Pupuze Berber

Kapitel 5 aus einem Manuskript

Peruze widersprach aber ihr Vater war der Meinung, zum Haus des Onkels wären sie auf dem richtigen Weg. Dabei war es eine Ausfahrt später gewesen, die sie hätten nehmen sollen. Es war bereits Abend. Sie wollte endlich in einem richtigen Bett schlafen, auf einer geraden Unterlage, die Beine ausstrecken und sich lang machen. Sie waren schon seit zwei Tagen unterwegs, und ausgerechnet so kurz vor dem Ziel musste sich der Vater durchsetzen. Dabei hatte er keinen Orientierungssinn. Nur weil Anja am Steuer saß, wollte er recht haben, das Gesicht bewahren, das war die Hauptsache. Sogar ihre Mutter Saniye, die sich sonst über ihn lustig machte, wo sie nur konnte, er könne keine Straße wiederfinden, bevor er nicht mindestens zehn Mal dort gewesen war; sogar sie sagte jetzt, weil eben Anja dabei war, der Vater hätte Recht, diese wäre die Ausfahrt, die sie zu nehmen hätten.

Wenn sie unter sich gewesen wären, hätte die Mutter ihn getadelt: „Ismail, wir sind alle müde und kaputt. Tu was, Peruze sagt.“ Er würde dann sicher noch ein paar Sätze aus Protest wagen, doch letztendlich würden sie richtig fahren. Jetzt war eine andere Situation. Ihre Mutter sprach plötzlich Deutsch, „wir immer hier abbiegen“, vermutlich weil sie Peruze nicht traute, sie richtig übersetzt zu haben.

Sie hatten das Warnblinklicht angemacht und sich an die Straße gestellt, wo sie von Dolmuschs überholt wurden, in denen Menschen alle paar Meter ein und ausstiegen. Anja war sicherlich mit der Verkehrssituation überfordert, so dass Peruze auf eine tiefere Auseinandersetzung verzichtete und klein beigab. So bogen sie langsam in den Viertel hinein. Der Belag der E5, die Hauptverkehrsader des Landes, gab es hier nicht mehr. Dafür eine Lehmstraße, die Löcher hatte, umsäumt von zweistöckigen Häusern mit Gemüsegärten, die hinter hüfthohen Mauern und mit weißen Ornamenten vergitterten Eisentoren lagen. Kinderscharen rannten hinter dem Bulli und manche von ihnen machte obszöne Handgesten, die Anja zum Glück nicht als solches deuten konnte, weil sie hier anders definiert waren: den Daumen zwischen Zeiger und Mittelfinger schieben und dann eine Faust bilden.

„Wir sind hier falsch“, mahnte sie erneut. Anja fuhr langsamer. Peruze schaute sich die Häuser genauer an, aber es sah alles ganz anders aus, etwas ländlicher und ärmlicher als im Viertel des Onkels. Vor allem das Haus mit dem goldenen Anstrich war nicht da. „Hier müsste es doch stehen, genau an dieser Ecke, das gelbe große Haus des Dolmusch-Lizenzen-Vergabe-Typen, von dem Onkel Hayri erzählte. Daran sollten wir uns orientieren, aber hier steht kein Haus.“

Ihre Mutter Saniye streckte den Kopf nach vorne und schaute an die Ecke, wo dieses besagte pompöse Gebäude leider nicht zu sehen war.

„Sie hat recht, Ismail. Wir sind zu früh abgebogen. Direkt nach der E5, stand das Haus dieses Betrügers.“

Ihr Vater Ismail blickte suchend um sich.

„Sollten wir lieber jemanden fragen?“

„Wonach denn? Nach dem Haus des Angebers?“

Dann wandte sich Saniye zu Peruze. „Du kannst den Weg genau beschreiben? Dann führ Anja dahin.“

Ismail murmelte leise, er hätte schwören können, sicher zu sein. Dann: „wenn ich selbst fahre, ist es anders, da weiß ich den Weg, aber so daneben sitzen, da kann man schon mal durcheinanderkommen.“

Peruze atmete tief ein und erzählte Anja, die ratlos hin und herschaute, dass sie leider zurück auf die E5 müssten.

„Wir fahren erst noch Richtung Maltepe. Da nehmen wir die nächste Kreuzung zur Küste raus. Und da wird auch das gelbe Haus stehen.“

Peruze ärgerte sich für den Umweg, aber sie hatte jedenfalls bewiesen, dass sie recht hatte. Sie fühlte, dass die Familie ohne sie es schwer haben würde. Sogar Oma Aspetana war von Peruze überzeugt, auch wenn sie nicht immer einer Meinung waren. Sie meinte, dass Peruze nur die Kleinigkeit eines Schwanzes fehlte, denn die Eier hätte sie, größer als bei einem Mann.

Und so war es auch. Peruze war sich in der Schule keiner Diskussion zu schade, und interessierte sich für vieles, nur nicht fürs Lesen. Sie teilte mit ihrer Schwester Medea ein Zimmer und sah diese jede freie Minute ihre Nase in Büchern stecken. Und manchmal wurde Peruze neugierig, was darin geschrieben stand. Dann schlug sie ein Buch auf, doch konnten die Wörter sie nicht fesseln. „Wie langweilig“, dachte sie, als sie las, wie über mehrere Seiten hinweg ein Sommertag beschrieben wurde, irgendwo in Amerika an einem Tag im August. Der Autor beschrieb so präzise, dass Peruze diese Langeweile dort spüren konnte, die Hitze und die Trägheit, die den Zustand des zum Tode gelangweilt sein in einen Jugendlichen auslösen konnte, dort im Buch beim Protagonisten, wie auch bei Peruze. Die Jugendlichen im Buch mussten flüchten aus diesem Ort, in eine aufregende Zukunft, und Peruze weg von diesem Buch. Und wenn sie darüber ein Gespräch mit Medea suchte, erzählte ihre Schwester stundenlang von den Figuren, und auch da langweilte sie sich. Sie beschloss darauf, so lange zu warten, bis der Film kommt. Sie las also überhaupt nicht gern, und quälte sich, wenn sie für die Schule einen längeren Text interpretieren sollte. Ihr fiel nichts ein und bat ihre ältere Schwester öfters um Hilfe.

Ihr Interesse galt Informationen. Wenn etwas Neues angeschafft werden sollte, tauschte sie sich ausgiebig mit dem Verkäufer aus, stellte so lange Fragen, bis die Mutter sie genervt wegzog und zum Gehen bewegte. Wenn Handwerker zu Hause waren, war sie schon als kleines Kind dabei und schaute zu, wie die Rohrzange sich aufdrehen ließ und sich um das Rohr biss und festgezogen wurde. Als das große Radio kaputt gegangen war und der Vater es reparieren wollte, war sie dabei gewesen. Und wie schön war das Innenleben. Es war aufgebaut wie eine kleine Stadt und sie schaute auf die kleinen Häuser und Straßen von oben. Dort waren eingezeichnete Wege, kleine und große Silos, winzige Ameisen, die alles miteinander verbanden.

Sie hatte da an Gott gedacht, für den sie kein Bild hatte und ihre gläubigen Eltern jegliche Beschreibung von Gott fürchteten, weil sie verboten war. Sie hatte die Schaltpläne betrachtet, diese kleinen Dinge im Bauch des Radios und fand Gott, zumindest eine Vorstellung von ihm, wie er das alles sehen mochte, von seiner Warte aus. Damals war sie jünger gewesen und hatte ihre Gottes-Entdeckung ihrem Vater erzählt, als hätte sie ein gut behütetes Geheimnis entdeckt. Ismail war ratlos. Erst hatte er sich gefreut, sie habe vielleicht den Fehler gefunden und so könnte das Gerät doch noch repariert werden. Doch als sie den Gott erwähnte, brachte er sie barsch zum Schweigen.

Es wäre Sünde sich Gott vorzustellen, und schon gar nicht so, als wäre er wie ein Mensch, der aus der Vogelperspektive auf die Erde schaute. Er wäre überall, in allen Perspektiven gleichzeitig und sei allmächtig. Er wäre in der Lage, die Fußtapfen einer Ameise zu hören, also würde er mit Leichtigkeit dieses Gespräch mitkriegen und den Beiden Sünde aufbrummen. Dann hatte er gelacht und geflüstert. „Mein Sündenbuch ist schon dick genug, daher muss ich besser aufpassen.“

Sie aber wollte darüber sprechen. Wenn er hörte, müsste er doch ebenfalls die Ameise sehen können. Oder sei er vielleicht wie eine Fledermaus? Da hatte der Vater sie gestoppt, denn das wäre ja eine noch größere Sünde, ihn mit einer Fledermaus zu vergleichen. Und er, Gott, würde ihn, Ismail, doppelt sie viel Sünde aufschreiben, weil er für seine Kinder bis zu Volljährigkeit verantwortlich wäre. So würde er all diese Sünden aufgeschrieben bekommen, weil er seine Tochter nicht fromm erzogen hätte.

Da hatte Peruze geschwiegen, denn sie wollte nicht, dass ihr Vater ihretwegen mehr Sündenpunkte bekam. Aber sie dachte daran, denn Gott konnte womöglich ihre Gedanken nicht lesen, denn sie erzeugten ja kein Geräusch. Und das hatte sie sich seit diesem Tag zur eigen gemacht. Sie betete laut, wenn sie einen göttlichen Beistand brauchte, doch negatives sprach sie nicht aus, nicht mal geflüstert. Sie dachte nur daran und schimpfte, wenn nötig, in Gedanken.