Pupuze Berber

Eine Kindheit im Pontus (Teil4 Regen)

Regen. Er war und ist schon immer meine Verbindung zur Kindheit gewesen. Wann auch immer ich aus der Haustür hinaustrete in den Regen, die Art, die stetig, ehrlich und gleichgültig niederkommt, in dünnen, geraden, fast unsichtbaren Fäden, denke ich, „ach ja, wie damals im Dorf“.

Der Regen war in meiner Kindheit stets unaufgeregt, tobte selten, aber wenn dann heftig, da half dann auch kein Schirm mehr. Oft gab es diese tosenden Stürme im Sommer – nicht dass es bei uns so richtig warm wurde! Wenn aber doch, dann war es eine klebrige Schwüle, und wir hofften, dass es nicht allzu lange dauerte und der Himmel uns bald erlösen würde. Und wenn es dann soweit war, goss es schlagartig wie aus Kübeln, so dass die Frauen es nicht schafften, die trockene Wäsche von der Leine zu holen. Alles wurde augenblicklich nass. Nach kurzer Zeit war dieser Wutausbruch auch schon vorbei.

Bei einem Platzregen, egal wo ich ihn erlebe, kommen keine Erinnerungen hoch. Ganz anders eben bei einem entspannten, stressfreien Regen, der einfach da war, wie die Türschwelle, die Feuerstelle, die Kühe im Stall, Mutter, Großmutter und die aneinander gereihten Tage, die wie die Perlen an Großmutters Gebetskranz leise klickend vorüber gingen. Niemand regte sich auf, wenn es regnete, auch der Regen nicht. Er hatte einen entspannten Sound, ein flüsterndes Rauschen, das vom Himmel kam, und auf Dachziegeln niederfiel, auf Bäume, Holzscheite, im Hof vergessene Blechtöpfe, Tonkrüge und brachte sie dann zum Singen. Die Kühe, die an solchen Tagen im Stall bleiben mussten, muhten ab und an traurig dazu. Und so wurde aus dem gleichgültigen Regen ein gut orchestriertes Musikstück, der in jedem Hof seinen eigenen Klang hatte.

„Hängt Weiß nach der Hebamme!“ schrie Cicianne, die mit dem goldenen Zahn, hinten aus der Wohnstube heraus und gab so dem trägen Tag endlich ein richtiges Ereignis. Tante Seyhan sollte ihr Baby bekommen. Ihr Bauch war zum Platzen groß gewesen und die Alten murmelten, dass es doch längst höchste Zeit war. Großmutter sprang von ihrem Schemel hoch, legte zwei Holzscheite ins Feuer und ging nach draußen vor die Tür. Mutter kam mit einem weißen Bettlaken herausgelaufen, das sie auf die Wäscheleine in den Regen hing und laut durch ihre beiden Zeigefinger pfiff, bis vom gegenüberliegenden Hügel eine schrille Antwort kam.

„Hah, Kanacaba hat dich gehört. Sie schickt nach Kalacin Emine. Schnell. Setz du den Kessel mit Wasser auf. Ich bin unten bei Karabey. Das zungenlose Tier braucht mich jetzt“, sagte Großmutter. Und als sie sah, dass ich mich ebenfalls hinter Mutter auf dem Weg ins Haus machte, rief sie mir zu: „Du wartest hier auf die Hebamme.“

„Ich will doch das Baby sehen.“

„Geduld, du braucht mehr Geduld. Es ist nicht einfach, einen Menschen zu gebären. Das dauert. Tu was ich dir sage. Setz dich hier hin und warte.“ Sie nahm einen Schemel und setzte mich an die Türschwelle, dem Regen zugewandt, bevor sie zu ihrer Lieblingskuh in den Stall ging, über die sie ständig sagte: „So Gott will und sie gesund wird, werde ich sie dieses Jahr zum Fest opfern“, und Mutter jede Gelegenheit nutzte, um hinter ihrem Rücken zu ergänzen: „Doch als Karabey gesund wurde, wollte sie viel lieber gedeckt werden und verzichtete auf eine Seele im Jenseits.“ Folglich musste Großmutter in diesem Jahr Dursana opfern, die sie so gar nicht leiden konnte. Daher auch der Name, Dursana, der „Bleibstehen“ bedeutet, weil diese Kuh uns immer Kummer bereitete, weil sie anstelle von frischem Gras oft den Kohl und die Bohnen am Wegrand fraß, wenn wir mit Kühen unterwegs waren.

Am besagten Opferfest war Großmutter nicht beseelt wie sonst. Als Mutter mit Kavurma, dem frisch gebratenen Fleisch des gerade geschlachteten Tiers den Frühstückstisch deckte, wandte sich Großmutter wehleidig zu ihrer Schwester Hashatun: „Möge Allah mir meine dummen Gedanken verzeihen, aber wenn ich mir vorstelle, dass mich diese störrische und eigensinnige Kuh im Jenseits begleiten wird. Ich wollte doch viel lieber meine Karabey bei mir.“

Sie aß wenig vom Fleisch und verzog jedes Mal den Mund, wie ich, wenn ich gekochte Bohnen essen musste. Großtante Hashatun war ein zu fröhlicher Mensch und konnte sehr witzig fluchen. „Ich pupse vor deine Nase. Was machst du für ein Gesicht. Hast du denn diesseits keine Sorgen mehr, dass du an deine Kühe im Jenseits denkst? Iss auf, ich will gleich noch tanzen.“

„Untersteh dich, wo du gerade den siebten Mann begraben hast.“

„Ich begrab noch den achten. Wer will mir das Tanzen verbieten.“ Und schon stand sie auf und nahm mich an der Hand. „Komm, wir machen eine Runde Tepetopuk.“ Sie stellte abwechselnd einen Fuß auf die Zehenspitze, schoss mal die rechte und mal die linke Hüfte hoch und schnippte mit den Fingern im Rhythmus dazu, während sie die Arme weit ausgebreitet hatte, als wollte sie fliegen. Und ich wirbelte jauchzend um sie herum. Großmutter schimpfte nun über ihre verrückte ältere Schwester und grämte sich weniger um ihre Kühe im Jenseits, die eine Seele bekamen, wenn sie geopfert wurden.

So hatte Karabey nun auch einen dicken Bauch, weswegen Großmutter bei ihr war und ich lange an der Türschwelle in den Regen schaute. Bis eine rundliche Frau wiegenden Schrittes daherkam. Ich sprang auf.

„Bist du die Hebamme?“

„Wer sonst. Dich habe ich auch rausgeholt. Ich habe euch alle rausgeholt.“ Sie blieb neben mir stehen, öffnete ihr langen Kopfüberwurf und schlug die Enden auf ihrem Rücken.
„Wie groß du geworden bist. Ich hatte es dir nicht zugetraut zu überleben, so winzig warst du bei deiner Geburt. Aber, siehe da, du bist wohl sehr ehrgeizig.“ Sie tätschelte meinen Kopf und ging hinein. Ich lief hinterher, aber Mutter hatte sie schon erwartet und schlug die Tür zur Gebärstube vor meiner Nase zu. 

„Ich will das Baby sehen!“, rief ich und boxte gegen die Tür. Doch niemand reagierte. Ich ging also wieder nach draußen und setze mich auf meinem Schemel an der Türschwelle. Ich war wütend auf Mutter. Das machte sie immer so. Nie durfte ich dabei sein, immer wurde ich weggejagt. Dabei wollte ich doch zusehen, woher das Baby kam. Und dann fiel mir ein, dass ich ein Mädchen war und irgendwann eine Frau sein würde, wie sie alle. Ich hatte also alles, was sie auch hatten. Ich lief in unser Zimmer, stelle mich vor dem Spiegel, zog meinen Kleidchen aus, schob das Unterhemd hoch und schaute auf meinem Bauch. Und sah es sofort: den Bauchnabel! Natürlich, die Hebamme hatte ja gerade gesagt, sie hat mich da rausgeholt. Nachdem ich das geklärt hatte, bastelte ich mir eine Stoffpuppe, die ich unter meinem Unterhemd trug und lief zur Großmutter in den Stall. Sie saß auf dem Futtertrog und sprach leise mit Karabey, die ein kleines Kälbchen leckte.
„Karabey hat ihr Kälbchen“, rief ich und eilte zu ihr. Doch Großmutter hielt mich auf.
„Schhht, nicht so laut.“ Sie winkte mich zu sich und so schauten wir beide zu, wie das Kälbchen langsam aufstand und an die Zitzen der Mutter ging. Es war hellbraun, hatte so hübsche Augen mit dichten Wimpern und auf der Stirn einen dunklen Fleck, das aussah wie ein Gänseblümchen.
„Das ist das schönste Kälbchen, das ich je gesehen habe“, sagte ich und – zugegeben – es war auch mein erstes, an das ich mich erinnern konnte.
„Allah zürnt mir, es ist ein Stierkalb, ein nutzloses Tier.“
„Kann ich es haben, wenn du es nicht behalten willst?“
„Du musst dich aber um ihn kümmern.“ Ich versprach es ihr hoch und heilig und nannte es Blümchen.
„Ist die Hebamme gekommen?“
„Ja, sie haben sich wieder ins Zimmer eingeschlossen.“
„Ob das gut geht“, murmelte sie und stand auf.

Als wir ins Haus gingen, bog Onkel Osman von der Straße zum Hof ab. Jemand musste ihn unterrichtet haben, weil wir ja noch das Weiß hängen hatten. Mutter nahm Großmutter mit, und ich lief hinterher. Die Tür stand offen, Tante Seyhan lag verschwitzt im Bett, ihr Oberkörper aufgerichtet. Cicianne putzte ihr übers Gesicht, gab ihr Wasser zu trinken und strich Ihr die Haare nach hinten, während die Hebamme etwas Kleines in einem weißen Laken wickelte.
„Wo ist das Baby?“, fragte ich leise, denn niemand sprach.
„Ein hübscher Junge. Sie muss ihn schon lange tot getragen haben, die Haut war schwarz angelaufen, kam sehr schwer raus. Wir mussten zu zweit kräftig drücken“, flüsterte die Hebamme zu meiner Großmutter und ging mit gesenktem Kopf und dem weißen Päckchen aus dem Zimmer. Draußen schmiss Onkel Osman seine Zigarette auf dem Boden und nahm das weiße Bündel wortlos entgegen. Er holte einen Spaten aus dem Schuppen und lief den Hang herunter, zu einem kleinen Apfelbaum. Dort direkt am Stamm begrub er sein namenloses Kind.

Niemand schien mehr später an den Jungen zu denken. Wenn er gelebt hätte, wäre er vier Jahre jünger als ich. Die Tage gingen wieder geräuschlos vorbei, wie alle Tage zuvor.

Der Regen blieb.