Pupuze Berber

Das Lied der Auster

Ein gutes Gespräch

Ein gutes Gespräch

Gestern Abend waren wir in einem Thai-Restaurant essen. Dort hörte ich die Geschichte mit der Tüte. Die Geschichte wurde nicht direkt mir erzählt; ich wurde ein stiller Zuhörer, ganz zufällig. Die Gäste am Nachbartisch haben sich darüber unterhalten. Sie saßen hinter meinem Freund. Ich sah sie, wenn ich meinen Freund ansah, was üblich ist, wenn man zusammen essen geht. An dem besagten Tisch war ein älteres Ehepaar, das mit dem Rücken zu mir saß, ihnen gegenüber eine ältere Dame und ein Herr mittleren Alters; wie ich im Laufe ihres Gespräches erfahren konnte, war er der Sohn der älteren Dame.

Ich habe nicht gelauscht. Ich habe mich mit meinem Freund unterhalten. Ich erzählte ihm vom Osterbrunch meiner Freundin. Er war nicht dabei gewesen, und so beschrieb ich ihm die anderen Gäste, wer sie waren und worüber wir uns unterhalten hatten. Während ich erzählte, hörte ich, was am Nachbartisch gesprochen wurde, am Anfang noch unbewusst. Peter saß mir gegenüber und bemühte sich, mit meiner Erzählung mitzukommen. Ich bin mir sicher, er hat es irgendwann aufgegeben und nur so getan, als hörte er mir zu. Ich merke es, wenn er mit den Gedanken woanders ist. Aber egal, ich habe weitererzählt. So auch die ältere Dame, die Mutter des Herrn mittleren Alters am Nachbartisch. Nur mit dem Unterschied, dass sie sich vehement Gehör verschaffen wollte und ihre Geschichte mit der Tüte einige Male wiederholt hat, so dass auch ich jede Einzelheit mitbekam. Ich dagegen war eher gelassen und führte einen Monolog.

Wie ich die Geschichte mit der Tüte im Nachhinein rekonstruieren konnte, hat diese Dame eine Ferienwohnung in Frankreich. Wo genau, kann ich nicht sagen, da die genannten Ortsnamen mir entfallen sind; sie waren mir nicht bekannt. Das Paar, das ihr gegenüber saß, war nicht von hier. Das hörte ich heraus, als sie bezahlen wollten und der Sohn darauf bestand, sie einladen zu dürfen. Der Mann protestierte, worauf der Sohn sagte: “Das ist meine Heimatstadt und hier bezahle ich.” Kurze Zeit später erfuhr ich, dass sie aus Köln waren. Die Mutter sagte, die Entfernung von Köln nach Frankreich sei kürzer. „Es sind von Köln nur 150 km bis nach Frankreich.“

Das Kölner Pärchen möchte nach Frankreich fahren. Sie sind in Frankfurt, weil sie den Schlüssel für die Ferienwohnung brauchen. Wahrscheinlich, dachte ich, sind sie heute in Frankfurt angereist, gehen gemeinsam essen, werden die Nacht bei der Mutter schlafen und morgen nach Frankreich fahren. Ich vermutete, dass der Vater des Mannes mittleren Alters bereits verstorben ist. Das habe ich nicht heraushören können, und fragen wollte ich auch nicht. Ging mich ja nichts an, aber um die Geschichte für mich zu vervollständigen, habe ich beschlossen, dass sein Vater schon seit langer Zeit tot ist. Vielleicht ist er nur krank und liegt zu Hause, zweifelte ich für einen Augenblick, aber dann wären sie bestimmt nicht auswärts Essen gegangen. Dann hätte die Mutter etwas gekocht und sie wären bei ihm geblieben. Der Vater muss verstorben sein, entschied ich.

Also, das Pärchen fährt am nächsten Tag nach Frankreich und ist gekommen, um den Schlüssel abzuholen. Während ich diese Geschichte im Geiste nachbaute, erzählte ich vom Osterbrunch. So in etwa wird es die Mutter am Nachbartisch mitgekriegt haben, wenn sie nebenbei mir zuhörte, ähnlich wie ich ihr. Es waren eingeladen; ein normales Paar („Der Mann hat einen VW-Käfer auf ein Ei gemalt, kannst Du es Dir vorstellen? Das ganze Ei war ein VW-Käfer, nur etwas lang gezogen, und auch sonst interessiere er sich nur für Autos, sagte er, und seine Frau ist Heilpraktikerin, aber praktiziert nicht mehr, ein Burnout, wie schrecklich, sie hat zuletzt Angst gehabt, Angst, Patienten schlecht zu beraten, ihnen was Falsches zu geben, aber sie möchte wieder anfangen, vielleicht in einer Gemeinschaftspraxis oder so“), ein lesbisches Paar („Stell dir vor, ich habe es gar nicht gemerkt, sie sahen völlig normal aus, keine Ahnung, wie ich mir Lesben vorstelle, vielleicht denke ich in Klischees, dass die eine sehr maskulin sein müsse oder so, weißt Du, und apropos, das schwule Paar hatte abgesagt, den Toni kennst du auch, mit dem waren wir im King Khameamea Club“), ein deutscher Textil-Import-Exporteur aus Gomera („Er verkauft Klamotten, aber Andrea sagt, die sind nichts für mich, lauter Hippie-Sachen, er gab mir seine Telefonnummer, falls ich Interesse hätte, aber ich habe die Nummer nicht mehr, ach, weißt du, wenn die eh nichts für mich sind, dachte ich“), eine Frauenratgeber-Autorin („Sie hat mit einer Freundin bereits drei Bücher geschrieben, ihr letztes Buch ist ein erotisches Buch für Frauen, für das sie sehr viel Zeit in die Recherche investiert hat, sagte man mir, außerdem lebt sie die Hälfte des Jahres in Kalifornien, in Santa Barbara, mit ihrem zweiten Ehemann, der viel älter ist als sie, und mit dem hat sie keinen Sex mehr, aber mit andern Männern schon und der zweite Ehemann weiß das, sie sind sehr offen in dieser Beziehung, sagte sie mir“) und eine Frau („Sie war auch alleine da, mit ihrer Beziehung stimmt etwas nicht, sie waren zehn Jahre zusammen und haben sich vor drei Monaten getrennt und kommen aber nicht voneinander los, und jetzt sagt sie, sie habe nur eine Affäre mit ihm“). So ungefähr muss es sich vom Nachbartisch angehört haben.

Die Mutter wollte unbedingt erklären, wie das Pärchen in die Wohnung reinkommt. Ich hörte zuerst etwas von einem Maler, der eine Tüte in den Garten geschmissen haben muss. Da hatte ich die Geschichte noch nicht verstanden und hörte etwas aufmerksamer zu. Ihr Sohn wollte sie unterbrechen und sagte: „Mama, das müssen wir doch nicht jetzt und hier bereden oder? Das können wir doch später klären?“ Ich dachte, nein, später bin ich nicht dabei und drückte für die Mutter die Daumen, dass sie sich gegen den Sohn durchsetzen möge. Und schon hörte ich sie sagen: „Ruhe da! Man muss doch mal darüber sprechen können, man muss über alles sprechen, nicht?“ Volltreffer, sagte ich mir und hörte aufmerksamer zu. Also, diese Tüte liegt im Garten. „Ist sie denn immer noch im Garten?“, fragte die Frau aus Köln. „Nein“, sagte die Mutter, „die Mieter haben die Tüte in die Wohnung geholt. Sie muss irgendwo in der Diele liegen.“ Ich gebe zu, ich verstand nicht, was in der Tüte drin war. Es lag mir fast auf der Zunge zu fragen, als der Kölner Ehemann etwas Licht ins Dunkel brachte. „Aber wie kommen wir in die Wohnung, wenn der Schlüssel in der Tüte ist?“ Aha, dachte ich, in der Tüte ist ein Schlüssel drin. Vielleicht der Schlüssel für die Wohnung? „Nein, den Schlüssel für die Wohnung gebe ich euch, den habe ich bei mir“, hörte ich die Mutter dem Kölner Paar erklären, und gleichzeitig schaute sie ihren Sohn an, als Aufforderung, ihr den Schlüsselbund aus der Manteltasche zu holen. Ein Funken Protest blinzelte für einen kurzen Moment in seinen Augen, doch er gab nach, stand auf und ging zur Garderobe des Lokals.

„Also“, setzte die Mutter zum dritten Anlauf an, um es ihren Zuhörern ein für alle Mal begreiflich zu machen, wie sie vorzugehen hätten. Ich spitzte die Ohren, während ich meiner besseren Hälfte erzählte, dass ich auf mein erstes Osterei mit Lila – neben Hellblau der einzig richtig malende Stift – kleine Blumen malte, die von den anderen als Sterne bezeichnet wurden. „Ihr kommt mit diesem Wohnungsschlüssel in die Wohnung rein“, fuhr die Dame fort und löste einen Schlüssel aus ihrem Schlüsseletui. „Und in der Wohnung liegt diese Tüte, die der Maler in den Garten geschmissen hat. Darin ist der Schlüssel für das Gartentor.“ So war das, dachte ich. Der Maler hat das Gartentor gestrichen, von außen und von innen. Dafür hat er den Schlüssel gebraucht. Als er fertig war, hat er das Tor von außen abgeschlossen, den Schlüssel in eine Tüte getan und in den Garten geworfen. So einfach. Das sei so mit ihr vereinbart gewesen, hörte ich sie sagen. „Wie kam die Tüte in die Wohnung hinein?“, fragte die Frau aus Köln.

Ich erzählte in diesem Moment, wie ich vor lauter Neid auf den VW-Käfer-Ei-Mann der Runde ankündigte, mit einem Goldstift eine nackte Frau auf meinem zweiten Osterei malen zu wollen, wie ich jedoch beim ersten Versuch, zwei Brüste auf ein Ei zu malen, scheiterte, danach meine Ankündigung korrigierte, dass ich viel lieber Ornamente zeichnen möchte, weil diese Kunst seit 5.000 Jahren existiere, also bei weitem älter sei als die gegenständliche Malerei und in jeder Kultur auf der Welt vorgekommen sei, während die gegenständliche Kunst eine Erfindung des Abendlandes sei, und außerdem die Tüte von den Mietern in die Wohnung gebracht wurde, nachdem der Maler sie in den Garten geschmissen hatte. „Das ist doch klar”, sprach ich, „der Maler wurde beauftragt, das Gartentor zu streichen. Die Mutter hat das bestimmt telefonisch veranlasst, sonst hätte sie den Schlüssel nicht in einer Tüte in den Garten schmeißen lassen wollen oder?” und fuhr fort: „Manche Menschen hören einfach nicht zu. Ich habe diese Geschichte mit der Tüte von meinem Platz aus verstanden, aber stell Dir vor, das Kölner Ehepaar, das morgen nach Frankreich reist, um wahrscheinlich in der Wohnung der Mutter Ferien zu machen, hat dagegen nichts verstanden. Sie hat doch tatsächlich gerade gefragt, wie die Tüte in die Ferienwohnung gekommen ist, kannst Du das verstehen?“ „Kann ich mal Dein Essen probieren?“, fragte mich mein Freund.

Der Sohn griff ein, als die Mutter, zu meinem Überdruss, die Geschichte mit der Tüte zum vierten Mal erzählen wollte, und schlug vor, die Kölner sollten erst verreisen und von dort aus anrufen, wenn sie weitere Fragen haben sollten. Er schnappte den vorbeilaufenden Kellner und bat ihn um die Rechnung. Gott sei Dank, das wäre nun geklärt, dachte ich, und fing an von meinem dritten, selbstbemalten Osterei zu erzählen, während das Kölner Paar, die Mutter und der Sohn, aufstand und ging. „Es war ein schöner Abend, nicht wahr? Wir haben uns schon lange nicht so gut unterhalten“, sagte ich zu Peter. „Du hast recht“, antwortete er, „wollen wir bezahlen?“

Als ich aufstand, um meine Jacke anzuziehen, sah ich nun endlich auch die Personen, zwei Männer und eine Frau, die am Tisch hinter mir saßen. Sie hatten sich während des ganzen Abends auf Englisch über Vor- und Nachteile von Wohngemeinschaften unterhalten. Ich hatte mit meiner Vermutung recht gehabt. Alle drei waren sehr jung.

Ali, die anderen und Ich

Sexliteratur aus der Sandkiste

Sexliteratur aus dem Sandkasten

Wie ich als muslimische Deutschtürkin mal versuchte, einen Porno zu schreiben

Als ich anfing, einen Roman zu schreiben, worin sexuelle Handlungen explizit beschrieben werden sollten, merkte ich, wie befangen ich dabei war. Da saß ich dann mit Kuli und Kladde auf der Treppe vor der Musikschule mit Blick auf den Kinderspielplatz – und versuchte zu beschreiben, wie sich meine Heldin durch die Türkei vögelte. Es blieb meistens beim Versuch. Ich war nicht in der Lage, auch nur das Wort „Schwanz“ zu schreiben, ohne Herzrasen oder feuchte Hände zu bekommen.

Woran lag das bloß? War womöglich meine Herkunft schuld daran, die Türkei, die türkische Kultur, die mich prägte und daran hinderte, über die schönste Nebensache der Welt zu schreiben? Nun, das Buch konnte ich nach einigen Anläufen doch noch beenden, aber die Frage, ob und wie die kulturellen Unterschiede mein Schreiben beeinflusst hatten, beschäftigt mich weiterhin.

Ist die Sexualität in der Kultur meiner Herkunft ein Tabu, worüber man nicht spricht? Hatte ich deswegen Hemmungen und war prüde? Nun ja, wenn ich überlege, dass meine Eltern den Fernsehkanal wechselten, sobald sich zwei Leute küssten, oder mein Großvater uns Kindern weismachen wollte, dass dort der Mann die Zähne der Frau kontrollierte, also eine Art Zahnarzt sei, dann ist eine gewisse Tabuisierung durchaus vorhanden.

Auf der anderen Seite ist die Sexualität allgegenwärtig in Schimpfwörtern, in Form des verbalen Abreagierens, wenn Menschen aufeinander sauer sind. Dann wird auf Türkisch schnell „gefickt“, wo auf Deutsch ein schlichtes „Mist“ oder „Scheiße“ ausreicht. In meiner Herkunftskultur gibt man sich mit den schlichten Fäkalien nicht ab, nein, da geht es rustikaler zu.

Und falls der Eindruck erweckt wird, dies wäre ein bevorzugter Radaustil der Männer, muss ich korrigieren: Frauen benutzen ihn ebenfalls in verschiedenen Variationen. Meine Mutter denkt sich jemanden aus, der es dem Beschimpften besorgen soll, und wenn sie „Arap“ sagt – damit meint sie einen Schwarzhäutigen – ist ihre Wut besonders groß. Die verstorbene Oma hingegen übernahm den Akt der sexuellen Sanktionierung lieber selber. Dann knüpfte sie sich die ganze Sippschaft des Gemaßregelten vor, als sei sie in Fahrt gebracht worden und könne nicht bremsen – wie ein LKW mit geplatztem Reifen.

Es war schon sehr merkwürdig, in einem Umfeld aufzuwachsen, wo bei einer harmlosen Kussszene im Fernsehen eilig umschaltet wurde, im selben Atemzug man sich jedoch verbal fickend über die Sippschaft hermachte.

Nun, das seien eben einfache Menschen, Unterschicht, anatolische Bauern, bekam ich von Freunden zu hören, das ist doch keine Kultur! Ich müsste mich mehr in der Literatur umschauen. Wie offen oder nicht offen wird dort die Sexualität behandelt?

Also begann ich zu recherchieren. Weil ich in Deutschland aufgewachsen bin und mich mit der türkischen Literatur kaum auskenne, fragte ich den Mann meiner Schwester, der als Lehrer in Istanbul arbeitet. Er nannte mir ein paar Romane, worin ich Sexbeschreibungen finden konnte. Darunter „Turbane in Venedig“ von Nedim Gürsel, ein in Paris lebender türkischer Autor. Glücklicherweise hatte ich dieses Buch sogar auf Deutsch vorliegen.

„Unter dem Wintermantel gleitet seine rechte Hand zu Lucias Beinen. Etwas weiter oben, direkt unter dem weggerutschten Rock, fand er das kleine, haarige Biest, ein Felltierchen.“ Da in meiner Herkunftskultur Haare am Körper unerwünscht sind, insbesondere bei den Geschlechtsteilen, fühlte sich Kamil, der Protagonist im Roman, wohl angeekelt? Oder warum nennt er die Vagina ein Biest? „Er zog seine Hand sofort weg“, lese ich weiter, „als ob er sich verbrannt hätte“. Eindeutig traumatische Zustände wie bei mir, denn wie kann man sich an einem feuchten Ort verbrennen?

Lucia gefällt das nicht. Sie schiebt seine Hand zum „Biest“ zurück und lässt sie weiterreiben, bis sie „nahe dran war zu schreien. Im gleichen Moment spürte er etwas Warmes, Schleimiges an seinen Fingern.“ Ist das ein Beweis, dass der türkische Mann nichts von der Frau versteht? Zumindest deckt sich das mit dem Wegzappen der Kussszenen. Eben ein notwendiges Übel. Man muss darüber schreiben, zumindest wenn man in Paris lebt, in der Stadt der Liebe, muss sich der Autor dabei gedacht haben. Und da war die behaarte Muschi ein Biest. An späterer Stelle, als Kamil mit einer Nutte im Taxi nach Hause fährt, heißt es: „Eine Hand streichelte seinen Penis unter der Hose, er war also nicht allein. Er legte auch seine Hand zwischen den Schenkeln der Frau und fand das Tierchen.“ Die Frauen wechseln, das Tierchen bleibt.

Ich legte dieses Buch etwas verärgert zur Seite. Aber ein Autor macht noch keine Kultur. Die modernen türkischen Autoren schreiben über Sex immer in Kombination mit Liebe oder als Frucht der Liebe, das kannte ich bereits. Die Handlung wird oft umschrieben oder findet eine schnelle Erwähnung, ohne dass eine akkurate Beschreibung für notwendig erachtet wird.

In „Ince Memed“ lässt der größte Romancier Yasar Kemal den Leser im Dunkeln, wie Hatce von ihrer großen Liebe im Wald entjungfert wird. „Er fasst sie an den Handgelenken und zieht sie zum Felsen hin. Als sie zu sich kommt, ist Hatce eine Frau.“ In Ahmet Hamdi Tanpinars „Huzur“ geht Mümtaz mit der verheirateten Nuran eine heimliche Beziehung ein. Sie treffen sich zum Sex, aber auch hier lässt uns der Autor im Dunkeln, wie sie es treiben, als wäre das eine sehr private Angelegenheit der beiden.

Weiter zurück in der Literaturgeschichte begegne ich dem 1931 verstorbenen Mehmet Rauf. Der Autor, der mit „Eylül“ den ersten psychologischen Roman der Türkei geschrieben hatte, saß wegen eines dünnes Heftchens von 60 Seiten acht Monate im Gefängnis und wurde dabei seine gesellschaftliche Ehre los. In „Die Geschichte der Lilie“ beschreibt er pornografisch exakt den Akt sowohl zwischen Mann und Frau als auch zwischen zwei Frauen. Das Buch hat keine andere Handlung als die des Sexes; weder eine große Liebe, noch ein umständliches Anwerben drum herum. Im Gegensatz zu „Biest-Felltierchen-Kamil“ ist sein Protagonist gerade entzückt von der Genitalbehaarung seiner Gespielinnen.

Es machte mir Spaß, den Roman zu lesen, denn dieser Mann versteht die Frauen. Bevor er in seine 15-jährige Angebetete Zambak (Lilie) eindringt, bringt er sie tagelang mit Zunge und Hand zum Höhepunkt, um ihr Begehren für ihn zu steigern. Später genießt er als Voyeur aus seinem Versteck heraus die intimen Handlungen seiner zarten Lilie mit einer bekannten Lesbierin. Und als Höhepunkt, sowohl des Buches als auch für ihn, tritt er aus seinem Wandschrank hervor und verkehrt mit der Lesbierin – unter anderem anal.

Es gab und gibt also in meiner Herkunftskultur die pornografischen Texte, vermutlich wie in jeder anderen Kultur auch. Bei den alten Osmanen gab es die „Behnames“, spezielle Sexratgeber wie die Kama Sutra. An einer Stelle darin heißt es: „Im Sommer zu Frauen, im Winter zu jungen Männern.“ Dem Mann wurde Bisexualität empfohlen. Die Volkslieder sind noch heute voll von „wippenden Brüsten“ und anderen Anzüglichkeiten. Und MILF ist keine neue Modeerscheinung: „Was soll ich mit dir, schick mir lieber deine schöne Mutter“, schmachtet in einem Lied der Geliebte eines Mädchens.

Wie weit war nun diese Kultur an meinem Schreibhemmnis schuld? Oder lag es eher an den Kinderspielplätzen, wo ich die Geschichte schrieb? Oder war es eine Kombination aus beiden? Übertrug sich das Wegzappen der Kussszenen auf mich als Mutter? Spielte im Hintergrund das schlechte Gewissen aus dieser Zeit eine Rolle? War es so, dass ich mich schämte, im Beisein meiner Tochter über Sex zu schreiben? Etwa so wie meine Eltern sich geniert haben müssen, mit uns Kindern diese Szenen anzuschauen?

Wie auch immer. Die Antwort werde ich vermutlich nie herausfinden. Das Problem hatte ich sowieso gelöst: Ich schrieb die heißen Stellen einfach auf Türkisch. Denn in dieser Sprache lag mir, dank der alltäglichen Schimpfrituale, das reichhaltige Vokabular vom Ficken, Vögeln und Bumsen auf der Zunge.

Ohne Titel

Ohne Titel 

 

1)

Reit mich zu ‘nem Traum
Lass mich an Tischen spielen
Lass mich sehen, ob Glück nah ist
Oder entfernt wie Planeten
In der anderen Welt, halt mich fest
Wenn sich alles dreht

2)

Weiter steh‘n
Dich nackt an der Scheibe sehen
Weiter dreh‘n
Dein Licht in Illusionen brechen
Weiter geh‘n
Dir entrückt den Rücken kehren

3)

Ein blasses
Karussellpferd
Galoppiert
Und hinterlässt
Einen Brandherd
Das Kind drauf
Sieht nicht
Wen es
Mitnimmt

Es ist blind

4)

D o l l a r    s o l l    w e i ß e r    s e i n    a l s

K u h m i l c h

K u m m e r    k a n n    b u n t e r    s e i n    a l s

S m a r t i e s

P o r t e m o n n a i e   i s t   l e e r

N i r g e n d s   B e g e h r e n   m e h r

I c h   p u t z   d a n n   m e i n   G e w e h r

5)

Neonröhren flimmern
Hübsche Mädchen sirren
Nein, Nein! Es darf nicht sein!
Keine Zeit sich zu verlieben
Es ist noch Geld auszugeben
Oh ja! lass es uns zerstreuen!

6)

Wenn mich der Wahnsinn so beflügelt
Steig ich hoch und höher in die Atmosphäre
Wenn sich die Stadt in den Sand weit ausstreckt
Wie achtlos hingestreute Reißzwecke
Dann klaue ich der Nacht einen Strauß Sterne
Und schenke sie dir, meiner Zuckerschnute

7)

Sing laut ein Vaterunser
Vergiss nicht unsere Sache
Dein Reich ich so verlockend fand
Ich braucht‘ nur ein wenig Glück
Hoffnung mit Bang
Mal schwarz mal rot
Die Kugel ihre Runden dreht
Es geht nichts mehr, ich bete
Mein Wille geschehe

8)

Hey falscher Mann
Ich fand dich
In der Wüste Nevada
Du glaubst mir nicht
Allein weil ich sage
Auf Reißbrett entwickelt ist dein Heim
Virulent grell ist dein Schein
Wenn ich nicht aufpasse
Bist du mein Verderben

9)

Etwas weniger Wirklichkeit
Etwas mehr Regung, hier
Das ständige Ausweichen
Hat uns krumm gemacht, Schätzchen
Ein wenig Lust mehr
Ein paar Tränen weniger
Etwas mehr Kapitulation,
Etwas weniger Bemühen
Lass steigen aufrecht in die Hölle
Die Stufen

10)

Ja, Ich will
Ja, Ich will

11)

Hier singen Gott-Gläubiger, Betende
Der beseelte Prediger, euer Mahnender
Strahlend lacht der Clown, aller Drohender
Kehrt zurück zum Heiland, ihr Hoffenden

12)

Willst du mit mir in die Schlacht ziehen?
In dieser Nacht
Willst du mit mir dich innigst amüsieren?
In dieser Stadt
Glitter, Glitzer, Flitter, Booster, Toaster
So schön bist du Crystal Meth

13)

Ich war ein Stein und du aus Plastik
Lagen im Garten ohne Hektik
Ich war grau, du bunt quietschig
Wurden heiß und auch mal frostig
Ich bin ein Stein und werde verstauben                     
Dich hingegen wird’s ewig geben
Ganz ohne Leben

Epilog:

Etwas mit Spaß
Oder was ist sonst Las Vegas
Eine Stadt
Verrucht, verteufelt, geliebt, belebt
Und mehr noch
Schauplatz
Projektionsfläche, Träume
Der unbegrenzten Möglichkeiten
Des Protzes, der Macht, des Größenwahns
Eine Flucht
In die exzessiv zerstörerische Schönheit
Party, Spaß, Glitzer
Ein Oben
Größer, schneller, höher, besser und vor allem
Billiger
Ein Unten
Im Schatten dort weilen die Verlierer
Abfallprodukte
Ausgeschieden von der Vergnügungsmaschinerie
Gewaltbereit, kriminell, drogensüchtig
Die Ausgerutschten oder besser noch Ausgelutschten
Leben sie zu Hunderten in den Tunnels des Kanalsystems
Obdachlos
Omnipräsent in dem hektischen Glamour der Glitzerwelt
Ich sah ekstatischen Partyspaß
Ultimative Gigantomanie mit
Atemberaubendem Blick auf die nächtliche Stadt
Und auch Familien
Die zu Weihnachten ihren Kindern Schießübungen auf einer Shooting Farm schenkten
In Gegenden gewesen, die zu den gefährlichsten der USA zählen
Menschen gesehen, die alles verloren, in Las Vegas
Bizarre Eindrücke
Abstrakte Bilder eingefangen in Stimmungen der Faszination
Und doch blieb am Ende
Ein Gefühl der Leere

 

Ein Dichter-Gedicht

Der Sex hat der Liebe zu dienen

Der Sex hat der Liebe zu dienen!

 

Die Signale pulsieren, die Ganglien sind kurz vorm Verglühen, der Prozessor überhitzt, das Schaltzentrum droht die Kontrolle zu verlieren. Gleich, gleich wird die Macht ausgeschaltet und ich werde über die Mauer springen, um einen Blick hinüber zu werfen. Möglicherweise erleben wir die unendliche Sekunde, in der das Wasser die Zeit nicht hat, um aus dem umgekippten Glas hinauszuströmen, wir allerdings genügend Zeit haben, um in aller Muße die Gärten der Ewigkeit zu durchstreifen. Und wer weiß, vielleicht gelingt es mir sogar, dir einen Apfel zu pflücken.

Nein, wir haben nicht geflirtet. Wer tut das noch heute? Wer gibt sich mit „Ausgang ungewiss“ zufrieden? Warum soll man sich dem ausufernden Gespinst des Zufalls ausliefern? Niemand ist allein. Es gibt viele Möglichkeiten, unendlich viele sogar. Man wird die Passenden suchen und finden, die Gleichgesinnten werden zueinander stoßen, um einander mit besonderen Auftritten, Kunststücken und Kostümierungen zu bereichern. So gebären Möglichkeiten Ideen. Und die Möglichkeit wird zur berechenbaren Wahrscheinlichkeit. Ist nicht jede Idee wahrscheinlich, wenn doch alles berechenbar ist? Ich mache jedenfalls mit und schlucke eine Kobra, nur um sie wieder lebendig auszuspeien.

Die Zunge lenkt meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie hilft mir unterzutauchen, ganz tief unter meine Haut zu rutschen und zu dem Punkt zu gleiten, von dem die Signale ausgehen. Meine ganze Wahrnehmung ist darauf konzentriert, ich folge den Wellen, die ich in unterschiedlichen Arealen empfange und modelliere. Der Körper aus Fleisch und Blut hat sich aufgelöst; geblieben ist ein Zentrum, aus dem die Signalbahnen laufen. Es ist wie eine dieser Landschaftsnach-bildungen, die in manchen Heimatmuseen zu sehen sind und auf denen einzelne kleine Glühbirnen Orte darstellen. Und drückt man auf den entsprechenden Knopf, brennt irgendwo auf der Nachbildung eine kleine farbige Glühbirne und man weiß nun genau, wo sich dieser befindet. Ich bin deine Bergkette, mit Höhen und Tiefen.

Der Rauch der Zigarette schlängelt sich über unseren Köpfen und verdünnt sich gräulich in die Dunkelheit. Gott schuf also den Menschen nach seinem Ebenbild? Nur hat er mir die Unsterblichkeit vorenthalten. In mir ist der Tod gesät und wächst mit jedem Tag. Ich bin in Zeiten gesplittert. Es gibt mich jetzt, gab mich vorhin, es gab mich gestern, vorgestern, letzte Woche, letztes Jahr und viele Jahre davor. Und morgen gibt es mich, möglicherweise noch, mit abnehmender Wahrscheinlichkeit in ferner Zukunft, denn Cookies haben eine begrenzte Lebensdauer. Bin ich nur die Summe meiner Zeiten? Wo bleiben all die unausgesprochenen Wünsche, Ängste, Ahnungen, Trauer und Freude? Und wo das Verborgene, das selbst ich noch nicht kenne? Vielleicht schwimme ich nur, weil ich die Berge nicht habe?

Auf dem kleinen Balkon haben wir der kranken Taube einen Verschlag gebaut. Einer Taube! Wer rettet heute noch das Leben einer gewöhnlichen Ringeltaube, dieser Ratte der Lüfte? Bugs pflegt man nicht, man beseitigt sie! Es gab viel Kopfschütteln. Wir brachten sie trotzdem bei uns unter. Auf dem Balkon unserer Einzimmerwohnung in diesem kastenförmigen Hochhaus aus Beton. Unser Essen teilten wir mit ihr und betteten sie in einem alten Wollpullover. Sechs Tage lang waren wir glücklich. Sie gurrte uns etwas vor, das wir nicht verstanden haben, trotzdem waren wir verzückt. Nur den Apfel hätte sie vielleicht nicht bekommen sollen.

Wir küssen, zärtlich, nicht forsch, im Einklang miteinander. In all meinen Vorstellungen hätte ich mir das nicht ausmalen können. Überhaupt kann ich mir das Küssen nicht vorstellen; ich könnte es auch nie beschreiben. Den Akt hingegen schon. Er ist zielgerichtet, hat eine Agenda, schlägt mit harten Beats um sich, wackelt, schaukelt, donnert, immer und immer wieder. Er ist die stupide Wiederholung der Wiederholung und doch nie langweilig. Dagegen sind Küsse flüchtig, sie entstehen ganz von allein und in dem Moment, jeder Kuss ist anders, unbeschreiblich, unvorhersehbar. Der Kuss ist eine spontane Handlung, eine Performancekunst. Den Akt kann man lernen, das Küssen nicht. Der Kuss kann allerdings unangenehm sein, wenn eine fremde Zunge wie ein Dolch im Mundraum herumstochert, oder ein Mund verschlossen bleibt, Lippen wie kleine Saugnäpfe das Gesicht befeuchten und das Verlangen löschen. Er kann sogar regelrecht öde sein. Wenn er aber gelingt, so wie jetzt bei uns, dann herrscht ein verträglicher Gleichklang im Mund, eine Art Tanz, in dem Lutschen, Lecken und Saugen ineinander übergehen. Der Kuss steht für sich und braucht kein Weiter, kein Mehr. Er verspricht nichts, ist sich selbst genug und wächst doch über sich selbst hinaus, füllt und leert sich, schließt und öffnet sich. Auf und zu. An und aus.

-Vertont für die Ausstellung “Die Stadt als Datenfeld” in Graz

Die Schweinemilch

Auf den Spuren von Meister