Pupuze Berber

Kapitel 5 aus einem Manuskript

Peruze widersprach aber ihr Vater war der Meinung, zum Haus des Onkels wären sie auf dem richtigen Weg. Dabei war es eine Ausfahrt später gewesen, die sie hätten nehmen sollen. Es war bereits Abend. Sie wollte endlich in einem richtigen Bett schlafen, auf einer geraden Unterlage, die Beine ausstrecken und sich lang machen. Sie waren schon seit zwei Tagen unterwegs, und ausgerechnet so kurz vor dem Ziel musste sich der Vater durchsetzen. Dabei hatte er keinen Orientierungssinn. Nur weil Anja am Steuer saß, wollte er recht haben, das Gesicht bewahren, das war die Hauptsache. Sogar ihre Mutter Saniye, die sich sonst über ihn lustig machte, wo sie nur konnte, er könne keine Straße wiederfinden, bevor er nicht mindestens zehn Mal dort gewesen war; sogar sie sagte jetzt, weil eben Anja dabei war, der Vater hätte Recht, diese wäre die Ausfahrt, die sie zu nehmen hätten.

Wenn sie unter sich gewesen wären, hätte die Mutter ihn getadelt: „Ismail, wir sind alle müde und kaputt. Tu was, Peruze sagt.“ Er würde dann sicher noch ein paar Sätze aus Protest wagen, doch letztendlich würden sie richtig fahren. Jetzt war eine andere Situation. Ihre Mutter sprach plötzlich Deutsch, „wir immer hier abbiegen“, vermutlich weil sie Peruze nicht traute, sie richtig übersetzt zu haben.

Sie hatten das Warnblinklicht angemacht und sich an die Straße gestellt, wo sie von Dolmuschs überholt wurden, in denen Menschen alle paar Meter ein und ausstiegen. Anja war sicherlich mit der Verkehrssituation überfordert, so dass Peruze auf eine tiefere Auseinandersetzung verzichtete und klein beigab. So bogen sie langsam in den Viertel hinein. Der Belag der E5, die Hauptverkehrsader des Landes, gab es hier nicht mehr. Dafür eine Lehmstraße, die Löcher hatte, umsäumt von zweistöckigen Häusern mit Gemüsegärten, die hinter hüfthohen Mauern und mit weißen Ornamenten vergitterten Eisentoren lagen. Kinderscharen rannten hinter dem Bulli und manche von ihnen machte obszöne Handgesten, die Anja zum Glück nicht als solches deuten konnte, weil sie hier anders definiert waren: den Daumen zwischen Zeiger und Mittelfinger schieben und dann eine Faust bilden.

„Wir sind hier falsch“, mahnte sie erneut. Anja fuhr langsamer. Peruze schaute sich die Häuser genauer an, aber es sah alles ganz anders aus, etwas ländlicher und ärmlicher als im Viertel des Onkels. Vor allem das Haus mit dem goldenen Anstrich war nicht da. „Hier müsste es doch stehen, genau an dieser Ecke, das gelbe große Haus des Dolmusch-Lizenzen-Vergabe-Typen, von dem Onkel Hayri erzählte. Daran sollten wir uns orientieren, aber hier steht kein Haus.“

Ihre Mutter Saniye streckte den Kopf nach vorne und schaute an die Ecke, wo dieses besagte pompöse Gebäude leider nicht zu sehen war.

„Sie hat recht, Ismail. Wir sind zu früh abgebogen. Direkt nach der E5, stand das Haus dieses Betrügers.“

Ihr Vater Ismail blickte suchend um sich.

„Sollten wir lieber jemanden fragen?“

„Wonach denn? Nach dem Haus des Angebers?“

Dann wandte sich Saniye zu Peruze. „Du kannst den Weg genau beschreiben? Dann führ Anja dahin.“

Ismail murmelte leise, er hätte schwören können, sicher zu sein. Dann: „wenn ich selbst fahre, ist es anders, da weiß ich den Weg, aber so daneben sitzen, da kann man schon mal durcheinanderkommen.“

Peruze atmete tief ein und erzählte Anja, die ratlos hin und herschaute, dass sie leider zurück auf die E5 müssten.

„Wir fahren erst noch Richtung Maltepe. Da nehmen wir die nächste Kreuzung zur Küste raus. Und da wird auch das gelbe Haus stehen.“

Peruze ärgerte sich für den Umweg, aber sie hatte jedenfalls bewiesen, dass sie recht hatte. Sie fühlte, dass die Familie ohne sie es schwer haben würde. Sogar Oma Aspetana war von Peruze überzeugt, auch wenn sie nicht immer einer Meinung waren. Sie meinte, dass Peruze nur die Kleinigkeit eines Schwanzes fehlte, denn die Eier hätte sie, größer als bei einem Mann.

Und so war es auch. Peruze war sich in der Schule keiner Diskussion zu schade, und interessierte sich für vieles, nur nicht fürs Lesen. Sie teilte mit ihrer Schwester Medea ein Zimmer und sah diese jede freie Minute ihre Nase in Büchern stecken. Und manchmal wurde Peruze neugierig, was darin geschrieben stand. Dann schlug sie ein Buch auf, doch konnten die Wörter sie nicht fesseln. „Wie langweilig“, dachte sie, als sie las, wie über mehrere Seiten hinweg ein Sommertag beschrieben wurde, irgendwo in Amerika an einem Tag im August. Der Autor beschrieb so präzise, dass Peruze diese Langeweile dort spüren konnte, die Hitze und die Trägheit, die den Zustand des zum Tode gelangweilt sein in einen Jugendlichen auslösen konnte, dort im Buch beim Protagonisten, wie auch bei Peruze. Die Jugendlichen im Buch mussten flüchten aus diesem Ort, in eine aufregende Zukunft, und Peruze weg von diesem Buch. Und wenn sie darüber ein Gespräch mit Medea suchte, erzählte ihre Schwester stundenlang von den Figuren, und auch da langweilte sie sich. Sie beschloss darauf, so lange zu warten, bis der Film kommt. Sie las also überhaupt nicht gern, und quälte sich, wenn sie für die Schule einen längeren Text interpretieren sollte. Ihr fiel nichts ein und bat ihre ältere Schwester öfters um Hilfe.

Ihr Interesse galt Informationen. Wenn etwas Neues angeschafft werden sollte, tauschte sie sich ausgiebig mit dem Verkäufer aus, stellte so lange Fragen, bis die Mutter sie genervt wegzog und zum Gehen bewegte. Wenn Handwerker zu Hause waren, war sie schon als kleines Kind dabei und schaute zu, wie die Rohrzange sich aufdrehen ließ und sich um das Rohr biss und festgezogen wurde. Als das große Radio kaputt gegangen war und der Vater es reparieren wollte, war sie dabei gewesen. Und wie schön war das Innenleben. Es war aufgebaut wie eine kleine Stadt und sie schaute auf die kleinen Häuser und Straßen von oben. Dort waren eingezeichnete Wege, kleine und große Silos, winzige Ameisen, die alles miteinander verbanden.

Sie hatte da an Gott gedacht, für den sie kein Bild hatte und ihre gläubigen Eltern jegliche Beschreibung von Gott fürchteten, weil sie verboten war. Sie hatte die Schaltpläne betrachtet, diese kleinen Dinge im Bauch des Radios und fand Gott, zumindest eine Vorstellung von ihm, wie er das alles sehen mochte, von seiner Warte aus. Damals war sie jünger gewesen und hatte ihre Gottes-Entdeckung ihrem Vater erzählt, als hätte sie ein gut behütetes Geheimnis entdeckt. Ismail war ratlos. Erst hatte er sich gefreut, sie habe vielleicht den Fehler gefunden und so könnte das Gerät doch noch repariert werden. Doch als sie den Gott erwähnte, brachte er sie barsch zum Schweigen.

Es wäre Sünde sich Gott vorzustellen, und schon gar nicht so, als wäre er wie ein Mensch, der aus der Vogelperspektive auf die Erde schaute. Er wäre überall, in allen Perspektiven gleichzeitig und sei allmächtig. Er wäre in der Lage, die Fußtapfen einer Ameise zu hören, also würde er mit Leichtigkeit dieses Gespräch mitkriegen und den Beiden Sünde aufbrummen. Dann hatte er gelacht und geflüstert. „Mein Sündenbuch ist schon dick genug, daher muss ich besser aufpassen.“

Sie aber wollte darüber sprechen. Wenn er hörte, müsste er doch ebenfalls die Ameise sehen können. Oder sei er vielleicht wie eine Fledermaus? Da hatte der Vater sie gestoppt, denn das wäre ja eine noch größere Sünde, ihn mit einer Fledermaus zu vergleichen. Und er, Gott, würde ihn, Ismail, doppelt sie viel Sünde aufschreiben, weil er für seine Kinder bis zu Volljährigkeit verantwortlich wäre. So würde er all diese Sünden aufgeschrieben bekommen, weil er seine Tochter nicht fromm erzogen hätte.

Da hatte Peruze geschwiegen, denn sie wollte nicht, dass ihr Vater ihretwegen mehr Sündenpunkte bekam. Aber sie dachte daran, denn Gott konnte womöglich ihre Gedanken nicht lesen, denn sie erzeugten ja kein Geräusch. Und das hatte sie sich seit diesem Tag zur eigen gemacht. Sie betete laut, wenn sie einen göttlichen Beistand brauchte, doch negatives sprach sie nicht aus, nicht mal geflüstert. Sie dachte nur daran und schimpfte, wenn nötig, in Gedanken.

Eine Kindheit im Pontus (Teil 1: Der Regenwurm)

Es fällt mir schwer, nach so einer langen Zeit zu rekonstruieren, warum ich ausgerechnet an diesem Tag einen Witz brauchte, und wie ich auf die Idee kam, einen zu erfinden. Ich und ein Witz, das ist an sich schon witzig. Ich kann nicht mal welche erzählen. Möglicherweise ist dieses Achtsamkeitsbuch schuld. Achtsam sein. Nicht die Gedanken einfach so frei laufen lassen, wie meine Großmutter ihre Kühe aus dem Stall, sondern ihnen bewusst auflauern und nachspüren, wohin sie gehen. Das tat ich dann. Ich ließ meine Gedanken grasen in dem verregneten Grün, aber das machte den Kühen gar nichts aus. Sie waren verrückt, sprangen vor Freude in die Luft, muhten laut, verdrehten ihre Augen, warfen den Kopf hin und her, konnten sich nicht satt sehen und riechen, nach der feuchten Luft und den vielen Trieben, die kurz davor waren, hochzuschießen. Der Frühling war da! Was so ein Winter aus uns macht?

Dann sah ich die erste Verkaufsbude, die Läden zwar noch geschlossen, aber das würde sich bald ändern. Endlich. Der Spargel und die Erdbeeren. „Wo bleibt der Witz?“, schoss es mir durch den Kopf. Ich pfiff und zog meinen Gedanken zurück von der Bude und hin zu Herrn Becker. Es würde nicht so schwer sein, auf Herrn Beckers Kosten Witze zu machen, denn er hatte die Wahl verloren. Seine vielen Plakate lagen geknickt auf dem Boden. Vermutlich hatten sich Jugendliche einen Spaß erlaubt, neben dem Auftragen des kurzen Bärtchens auf Kandidatenoberlippen. Ich wollte mir den Spaziergang ein wenig spaßiger gestalten, wenn ich schon trotz Regenschirm nass wurde. Also machte ich ein paar Anläufe, um einen Witz zu kreieren.

Herr Becker hat die Wahl verloren. Die Wahl hat nichts verloren.

Herr Becker hat die Wahl verloren. Er hatte keine Wahl zu gewinnen.

Herr Becker hat die Wahl verloren. Die Wahl hat gewonnen.

Herr Becker hat die Wahl nicht vermehren können, weil er nicht wusste wie. Die Wahl ist gestorben.

Herr Becker hat die Wahl verloren und nicht wiedergefunden. Er könnte nicht mal einen Regenwurm finden.

Meine Witze waren zum Schreien schlecht.  Und der Regen war inzwischen so stark, dass ich Mühe hatte, voranzukommen, ohne auf die vielen Regenwürmer zu treten. Ich lief achtsamer. Es war interessant, zu beobachten, wie sie sich fortbewegten. Der vordere Teil raffte sich ineinander, woraus dann der Kopf nach vorne schoss und den hinteren Teil nach sich zog. Ich kniete nieder, holte mein Handy aus der Tasche und schoss mit Mühe ein Foto. Und dann machte ich noch ein Video, um genau diese Bewegung festzuhalten. Im Innern des Wurms sah ich weiße kleine Kügelchen, und ich könnte behaupten, er habe Styropor gefrühstückt, aber weder wusste ich, ob Regenwürmer frühstücken, noch wovon sie sich ernährten. Fraßen sie sich nicht durch die Erde hindurch, um sich fortzubewegen, und behielten das Nahrhafte nicht bei sich? Ich setzte meinen Weg fort.

Wie vermehrten sich Regenwürmer? Legten sie Eier? Hatten Sie ein Geschlecht? Ich stellte mir diese Fragen, und kannte die Antworten tatsächlich nicht. Was wusste ich über Regenwürmer? Nichts. Oder doch? Hatte ich nicht wegen Regenwürmern jahrelang Panik, beim Regen einzuschlafen?

„Das ist eine wahre Geschichte. Eine Frau hat sie mir im Krankenhaus unter Tränen erzählt“, hatte Mutter mit ihrer Erzählung begonnen. Ich war fünf Jahre alt.

„In einem Dorf…“, fuhr sie fort. Sie hatte nicht erwähnt, wie dieses Dorf hieß oder wo es war, es könnte auch unseres gewesen sein, denn damals hatte ich noch keine Vorstellung von der Größe der Welt. Ich kannte nur unser Dorf und die kleine Stadt, in der ich zweimal beim Arzt und einmal beim Fotografen gewesen war. Und weil mir diese Geschichte so eine entsetzliche Furcht eingejagt hatte, verortete ich den Vorfall sehr weit weg von uns. So waren ich und alle anderen Kinder geschützt, dachte ich.

„…lebte eine Stiefmutter. Sie hatte zwei Stiefkinder, die sie loswerden wollte, und zwar so unauffällig und natürlich wie möglich. Denn, die Kinder hatten einen Vater, Oma, Opa, Tanten, Onkeln, also ein Dorf, das sie beschützte. Die Frau sammelte Regenwürmer, wenn es regnete.“ Leider regnete es bei uns sehr oft.

„Nachts, wenn die Kinder schliefen, schlich sie sich zu ihren kleinen Köpfen und setzte die Regenwürmer in deren Nasenlöcher. Die Würmer fraßen sich durch den Rotz bis zum Gehirn durch. Und auch dort fraßen sie weiter und nisteten sich ein.“ Das Gehirn war ihre Erde geworden, nie regnete es, nie mussten sie raus, wie ich heute.

Wegen diesem Ereignis – denn bald wussten alle im Ort darüber Bescheid und erzählten es in diversen Varianten, fügten weitere grausame Details hinzu, machten aus zwei Kindern drei, vier, oder fünf, manch einem reichte das nicht aus, und auch die Großeltern der Kinder mussten daran glauben, bei manchen sogar das frisch gekalbte Rind inklusive aller eierlegenden Hühner und so weiter – hatte ich aus kindlicher Neugier einen Regenwurm zerteilt. Anstatt zu verbluten, wie mein Kälbchen beim Schlachten, bewegte sich jede der Hälften in unterschiedliche Richtungen.

Die Regenwürmer würden sich also im Kopf der Kinder in Ringe teilen wie Salamischeiben. Und aus jeder Scheibe würde ein eigenständiger Wurm heranwachsen und anfangen, sich im Gehirn durchzufressen. Und auch diese Würmer würden sich teilen und vermehren und…

„Sie fraßen, und fraßen, bis sie nichts mehr hatten. Als der Raum im Schädel leer war, waren die Würmer vor Hunger verzweifelt und fielen übereinander her. Und weil sie so viele geworden waren, krochen sie aus Nase, Ohren und Augen der Kinder wieder heraus. Die Unglücklichen waren da schon längst tot, Gott hatte ein Erbarmen. Die Verwandten beweinten sie und vermuteten, die unaussprechliche Krankheit habe sie in kurzer Zeit dahingerafft. Die kleinen Körper wurden unter Tränen gewaschen, in weiße Tücher gewickelt, und, geschnürt wie kleine Bonbons, der nassen Erde übergeben.“

Mutter hatte die Geschichte nicht so erzählt, ich übertreibe wieder, wie immer. Sie hatte in ihrer Version nichts ausgeschmückt, nichts erklärt, und hörte da auf, als die Stiefmutter den Kindern die Regenwürmer in die Nase legte und diese daraufhin starben. Sie wusste nicht mal, dass ich lauschte, während sie mit den anderen Frauen am Feuer saß und erzählte. Sie wusste nichts über den Kopierungsvorgang der Regenwürmer durch Sprengung der Körperringe, das hatte ich mir ausgedacht und mich dadurch schlimmsten Ängsten ausgesetzt. Ab da schlief ich bei Regen nicht ein. Denn, da kamen sie aus der Erde.

Und Mutter… ich nannte sie Mutter, aber…War sie meine Mutter? Da war ich mitten in der Nacht hochgeschnellt und saß nun kerzengerade im Bett. Meine Körperhaare hatten sich aufgestellt wie die Stacheln eines Igels, kalte Schauer rannen mir den Rücken hinunter wie Regenfäden am Fenster. Sie war definitiv nicht meine Mutter, und sie würde mich umbringen! Mit Regenwürmern!

Heute weiß ich, auch dank des Achtsamkeitszwangs, warum ich an Mutter gezweifelt hatte. Das Chaos meiner Kindheitstage konnte ich glücklicherweise entwirren, und die Ereignisse in chronologischer Reihenfolge hatten mir vieles erklärt. Denn die „Wahrheit“ hatte ich erfahren, als ich etwas jünger gewesen war, das lag ein halbes Jahr zurück, und daran hatte ich mich in dieser Nacht erinnert.

Wie alles andere, war auch das meiner Neugierde geschuldet. Meine Großmutter und ich waren mit den Kühen unterwegs gewesen, ließen sie grasen. Sie hatte ihr Strickzeug dabei, ließ die Wolle von einem Stoffbeutel über ihren Nacken zu ihrem linken Zeigefinger gleiten und strickte, hinter dem Vieh herschlendernd, Wollsocken für den Winter. Ich inspizierte rote Käfer, machte mit den Zähnen verschiedene Muster in große Bohnenblätter, suchte nach Heidelbeeren, bis ich die Unterhaltung von zwei Frauen hörte, die auf dem Weg zur Mühle waren.

Die jüngere sagte: „Sie kommt aus Aron, was willst du machen.“

Die ältere schnalzte drei Mal mit der Zunge, drehte dabei ihren Kopf von rechts nach links und antwortete: „Dabei sage ich immer; wenn dein Rock eine aus Aron berührt, zieh ihn aus und verbrenne ihn.“ Erst hatte mich diese Unterhaltung nicht weiter beschäftigt, meine Umgebung, Großmutter und die Kühe boten viel Abwechslung. Doch zu Hause, als wir bettfertig gemacht wurden, fragte ich Mutter, woher ich kam.

Vermutlich schickte es sich nicht, mir die Wahrheit zu sagen, nämlich dass ich die Frucht ihres Geschlechtsverkehrs mit meinem Vater sei. Stattdessen antwortete sie:

„Dich habe ich in Kestanlik gefunden.“ Ausgerechnet Kestanlik. Das ist noch heute ein dunkler steiler Abhang mit Esskastanien, daher kommt der Name, von der Kastanie. Natürlich wollte ich auch wissen, wo sie meinen jüngeren Bruder fand.

„In Düz“.

Das traf mich hart. Düz ist vielleicht der schönste und geradeste Platz auf unserem bergigen Dorf, wo wir Ball spielen konnten, ohne ständig den den Hang heruntergerollten Ball suchen gehen zu müssen, was sehr anstrengend war und wir mehr unterwegs waren als beim Spielen. Er ist aus Düz und ich aus Kestanlik. Mein Bruder und ich stammten also nicht aus demselben Ort. Sind wir denn überhaupt noch Geschwister? Ist er mein Bruder? Ist sie dann meine Mutter? Die Sonne schien im Hof und sie knetete in der Zinkwanne die Schmutzwäsche mit ihren Händen wie Brotteig. Ab und an stiegen Seifenblasen über ihren Kopf. Mein Bruder hatte seinen Spaß und wollte sie fangen, doch sie zerplatzen, sobald er sie berührte. Er schrie vor Freude und jauchzte über die zerplatzten Laugenblasen, immer und immer wieder, bis er hinfiel und seine Nase blutete, Mutter ihre Hände an ihrem Rock abtrocknete und sich um ihn kümmerte. Dieser Trottel, da war ich fast froh, mit dem nicht verwandt zu sein. Aber dann war ich ganz allein.

Das verdichtete Leben des Ex-Smutjes M.

Die Begegnung mit einer jungen Frau in der Irrenanstalt, in die Ex-Smutje M. seinen Bruder O. zwecks Elektroschocktherapie – der Bruder litt an Schizophrenie – begleitete:

„Ach, ich bedarf

Onkelchen

Nur ein Ohr und ein Herz

Vater tot

Mutter krank

Schwester krebs

Bruder arm“

Tränen (bei ihr)

Tränen (bei ihm)

„Onkelchen

Das Leben ist kurz“

Gelächter und Bauchtanz (bei ihr)

weises Kopfnicken (bei ihm)

Ich

Als wir uns dort gebaren
Sagte ich, ich zu dir
Und du, du
Während ich dich suchte
Hast du mich eingesperrt
In mein Leben ohne dich

Als wir dort saßen
Sagte ich, ich bin zu dir
Und du, ich bin
Während ich auf dich wartete
Hast du Sprossen getrieben
In meiner wurzellosen Wirklichkeit

Als wir dort lagen
Sagte ich, mein zu dir
Und du, mein
Während ich dich liebte
Hast du Flügel ausgebreitet
In meinen himmellosen Nächten

Als wir dort warteten
Sagte ich, von dir zu dir
Und du, von mir
Während ich dich vermisste
Gab es dich
In meinen nichtgesprochenen Sprachen

Als wir dort spazierten
Sagte ich, ohne Dich zu dir
Und du, ohne mich
Während ich weglief
Hast Du mich getrunken
Von den frostigen Morgennebeln

Als wir dort schwammen
Sagte ich, mit Dir zu dir
Und du, mit mir
Während ich zum Grund sank
Warst Du eine Welle
In meinen ozeansalzigen Augen

Als wir dort schrieben
Sagte ich, Dich zu dir
Und du, mich
Während ich dich erzählte
Hast du mich durchgestrichen
In meinen geschriebenen Sätzen

Als wir dort starben
Sagtest du, ich zu mir
Und ich, du
Während ich dich vergaß
Hast du mich erinnert
Aus geschmolzenem Grau des Nichts

Die Dreiecksgeschichte

Gestern dachte ich an Acitana, aber sie hat damit nichts zu tun. Sie hat mich nur in diese Stimmung versetzt, dass mir kurz vor dem Schlaf die Dreiecksgeschichte in den Sinn kam. Sie glitt geschmeidig über drei Ecken. Ich war zu faul um aufzustehen und sie aufzuschreiben. Jetzt sind mir weder die Ecken bekannt noch die Geschichte an sich. 

Gogol, ja, der kam darin vor. Die toten Seelen trage ich seit meinem zehnten Lebensjahr im Gedächtnis. Wo aber, ist Iris Murdoch geblieben? Nichts da. Dabei hatte sie mich in den Zwanzigern begleitet. Balzacs Lilie im Tal hängt noch, wenn auch sehr schwach. Und diese Zeichnung! Die hatte ich später im Kunstunterricht umgesetzt: Eine indische Weltanschauung, wo drei Elefanten auf einer Schildkröte stehen. Ich hatte für die Schildkröte Reis genommen, und die Elefanten waren Kartoffeln. Der Kunstlehrer ständig, „nicht wahr“, „nicht wahr“, ein selten duschender 68iger. 

Ich hatte schon die zwei Sprachen: eine, die ich nicht mochte; die andere, die ich nicht beherrschte. Bei der Schreckschraube mit rotem Haartoupet gab es immer Punktabzug bei Rechtschreibfehlern. Gott sei Dank, Bratvogel kam und pfiff auf diese Regel. Er gab mir meine Eins. (Aber, diese Sprache, sie jagt mir immer noch Angst ein.) Kunst mochte ich. Kunst hat eine eigene Sprache, da gibt es keine Fehler, „nicht wahr“. So könnte ich heute irgendwo sitzen, Beine an mich gezogen, mit einer Tasse Kräutertee, leere Worte schwingend, „nicht wahr“, Reiskörner als Schildröte, die große Interpretation eines Weltbildes. 

Es kam anders. Ein Jahr später bürstete ich im Krankenhaus die Toiletten und lachte im fensterlosen Pausenraum der Putzkolonne über feuchte Männerunterhosen, die manch einer Frau geschwängert hatten. Nicht wahr…

Aus der Serie, ein Leben in Geschichten

Verdichtete Tagebücher

Vermutlich hat mich früher mein Sinn für Schönheit davon abgehalten, in die Literaturszene einzutauchen. Ich hatte sie Jahr für Jahr beim Event von Feinschmecker auf der Frankfurter Buchmesse erlebt. Wir waren eine geteilte Gesellschaft. Auf der einen Seite wir, die Gäste aus Werbung, auf der anderen Seite das Literaturbetrieb. Ich fand, dass wir besser angezogen waren, zumindest en vogue, was die Mode betraf. Freundin H, mit der ich hinging, sowieso. Sie hatte Labels direkt aus Paris, Alaïa und so. Ich war eher der Westwood Typ, und weil ich sie mir nicht leisten konnte, trug ich die selbstgeschneiderten Kleider aus Burda Moden ungesäumt. Damals ging es der Werbebranche sehr gut. Frauen trugen diese großen Buchstabentaschen, dazu Schwarz, Schwarz, Schwarz, schuhe mit roter Sohle und sichtbare String Unterhose.

Auf der feingeistigen Seite waren wadenlange Röcke, Strickpullover, Prinz-Eisenherzfrisur, Lippenstift an den Zähnen und Nasenhaare angesagt. OK, zugegeben, sie waren im Durchschnitt 20 Jahre älter als wir knackigen Werber, aber, ich war doch gespalten, schmachtete dem literarischem Spirit entgegen, weil ich ein Fan der Bücher bin, ich, die Stolz darauf ist, mit 10 Gogol und Balzac gelesen zu haben.  Auf der anderen Seite schämte ich mich für ihr aussehen, denn sie waren uns nicht gewachsen mit dem ganzen Glamour und Blig Bling. 

Ich bin mir ganz sicher, sie haben uns mit ähnlichen Augen angesehen, und für die ganze Oberflächigkeit bemitleidet, für den „mehr-Schein-als-Sein“ sich die Nase gerümpft. Denn man blieb unter sich. Es wurden die Tische entsprechend reserviert, auch später auf der Tanzfläche hat man sich davor gehütet, den anderen ein freundliches Lächeln entgegenzubringen. Wie denn auch, wir waren grundverschieden. Nur beim Ansturm auf die Kellner als diese das Essen verteilten, waren wir uns gleich.

Herr Grimm sinniert den Tod

Herr Grimm sinniert den Tod
Und ich irre mich in meiner Jugend
An einer Kreuzung der großen Stadt
Fragt er, warum gehst Du kleiner Spatz
Ach, Grimm, du sammelst und ich will gehen

Herr Grimm sinniert den Tod
Und ich warte an der Kreuzung, dort
Wo ich nicht mehr sicher bin des Weges
Der hin führt zum Ziele des Lebens
Fragt er, wohin willst Du gehen
Ach, Grimm, du sammelst und ich will leben

Herr Grimm sinniert den Tod
Und ich ziehe meine Lippen rot
Rasiere die Beine, schneide Haare kurz
Werde gestreichelt, geküsst, bezirzt
Und bevor der Traum zu Ende ist
Fragt er, warum tust du all das
Ach, Grimm, du sammelst und ich will meinen Spaß

Herr Grimm sinniert den Tod
Und am 24.Oktober 68 schreibt Margot
Eine Postkarte Mon Cher Henri
Quelque mot pour répondre a ta carte
Qui ma fait plaisir moi non plus
Je suis pas bien amuser Dimanche
Car je nais pas été dansait
Je suis allé au lit toute l’âpre midi
Et le soir je suis allé au cinéma
Mais j’ai beaucoup pensais a toi
Car Simone été avec son chéri
Et moi je n’avais pas mon grand
Alor j’ai eu beaucoup le cafard 
Mais je mais plus pour si long temps
Tu m’écrivais si mon oncle
Va mieux et donne le bonjour 
A tout la famille 
Je termine ma carte car
Je tombe de t’aime et je vais 
Me mètre au lit en pensant 
A mon bien aime et bon baiser
Ta Margot 

Herr Grimm sinniert den Tod
Und ich rauche die Zigarette, die ich mir einst verbot
Eine Feder segelt mit dem Wind vom Baum
Die Sonne geht unter, blau färbt sich der Traum
Ich könnte ihn fragen, was er sammelt, wenn er noch bliebe
Er schrieb die Antwort bereits auf Margots Karte
Alles ist Liebe