Die wilden Schrebergärten hatte ich inzwischen hinter mir gelassen und lief unter den Brückenpfeilern entlang, wo der Boden trocken war. Links neben mir floss der Urselbach, vom Regen aufgewühlt schäumend. An seinen flachen Ufern wuchs Gras und Gestrüpp, alles in einem frischen Grün, das das Auge erfreute. Etwas weiter oben lag der Fußballplatz und ich hörte dort das fröhliche Geschrei der Kinder, die dort trainierten. „Bei dem Wetter“, dachte ich, verwarf aber sogleich diesen Gedanken wieder. Ich sollte nicht alles so dramatisieren, war selbst schließlich auch unterwegs.
„Von der Nähe betrachtet ist das Leben eine Tragödie und je weiter wir uns davon entfernen, formt es sich zu einer Komödie“, hatte ich kürzlich irgendwo gelesen. Was sind wir für traurige Geschöpfe, der Natur und unseren Mitmenschen ausgesetzt. So sind wir stets bemüht in irgendwelchen gegebenen Verhältnissen mehr oder weniger zu überleben. Und je weiter wir den Blick vom einzelnen wegziehen und auf die gesamte Menschheit lenken, wirkt dieser millionenfache Überlebenskampf irgendwie lächerlich. Am besten wäre es, es gäbe uns gar nicht.
Und mit der Zeit ist es genauso. Je gegenwärtiger, desto schlimmer, je vergangener desto lustiger. Heute lache ich über das Erlebte in meiner Kindheit. Die Ernsthaftigkeit ist mit den Jahren verloren gegangen. Oder hatte ich dem Erwachsensein diesen Ernst angedichtet, den es so nie gab? Auf jeden Fall war ich damals von den Erwachsenen fasziniert. Sie waren groß, vernünftig, eloquent und frei, konnten tun und lassen, was sie wollten. Niemand schickte eine Frau weg, wenn sie sich einen Schemel nahm und sich zu einer Unterhaltung dazu setzte. Aber, sobald sie mich entdeckten, wie ich ihnen lauschte, wurden sie stumm und ich musste gehen und mit den Kindern spielen.
„Und nimm deinen Bruder mit.“
„Na gut.“
Dann trottete ich, mit meinem dreijährigen Bruder an der Hand, den kleinen Weg entlang vom Hof auf die Straße, auf der allerdings höchstens zweimal am Tag ein Auto fuhr, nämlich das von Onkel Recep, wenn er morgens sehr früh zur Arbeit eilte, und wenn er abends sehr spät nach Hause kam. Sie war aus Lehm und beim Regen bildeten sich in den breiten Reifenspuren des kleinen LKWs riesige Pfützen. Außer mir liebten alle Kinder Matsch, stocherten mit Stöcken darin herum, hüpften hinein, bewarfen sich damit, als wäre es Schnee. Ich hielt mich von ihnen weit entfernt, um vom Dreck nichts abzubekommen, und schaute zu, wie von meinem kleinen Bruder irgendwann nur noch die Augen zu sehen waren. Der Rest war von einer braunen Brühe überzogen, wie bei den anderen drei. Nur ich war sauber geblieben, in meinem weißen Kleidchen, das ich sehr liebte, das mit den weißen Rüschen am Rock. Wenn ich lief, bauschte er sich wie Pasmanika hoch, das sah aus wie Popcorn.
Und dann kam Tante Feria, die wir Kinder wegen ihres goldenen Zahns Cicianne nannten. Sie war anders als die anderen Frauen im Dorf, und ich mochte sie sehr, weil sie mich oft vor Rabauken beschützte, aber noch öffters vor Mutter. Denn Mutter konnte aufbrausend sein, wenn ich log und ich konnte schon damals gute Geschichten erfinden. Doch an diesem Tag war Cicianne sauer auf mich, weil ihre zehn Jahre alte Tochter Serap sich im Matsch suhlte, während ich, fünf Jahre jünger, sauber und adrett dem Geschehen aus einer sicheren Entfernung zuschaute.
„Was stimmt mit ihr nicht, sie sollte genauso sein wie die anderen. Und dafür habe ich gerade gesorgt“, rief sie Mutter zu, die angelaufen kam, weil ich Rotz und Wasser weinte. Denn Cicianne hatte mich gepackt und in den Matsch geworfen. Mein schönes Popcornkleidchen triefte vor Dreck, was sollte sonst noch passieren?
Heulend lief ich ins Haus, um mich umzuziehen und da muss mich Opa Korot gehört haben, als er am Hof vorbei ging.
„Was ist? Hast du dir weh getan?“, fragte er mich.
Opa Korot war, wie alle im Dorf, über Ecken mit uns verwandt. Er hatte einen langen Bart und einen noch längeren alten Wollmantel mit vielen tiefen Taschen, in denen er alles Mögliche aufbewahrte und Kindern schenkte, was er unterwegs gefunden hatte. Meistens waren das Esskastanien. Ich mochte ihn sehr, fürchtete mich jedoch vor seinem Bart, so dass ich mich versteckte, wenn er zu uns kam. Das wusste er und es machte ihm nichts aus. Er ließ mir trotzdem immer etwas aus seinen Taschen da.
„Schau mal, was ich hier für dich habe. Ich lasse es dir draußen auf dem Fenstersims“, sagte er und ich konnte es kaum abwarten, dass er ging. Ich kroch unter dem Bett hervor und lief zum Fenster, das hochgeschoben war. Da lag ein kleines, teils bauchiges Ding aus Blech. Und weil ich es nicht erkannte, fragte ich Mutter.
„Fifirik“, antwortete sie. Später war mir klar, dass sie das Wort erfunden hatte, weil auch sie nicht wusste, dass es Trillerpfeife hieß. Zwei Jahre später, als unsere Lehrerin damit trillerte, und wir im Schulhof von einer Ecke zum anderen liefen, hatte ich ihr von meiner Fifirik erzählt und sie mich unmissverständlich korrigiert. Aber, weil niemand das Wort davor kannte, nannten wir Opa Korots Geschenk Fifirik und ich fing sofort an damit zu lärmen. „Ich will auch mal“ schrie mein Bruder. Wie ärgerlich! Ich musste alles mit ihm teilen. Sonst kam Mutter und ich musste mir anhören: „Du bist doch schon so groß, gib ihm das.“ Also pfiffen wir abwechselnd in meine Fifirik. Und Großmutter scheuchte uns erneut aus dem Haus.
Ich lief mit meinem Geschenk an der einen, meinem Bruder an der anderen Hand wieder auf die Straße. Die Kinder hatten nun genug im Matsch gespielt und sich inzwischen eine neue Gemeinheit ausgedacht, um alte Frauen zu erschrecken. Sie stülpten ihre Augenlieder von innen nach außen, in dem sie an den Wimpern zogen und von oben aufs Lied drückten, so dass die Innenseite des Liedes mit blutigen Äderchen sichtbar wurde.
Die ohnehin schon dreckigen Gesichter sahen nun auch noch schaurig aus. So lief die Horde zum nächstgelegenen Haus, um Zülfiyeba zu erschrecken, eine fast hundertjährige Frau. Sie fürchtete sich und schrie so laut, dass ihre Schwiegertochter Tante Mucefer herbeieilte. Und als die sah, wie wir uns über die klapprige Greisin kaputtlachten, nahm sie ein langes Holzscheit und jagte uns vom Hof. Die anderen Kinder waren viel schneller als ich, weil ich ja noch meinen kleinen Bruder an der Hand hatte, der auch noch stolperte, und mich dabei mitriss, so dass wir beide hinfielen und ich dabei meine Fifirik verlor. Tante Mucefer hatte sie gesehen. Sie hob sie auf und lief zurück zum Haus. Ich war traurig, wagte jedoch nicht, zu ihr zu gehen, denn ich fühlte mich schuldig, hatte ich doch mitgelacht.
Ein paar Tage später saßen mehrere alte Frauen auf kleinen Schemeln bei uns im Hof und unterhielten sich, darunter Cicianne und Tante Mucefer. Tante Rukiye, die berühmt dafür war, immer viel zu reden, schimpfte gerade wieder über ihren Mann und ließ niemanden zu Wort kommen, wenn auch einige es versuchten. Da zog Tante Mucefer, die neben Rukiye saß, meine Fifirik aus der Tasche ihrer Strickweste und blies kräftig hinein. Tante Rukiye machte einen Satz nach oben, packte ihren Kopf zwischen ihren beiden Händen und schrie, „Auwww“, so erschrocken war sie. Die Maiskolben, die sie unterwegs gepflückt hatte, fielen ihr aus dem Schoß, aber das kümmerte sie nicht. Ihren Kopf zwischen den Händen haltend verließ sie den Hof Richtung Straße.
„Wie kannst du die arme Frau so erschrecken. Sie hat schon wenig Verstand, willst du, dass sie ihn ganz verliert?“, schimpfte Großmutter mit Tante Mucefer.
„Wo hast du dieses Ding her? Was machst du für Sachen, Du bist doch kein Kind?“ machte Cicianne weiter, und ich erkannte meine Chance. So trat ich dem Schatten der Haustür hinaus, von wo ich sie belauscht hatte zu der Runde der empörten Frauen und schrie:
„Das ist meine Fifirik. Und sie hat sie mir gestohlen!“, und zeigte dabei mit meinem Zeigefinger auf Tante Mucefer.
„Das stimmt nicht, du hast sie fallen lassen, als du weggerannt bist und ich hab sie nur aufgehoben“, maulte sie mich an.
„Jetzt legst du dich auch noch mit einer Fünfjährigen an. Schäm dich!“ Cicianne stand auf, nahm ihr meine Fifirik aus der Hand und gab sie mir zurück.
Darüber lachten alle, außer Tante Mucefer, die mich nur traurig anschaute.
Da verstand ich sie nur zu gut. Denn ich hatte etwas, das sie nicht mehr hatte und unbedingt zurückhaben wollte. Ich ging zu ihr, legte ihr meine Fifirik in die Hand und sagte.
„Ok, du kannst heute noch mit ihr spielen, aber morgen hole ich sie mir. Einverstanden?“