Die Küstenstraße ab Trabzon kannte ich sehr gut. Früher, in meiner Kindheit, bin ich sie sehr viel gefahren. Sie ist kurvenreich und schmiegt sich eng an die steile Küste an. Hinter dem Flughafen von Trabzon kamen all die Erinnerungen mit meinem verstorbenen Vater hoch, wie er mich von dort abholte und sein Fiat Doblo die linke Spur der neuen Autobahn nie verließ, als habe er die ganze Zeit darauf gewartet, eine Straße zu haben, worauf er eben schnell fahren konnte, sofern man beim Doblo von schnell überhaupt sprechen kann. Mein Vater fuhr gerne schnell, und immer, wenn er die Gelegenheit dazu hatte, drückte er aufs Gaspedal. Meine Mutter schimpfte dann vom Rücksitz, er solle sich schämen, wie ein hormongesteuerter Jüngling zu fahren; er möge sich bitte seiner schlohweißen Haare besinnen und auf die rechte Fahrbahn wechseln, wo alle „Rechtschaffenden“ fuhren. Es ging alles gut. Er fuhr unfallfrei, sein Leben lang. Nur wurde er oft von der Polizei angehalten und musste zur Freude meiner Mutter hohe Strafen zahlen. Und die beiläufigen Bemerkungen der Polizeibeamten ertragen, wobei mein Vater sich wegen so etwas nie geärgert hatte. Er lachte mit dem jungen Beamten, als dieser ihn fragte, ob er Opa sich nicht schäme, zu rasen. „Ich kann das“, antwortete er ihm darauf, „ich kann mir das leisten.“ Neben ihm auf dem Beifahrersitz hatte ich nie Angst. Sein Doblo flog über die Mittellinie, wenn mein Vater die Kurve nach rechts nahm und meine Mutter hinten laute Gebete gen Himmel sandte, als hätte ihr letztes Stündlein geschlagen. Oft denke ich, ist er gerade auch deswegen so schnell gefahren, um sie zu ärgern. Er hatte einen feinen Humor, und ich lachte mit.
Und wie auch etliche Male mit meinem Vater, hielten wir in Vakfıkebir an, um das berühmte Brot zu kaufen. Traditionen werden weitergelebt, und ich kann mit Recht behaupten, dass 90% der Privatreisenden in diesem kleinen Örtchen anhalten, um Brot zu kaufen. Dazu muss man die Schnellstraße nicht mal verlassen, denn sie führt mitten durch den Ort. An ihren Säumen rechts gegenüber dem Meer gibt es die Bäckereien, die überall in der Türkei ähnlich aussehen: ein Verkaufsraum mit einer sehr großen Vitrine voller riesiger Brotlaibe. Die Brote hier werden allerdings nicht mit Hefe, sondern mit Sauerteig hergestellt. Ein Weizenbrot mit dicker Kruste und Sauerteig. In der Tat lohnte sich der kleine Aufenthalt. Mein Schwager ging mit meiner Schwester hinein. Ich blieb mit den Kindern im Auto, weil wir nur Brot kaufen wollten, also eine schnelle Angelegenheit. Doch dann kam meine Schwester mit einem Glas Tee auf der einen Hand und geschnittene Brotscheiben in der anderen zu uns. Der Bäcker meinte, er ließe niemanden ohne Verkostung gehen. Und als sie den Einwand machte, sie hätte keine Zeit, weil wir im Auto warten würden, schickte er sie mit Tee und Brot eben zu uns.
Und dann sah ich meinen Schwager durch das Fenster, wie er dastand, Tee trank und sich mit dem Bäcker unterhielt. Später, als wir alles erledigt hatten und weiterfuhren, gab er uns den Inhalt des Gespräches wieder. Der Becker hatte gefragt, woher man käme, wohin man ginge, woher denn die Eltern stammten, weil Murat Istanbul als seinen Geburtsort genannt hatte. Aber die meisten kamen aus anderen Teilen der Türkei nach Istanbul; die wenigsten sind echte Istanbuler seit Generationen. Und so verläuft eine typische Unterhaltung, wenn sich zwei Fremde sich begegnen, ganz nach dem Thema der Abstammung. Die Frage dient nicht zur Differenzierung, wie man vielleicht annehmen könnte. Es ist der Beginn der Suche nach Gemeinsamkeiten, eines gemeinsamen Themas, was beide interessieren könnte, oder worüber beide etwas zu sagen hätten. So betrifft die Frage, woher man kommt, also die nach der Abstammung, der Region, der Stadt nicht nur den Gefragten, sondern ebenso den Fragenden. Denn dieser beantwortet seine gestellten Fragen ebenfalls. Je näher diese Regionen oder Orte sind, desto näher fühlen sich die Fremden und die Unterhaltung vertieft sich auf die Sehnsüchte oder Besonderheiten dieser Gegend. Wenn Fremde die gegenseitige Herkunft nicht kennen oder wenn es auf beiden Seiten Vorurteile gibt, dann bleibt das Gespräch auf der Ebene der höflichen, gegenseitigen Belobigungen, die aber nicht sehr tief gehen und sich oft auf das Thema Essen beschränken. Nun auch hier, als mein Schwager erzählte, dass sein Vater aus Bitlis stammte, eine Provinz aus der Kurdenregion da habe der Bäcker gefragt, was er denn in Rize wollte, halb aus Spaß, halb aus echter Neugierde, denn diesen Begegnungen liegt die Neugierde zu Grunde. Mein Schwager musste im weiteren Verlauf des Gespräches nun detailliert etwas von seiner Frau wiedergeben, die zwar ebenso in Istanbul lebte, aber aus Rize stammte, und er musste von mir erzählen, von den Kindern und von unserer gemeinsamen Reise nach Rize. Und da muss sich der Bäcker seiner Vorurteile gegenüber Bitlis bewusst geworden sein, da habe er erzählt, dass er mal Honig gegessen hätte, aus Bitlis, den besten, den er kannte. Meinem Schwager war nicht bewusst, dass es überhaupt Honig aus Bitlis gab. Nach unserer Rückkehr nach Istanbul hat er tatsächlich nach dem Honig gesucht und ihn auch gekauft. Sehr lecker.
Unsere Reise wurde mit dieser Wiedergabe der Begegnung beim Bäcker weitergeführt. Es ist üblich in der türkischen Kultur, dass gerne und viel erzählt wird und oft in Wiederholungen, zum einen das Heraufbeschwören des guten Gefühls dieser Momente, zum anderen oft bei gemeinsam Erlebtem, sodass jeder ein Detail dazu gibt und somit der Moment in seiner Aufnahme merklich mehr Infos beinhaltet. Dabei gibt es nichts, was ausgelassen wird, nichts ist bedeutungslos, alles wiedergebbar, alles. So war auch dieser kleine Aufenthalt wahrlich länger als gedacht und erhofft. Aber, sollte eine Reise auch nicht immer eine Begegnung mit Menschen sein? In Erinnerungen bleiben doch diese Gespräche. Und hier und da kommen sie hoch, wie Blasen im Hefeteig (oder im Sauerteig, denn auch er wirft Blasen). Man redet dann von Menschen und ihren Geschichten. Unsere Reise kam langsam zu der Etappe, wo wir eine Weile, genauer gesagt eine Woche, verweilen würden. Und kurz vor Of, einem kleinen Städtchen an der Provinzgrenze von Rize, also als wir das Ortseingangsschild sahen, musste ich den berühmten Satz meiner Mutter wiederholen, den sie immer an dieser Stelle sagte, als sie, Vater am Steuer, mich vom Flughafen abholten und wir zum Dorf nach Hause fuhren. Da hörten wir meine Mutter auf dem Rücksitz die „Klage des Geistlichen aus Of“ wiederholen.
Der Legende nach rief der Imam von Of aus den Minaretten seinen Wunsch nach Nudeln. In früheren Zeiten, auch noch in meiner Kindheit, haben die Imame ihre Mahlzeiten von der Gemeinde bekommen – das Frühstück ausgenommen, war das Mittag- und Abendessen aufgeteilt, so dass jeder Haushalt abwechselnd einen Tag den Dorfgeistlichen mit Essen versorgte. Es war vermutlich im Herbst, wo es oft Kürbis gab, sodass der Imam jeden Tag ihn zu essen bekam und sich nach Nudeln sehnte und dann den Gläubigen nach dem Aufruf zum Gebet direkt sein Leid klagte. „Oh du herzloser aus Of und dein Weib mit verschissenem Hintern, wie könnt ihr an vierzig Tagen 40 Kürbisse mich essen lassen? Nudeln, Nudeln, verlangt mein Herz!“ Diese kleine Anekdote kennt jeder und führt es als Beweis für den Geiz der Bewohner von Of.
Diese hatte ich eben all die Jahre gehört, als mich meine Eltern gemeinsam vom Flughafen abgeholt hatten. Und als ich das im Auto erwähnte, konnte mir meine Schwester vergewissern, dass sie diese Anekdote ebenfalls kannte, erzählt von meiner Mutter genau an jener Stelle, wo das Ortseingangsschild sichtbar wurde.