Zu Fuß gehen mochte ich schon immer, insbesondere das Schlendern. Normalerweise gehe ich nur bei schönem Wetter raus, aber das bisschen Regen, dachte ich, und wer weiß, vielleicht ziehen die Wolken auch schon bald vorüber. Nichts ist von Dauer. Und die Unannehmlichkeit, in diesem so herrlich duftenden Frühling nass zu werden, war mehr als erträglich. Ich könnte jederzeit nach Hause gehen, eine warme Dusche nehmen und mir eine Tasse heißen Tee machen, mich einkuscheln auf der Couch. Beim Gehen hatte ich mäandernde Gedanken, denn zu Hause konnte ich nie etwas zu Ende denken, da war die Wäsche, der Staub, die nicht ausgeräumte Spülmaschine, die sich stapelnden Zeitschriften, die ungelesenen Emails. Da konnte ich nie so bei mir sein wie auf einem Spaziergang. Es war Freitag, und ich hatte frei.
Beim Gehen kreisen meine Gedanken um Erlebnisse, die aus den dunklen Tiefen der fast vergessenen Vergangenheit hochkommen, wie an einer Schnur befestigte Fotografien. Sie sind nicht chronologisch, sondern sprunghaft in der Zeit, doch kommen sie nacheinander am inneren Auge vorbei, wo das bewusste Denken sie beleuchtet, Details darin erkennt, die aus heutiger Sicht anders zu deuten wären. Möglicherweise waren sie schon damals ganz anders gedacht, nur dass während des Erlebens ich mittendrin war und lediglich aus einem sehr dünnen Verständnisfundus reagierte.
„Ihre Denkspulen sind runtergefallen und sind durcheinandergeraten. Ach, der Kopf ist schon sehr anfällig, und ihr denkt nur an eure Füße und schützt sie, dass sie nicht nass werden.“
Großmutter saß an ihrem Webstuhl, verknotete dünne Hanffäden an einem Holzbalken und zog sie dann durch einen feinen Kamm. Cicianne, die mit dem goldenen Zahn, war mit ihrer jüngeren Schwester Medeaba in der Stube bei Großmutter und sie halfen ihr, den Webstuhl aufzubauen. Es würde lange dauern, bis sie ihr kleines Schiffchen zwischen den Reihen der marschierenden Fäden hin und her schicken konnte, das ich so sehr liebte, weil dann Großmutter Geschichten erzählte. Manchmal bewarfen sich anwesende Frauen mit Liedern, so eine Art Gesangswettbewerb, in dem sie sich auf gegenseitige Schwächen bezugnehmend und zur Erheiterung der ganzen Runde lustige Liedtexte dichteten. Zwei habe ich versucht zu übersetzen:
Das Kleid, das du anhast
Ist es Seide oder was
Da, du trägst es ständig
Wann wäscht du es eigentlich
Gabs heute Bohnen bei dir
Der Wind roch allzu stark hier
Eine Horde Wespe, Fadime
Steche deine Lügen-Zunge
Im Winter, wenn wir in der Stube blieben, wenn dort sogar der Ofen gefeuert wurde, war die Zeit der Hochzeiten, Erzählungen, Gesänge und des Zankens. Sobald das herbstliche trockene Laub von den Hängen gefegt und in den Ställen als Schlafunterlage der Kühe gepackt war, war die Arbeit eines Jahres erledigt und es kam die gesellschaftliche Zeit. Ab da saßen die Frauen zu Hause und diejenige, die einen Webstuhl hatte, baute ihn auf. Und webte den ganzen Winter über, auch an ihren Erzählungen.
„Die Spulen müssen an ihrem Platz sitzen. Sonst wirst du irre im Kopf, redest dummes Zeug wie Heva.“ Niemand wollte so werden wie Heva, und ich wusste nicht, warum. Denn ich mochte Heva sehr. Sie war die einzige Erwachsene, die sich Zeit nahm und sich tuschelnd mit mir unterhielt, wie es andere Frauen untereinander taten. Sie erzählte mir von einem jungen Mann, den sie begehrte. Ich fragte sie, was sie von ihm wollte. „Heiraten“, antwortete sie, „und dann bekomme ich schlaue Kinder wie dich.“
„Heva war nicht immer Heva. Als kleines Mädchen habe ich sie sehr gescheit und vernünftig erlebt. Beim Allah, dem Mächtigen, Medea, du hast sie zu heftig geschlagen. Da müssen all ihre Spulen runtergefallen sein. Was helfen da die vielen Ärzte, Medea, spar dir jetzt dein Geld. Heva ist Heva, erzählt, was ihr gefällt. Wir kommen mit ihr klar. Aber du Medea, auf dich wartet die Hölle“, schimpfte Cicianne auf ihre hagere Schwester ein.
„Rede nicht! Heva habe nicht anders behandelt als die anderen Acht. Und warum sind bei ihnen die Spulen nicht runtergefallen?“ Medeaba wollte nicht an Hevas Zustand schuld gewesen sein, aber was war denn dieser Zustand? Nur weil sie sich mit mir unterhielt und mich ernst nahm? Waren deswegen ihre Spulen durcheinandergeraten?
„Sagen wir Heva habe ich geschlagen, aber was ist mit der Schwiegertochter von Hosrofun Ahmet? Hatce, kaum ein Jahr verheiratet, schon hat sie Maraz. Hab ich sie vielleicht auch geschlagen?“
Maraz war etwas ganz Schlimmes. Da schrien die Frauen laut, rissen sich die Kleider vom Leibe und rannten weg, so schnell, dass niemand sie einholen konnte. So wurde die Geschichte einer Alten erzählt, die der Maraz befallen hatte.
„Ach, die hatte keine Maraz“, griff Großmutter ein. „Sie hatte nur Sehnsucht nach ihrem Mann. Warum hat man sie auch nur hierbehalten?“
„Jemand muss Nafiyeba doch helfen. Einer nach der anderen haben die Söhne ihre Frauen zu sich nach Istanbul genommen. Und jetzt auch noch Hatce.“
Meine Mutter hatte Hatce als Braut geschmückt. Ich konnte mich an diesem unglücklichen Tag ganz genau erinnern. Sie hatte sich mit anderen Frauen ins Zimmer eingeschlossen und mich wieder nicht reingelassen. So saß ich vor der Tür und lauschte dem Wehklagen des jungen Mädchens, dem Gelächter der anderen Frauen und die Mahnung Mutters: „stell dich nicht so an, du siehst aus wie ein Äffchen. Du gehst zum Fotografen. Du willst doch hübsch aussehen. Er wird aus seinem Kasten kein schönes Foto von dir ziehen können, so behaart wie du im Gesicht bist. Die Haare müssen weg.“ Ja, so sprach sie, der Fotograf zog ein Foto. Das Verb im Türkischen, das fürs Fotografieren gebraucht wird, bedeutet tatsächlich „ziehen“.
Das Mädchen tat mir leid. Das sagte Mutter mir auch, wenn sie mir die Haare kämmte und ich schrie, weil der Kamm tiefe Rillen in meiner Kopfhaut zog. „Stell dich nicht so an, deine Haare sind hohol (zerzaust).“ So weinte ich jeden Morgen, weil meine Haare unbedingt täglich gekämmt werden mussten. Dabei waren wir nur einmal beim Fotografen gewesen.
Mein Onkel aus Karabük wollte von mir und meinem Bruder ein Foto als Andenken haben, denn seine Frau und er waren kinderlos. An jenem Morgen hatte Mutter mich besonders gequält und mir diese verhasste Frisur verpasst: eine Palme mitten auf dem Kopf. Und dann wurde Tipischs Wagen bestellt. Tipisch war Onkel Ismail, der Mann von Tante Rukiye, die sich bei jeder möglichen Gelegenheit über ihn beschwerte, und ihn aber trotz allem liebevoll Tipisch nannte. Erwachsene waren schon merkwürdig. Wir Kinder durften ihn nie so nennen, auch Großmutter und Mutter nannten ihn nur so, wenn sie untereinander waren. Sonst hieß er bei meiner Großmutter Sevkinin Ibrahim, (Sevkis Sohn Ibrahim) und bei Mutter Ibrahim Abi (Bruder Ibrahim), bei mir Ibrahim Amca (Onkel Ibrahim). Ich mochte ihn, weil er uns Bonbons aus der Stadt brachte und mit seinen schwarz polierten Schuhen kleine, tänzelnde Schritte machte. Vermutlich nannte ihn Tante Rukiye deswegen Tipisch, weil er so tipisch tipisch neben ihr lief und sie keine Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten.
Am Fototag herrschte zu Hause große Aufbruchstimmung. Mutter durfte nach dem Frühstück nicht mal den Abwasch machen. „Tipisch kommt gleich, macht euch bereit“, mahnte Großmutter. Und dann kam er mit seinem Auto, hupte, und wir liefen den Weg vom Hof auf die Straße.
Mein Bruder war ganz aufgeregt und fragte mich, wie der Fotograf von uns ein Foto machen würde. In der Hinsicht war er schon schlau, mich und nicht Mutter gefragt zu haben und ich war schon froh, dass Mutter in der ganzen Aufregung uns nicht die gleiche Behandlung wie Hatce zukommen ließ, denn die Arme war danach ganz rot im Gesicht. Vermutlich überließ sie es dem Fotografen. Es war je keine Hochzeit und das Foto war nur für meinen Onkel gedacht.
„Na, ganz einfach“, antwortete ich meinem Bruder, „er wird uns die Haut vom Gesicht abziehen und auf ein Stück Papier kleben“. „WAAAS?“, schrie er und fing an zu weinen. Der Arme, er kannte keinen Schmerz, denn er wurde am Kopf, wie alle anderen Jungs im Dorf, kahlgeschoren, und niemals hatte Mutter ihn mit dem Kamm traktiert, oder wie bei Hatce, mit was auch immer.
Er weigerte sich laut weinend ins Auto einzusteigen und wollte nicht zum Fotografen. Der Wagen hupte, Onkel Tipisch drängte, Mutter schnappte sich meinen zappelnden Bruder und stopfte ihn hinein. Doch er hörte nicht auf zu weinen. Onkel Tipisch gab ihm Bonbons. Solange er aß, war er still, sobald das Bonbon aufgelutscht war, fing er wieder an zu weinen. Bis wir beim Fotografen waren, hatte er eine Tüte Bonbons aufgegessen und weinte trotzdem. Im Studio wollten alle Erwachsene, inklusive dem Fotografen ihn trösten, doch er weinte weiter. Dann gaben sie alle genervt auf, er sollte eben auf seinem ersten Foto weinen. Sie setzten uns auf einen Hocker, ich umarmte ihn, denn er tat mir leid, aber ich mir auch. Wir waren ganz allein in einer Ecke des großen Raumes, die Erwachsenen, inklusive Mutter entfernten sich von uns, und begaben sich auf die andere Seite, wo sich der Fotograf unter dem dunklen Tuch hinter einem schwarzen Kasten versteckte. Da wurde es sogar mir mulmig. Ich kannte zwar Schmerz, und das mit der Haut hatte ich auch nur erfunden, das war also gelogen, doch da mein Bruder die ganze Zeit beharrlich geweint hatte, war ich mir nicht mehr sicher, ob meine Behauptung doch nicht richtig war. Weil sich sogar die Erwachsenen in Sicherheit brachten. Und so wurde unser erstes Foto überhaupt nicht hübsch, was Mutter sehr ärgerte: Mein Bruder mit offen weinendem Mund und entsetzt schauenden Augen, ich mit eingesogenen Lippen und skeptisch-ängstlichem Blick, von der eigenen Lüge erwischt und bestraft.