kennenlernen? „So wie wir beide“, dachte ich und lächelte süß in mich hinein.

„So wie sie will ich auch werden, wenn ich alt bin“, dachte ich. Eine Frau voller Weisheit und Wahrheit. Eine starke, graue Eminenz. „Ich möchte genauso strahlen und Jüngere um mich herum haben. Ich will denen all mein Wissen weitergeben, so wie sie mir.“ (Ich werde dann nicht mehr an weltliche, profane, vergängliche Dinge hängen, wie jetzt, sondern heldenhaft nur noch für die Wahrheit kämpften, wie sie.) Allerdings gab es bis dahin einen weiten Weg, der noch vor mir lag. Ich, die kleine Angestellte, wollte schreiben. Nicht nur unfreundliche Emails und Abmahnungen wegen nicht bezahlter Rechnungen, nein, es sollte ein Roman geschrieben werden, der mir Ehre und Ruhm bringen würde.

Inzwischen waren wir enger vertraut. Sie rief mich täglich an. Oft war sie angetrunken. Das erkannte ich an ihrer besonderen Heiterkeit. Sie berichtete weiterhin ausgiebig von ihren Begegnungen auf Facebook. Und eines Tages schrie sie mir ins Ohr: „Stell dir vor, ich habe meinen Professor gefunden!“ Ich kräuselte die Stirn. Wie alt mochte er sein, wenn sie 69 war? Fragen wäre unhöflich und ich wollte sie nicht unterbrechen. Wie ein junges Mädchen ließ sie sich über ihre Uni-Abenteuer aus, als wäre sie gestern noch dort gewesen. „Er sagte, Gisele, Schätzecken, du bist keine Gisela, nicht wahr, du bist Gisellechen, das sieht man doch.“

Ein paar Tage später schlug sie mir vor, sie bei ihrer bevorstehenden Lesereise zu begleiten. „Wir treffen uns morgen um drei im Oma-Café. Dann erzähl ich dir alles“, sagte sie knapp und legte auf. Ich war so happy auf die bevorstehende Reise, dass ich mich nicht fragte, warum wir uns im Café und nicht – wie üblich – bei ihr zu Hause treffen sollten.

Dort erfuhr ich schließlich den Grund. Diese Lesereise war eigentlich keine Lesereise. Sie hatte den geplanten Ausflug am Telefon nur als solche getarnt, weil ihr Mann zugegen war. Bei Kaffee und Käsekuchen servierte sie mir die Wahrheit: Sie sei in ihren Professor verliebt. Er war damals leider verheiratet gewesen, aber: „Stell dir vor, er ist jetzt Witwer!“

Während ich ihre letzten Sätze im Kopf zu ordnen versuchte, fuhr sie fort: „Jetzt ist endlich meine Gelegenheit gekommen. Ich werde ihn besuchen, und du wirst mich begleiten. Wir nehmen den Zug. Du weißt, ich kann nicht gut sehen, dazu noch mein Hüftleiden. Ich übernachte bei ihm, du übernimmst mein Hotelzimmer.“

“Mann, was war das jetzt? Bin ich nur ihr Alibi? Ich muss was tun!“, beschloss ich später in der Straßenbahn. Zu Hause, noch im Mantel, setzte ich mich hin, und schrieb diese Kurzgeschichte. Im Speisewagen des Zugs, auf dem Weg zu ihrem Liebestreffen überreichte ich ihr dann meine in Schriftgröße Arial 18 ausgedruckten Blätter. „Weißt du, Gisela, ich habe es mir anders überlegt. Wir vergessen mal den Roman. Ich habe etwas ganz Neues geschrieben. Lies doch mal und sag mir, was du darüber denkst.“ Sie setzte ihre Lesebrille auf, nahm einen roten Stift aus der Tasche und begann im Text Korrekturen vorzunehmen. (Diese habe ich für die Nachwelt kursiv in Klammern drinnen gelassen.) Danach gab sie mir den Papierstapel zurück und bestellte vom vorbeigehenden Schaffner zwei Piccolo. „Siehst du Schätzchen, daraus wird ein Schuh. Schreib weiter so! Prösterchen!“