Pupuze Berber

Ich

Als wir uns dort gebaren
Sagte ich, ich zu dir
Und du, du
Während ich dich suchte
Hast du mich eingesperrt
In mein Leben ohne dich

Als wir dort saßen
Sagte ich, ich bin zu dir
Und du, ich bin
Während ich auf dich wartete
Hast du Sprossen getrieben
In meiner wurzellosen Wirklichkeit

Als wir dort lagen
Sagte ich, mein zu dir
Und du, mein
Während ich dich liebte
Hast du Flügel ausgebreitet
In meinen himmellosen Nächten

Als wir dort warteten
Sagte ich, von dir zu dir
Und du, von mir
Während ich dich vermisste
Gab es dich
In meinen nichtgesprochenen Sprachen

Als wir dort spazierten
Sagte ich, ohne Dich zu dir
Und du, ohne mich
Während ich weglief
Hast Du mich getrunken
Von den frostigen Morgennebeln

Als wir dort schwammen
Sagte ich, mit Dir zu dir
Und du, mit mir
Während ich zum Grund sank
Warst Du eine Welle
In meinen ozeansalzigen Augen

Als wir dort schrieben
Sagte ich, Dich zu dir
Und du, mich
Während ich dich erzählte
Hast du mich durchgestrichen
In meinen geschriebenen Sätzen

Als wir dort starben
Sagtest du, ich zu mir
Und ich, du
Während ich dich vergaß
Hast du mich erinnert
Aus geschmolzenem Grau des Nichts

Die Dreiecksgeschichte

Gestern dachte ich an Acitana, aber sie hat damit nichts zu tun. Sie hat mich nur in diese Stimmung versetzt, dass mir kurz vor dem Schlaf die Dreiecksgeschichte in den Sinn kam. Sie glitt geschmeidig über drei Ecken. Ich war zu faul um aufzustehen und sie aufzuschreiben. Jetzt sind mir weder die Ecken bekannt noch die Geschichte an sich. 

Gogol, ja, der kam darin vor. Die toten Seelen trage ich seit meinem zehnten Lebensjahr im Gedächtnis. Wo aber, ist Iris Murdoch geblieben? Nichts da. Dabei hatte sie mich in den Zwanzigern begleitet. Balzacs Lilie im Tal hängt noch, wenn auch sehr schwach. Und diese Zeichnung! Die hatte ich später im Kunstunterricht umgesetzt: Eine indische Weltanschauung, wo drei Elefanten auf einer Schildkröte stehen. Ich hatte für die Schildkröte Reis genommen, und die Elefanten waren Kartoffeln. Der Kunstlehrer ständig, „nicht wahr“, „nicht wahr“, ein selten duschender 68iger. 

Ich hatte schon die zwei Sprachen: eine, die ich nicht mochte; die andere, die ich nicht beherrschte. Bei der Schreckschraube mit rotem Haartoupet gab es immer Punktabzug bei Rechtschreibfehlern. Gott sei Dank, Bratvogel kam und pfiff auf diese Regel. Er gab mir meine Eins. (Aber, diese Sprache, sie jagt mir immer noch Angst ein.) Kunst mochte ich. Kunst hat eine eigene Sprache, da gibt es keine Fehler, „nicht wahr“. So könnte ich heute irgendwo sitzen, Beine an mich gezogen, mit einer Tasse Kräutertee, leere Worte schwingend, „nicht wahr“, Reiskörner als Schildröte, die große Interpretation eines Weltbildes. 

Es kam anders. Ein Jahr später bürstete ich im Krankenhaus die Toiletten und lachte im fensterlosen Pausenraum der Putzkolonne über feuchte Männerunterhosen, die manch einer Frau geschwängert hatten. Nicht wahr…

Aus der Serie, ein Leben in Geschichten

Verdichtete Tagebücher

Vermutlich hat mich früher mein Sinn für Schönheit davon abgehalten, in die Literaturszene einzutauchen. Ich hatte sie Jahr für Jahr beim Event von Feinschmecker auf der Frankfurter Buchmesse erlebt. Wir waren eine geteilte Gesellschaft. Auf der einen Seite wir, die Gäste aus Werbung, auf der anderen Seite das Literaturbetrieb. Ich fand, dass wir besser angezogen waren, zumindest en vogue, was die Mode betraf. Freundin H, mit der ich hinging, sowieso. Sie hatte Labels direkt aus Paris, Alaïa und so. Ich war eher der Westwood Typ, und weil ich sie mir nicht leisten konnte, trug ich die selbstgeschneiderten Kleider aus Burda Moden ungesäumt. Damals ging es der Werbebranche sehr gut. Frauen trugen diese großen Buchstabentaschen, dazu Schwarz, Schwarz, Schwarz, schuhe mit roter Sohle und sichtbare String Unterhose.

Auf der feingeistigen Seite waren wadenlange Röcke, Strickpullover, Prinz-Eisenherzfrisur, Lippenstift an den Zähnen und Nasenhaare angesagt. OK, zugegeben, sie waren im Durchschnitt 20 Jahre älter als wir knackigen Werber, aber, ich war doch gespalten, schmachtete dem literarischem Spirit entgegen, weil ich ein Fan der Bücher bin, ich, die Stolz darauf ist, mit 10 Gogol und Balzac gelesen zu haben.  Auf der anderen Seite schämte ich mich für ihr aussehen, denn sie waren uns nicht gewachsen mit dem ganzen Glamour und Blig Bling. 

Ich bin mir ganz sicher, sie haben uns mit ähnlichen Augen angesehen, und für die ganze Oberflächigkeit bemitleidet, für den „mehr-Schein-als-Sein“ sich die Nase gerümpft. Denn man blieb unter sich. Es wurden die Tische entsprechend reserviert, auch später auf der Tanzfläche hat man sich davor gehütet, den anderen ein freundliches Lächeln entgegenzubringen. Wie denn auch, wir waren grundverschieden. Nur beim Ansturm auf die Kellner als diese das Essen verteilten, waren wir uns gleich.

Herr Grimm sinniert den Tod

Herr Grimm sinniert den Tod
Und ich irre mich in meiner Jugend
An einer Kreuzung der großen Stadt
Fragt er, warum gehst Du kleiner Spatz
Ach, Grimm, du sammelst und ich will gehen

Herr Grimm sinniert den Tod
Und ich warte an der Kreuzung, dort
Wo ich nicht mehr sicher bin des Weges
Der hin führt zum Ziele des Lebens
Fragt er, wohin willst Du gehen
Ach, Grimm, du sammelst und ich will leben

Herr Grimm sinniert den Tod
Und ich ziehe meine Lippen rot
Rasiere die Beine, schneide Haare kurz
Werde gestreichelt, geküsst, bezirzt
Und bevor der Traum zu Ende ist
Fragt er, warum tust du all das
Ach, Grimm, du sammelst und ich will meinen Spaß

Herr Grimm sinniert den Tod
Und am 24.Oktober 68 schreibt Margot
Eine Postkarte Mon Cher Henri
Quelque mot pour répondre a ta carte
Qui ma fait plaisir moi non plus
Je suis pas bien amuser Dimanche
Car je nais pas été dansait
Je suis allé au lit toute l’âpre midi
Et le soir je suis allé au cinéma
Mais j’ai beaucoup pensais a toi
Car Simone été avec son chéri
Et moi je n’avais pas mon grand
Alor j’ai eu beaucoup le cafard 
Mais je mais plus pour si long temps
Tu m’écrivais si mon oncle
Va mieux et donne le bonjour 
A tout la famille 
Je termine ma carte car
Je tombe de t’aime et je vais 
Me mètre au lit en pensant 
A mon bien aime et bon baiser
Ta Margot 

Herr Grimm sinniert den Tod
Und ich rauche die Zigarette, die ich mir einst verbot
Eine Feder segelt mit dem Wind vom Baum
Die Sonne geht unter, blau färbt sich der Traum
Ich könnte ihn fragen, was er sammelt, wenn er noch bliebe
Er schrieb die Antwort bereits auf Margots Karte
Alles ist Liebe

Vergessen verdrängen

Ich muss mich erinnern. Nichts vergessen. Also zwinge ich mich, zu üben. Übungen, um zu erinnern. Aber welche? Wie kann ich lernen, das Vergessen zu verdrängen, es behindern beim Ausbreiten, verhindern zu vernebeln und abzudecken die Stadt, die Welt, mich, MICH.

Wissen die Leute hier in der U-Bahn wie das geht, wenn sie morgens in ihren Zeitungen, Büchern oder dem Bildschirm ihrer Hadys starren? Vielleicht üben sie bereits, nur ich, ich weiß davon nichts. Ich hätte sie besser beobachten sollen. Aber so eine U-Bahnfahrt ist weder eine gute Gelegenheit noch ein passender Ort, um etwas so Wichtiges zu lernen. Wie soll das denn gehen? Youtube-Tutorial? E-Learning? Ein „Dummy fürs Erinnern“? Ich weiß ja nicht. Das ist nicht so ganz meins. 

Es gibt bestimmt Kurse bei der Volkshochschule. Da gibt es doch so einiges, warum also nicht einen über Vergessensverdrängung? Was würde ich da tun? Vielleicht sitzen wir dann alle im Kreis, sagen vor uns alles auf, alles, ganz laut, wie Mantras, wippen leicht mit dem Oberkörper, rezitieren immer und immer wieder, um das Vergessen zu verdrängen, weg, weg von uns, von unserem Erlernten, Erinnerungen, Gedanken, Geschichten, Namen, Adressen, Geschmäckern, Gerüchen, Gefühlen, fort, fort, fort mit dir! Würden wir alle gemeinsam aufschreiben, mit Lauten in die Luft, mit Wasser auf den Boden, Blick in den Augen, Gästen in der Sicht, gegen das Vergessen, gegen das Fressen der Vergänglichkeit an unserem Gedächtnis.

Das ist alles mein Versäumnis. Ich schreibe zwar, mit Kulli die Kladden voll, tief gebeugt mit Schostakowitsch im Ohr. Ich verdränge durchaus, aber nicht das Vergessen. Ich blende nur diese Menschen aus.

Sein und weniger Sein

Da sitze ich nun und blicke zurück. Mein Gelebtes vor mir ausgebreitet. Ihr wollt unterhalten werden, aber meint ihr, es ist so einfach? Tag ein, Tag aus mit Euch im Schlepptau? Ausblenden, ja, aber für immer löschen? Illusion, nichts weiter als eine Illusion. Dachte ich. Jetzt frage ich mich, was ich gestern gegessen habe. Auf der anderen Seite, warum frage ich mich das? Wer will das denn wissen? Um mich zu vergewissern, dass ich gestern gelebt und sogar etwas zu mir genommen habe. Ich schaue mal nach. Was war das? Brot? Brot auf jeden Fall und Käse. Das esse ich jeden Tag und werde es auch gestern gegessen haben. Aber tatsächlich wissen?

Vorige Woche? Was war da? Vielleicht bin ich zum Arzt gegangen? Was? Wer sind Sie? Was wollen Sie? Geld? Wird man hier am helllichten Tag überfallen! Was? Ich kann sonst meinen Einkauf nicht mitnehmen? Es ist doch meins, nicht? Wenn es mein Einkauf ist, dann werde ich ihn doch mitnehmen dürfen. Und, nein, ich kenne Sie nicht! Und ich habe keine Tochter! Nein, lassen Sie das! Ich bleibe hier, solange ich will!

Da schau einer an. Es lichten sich die hinteren Reihen. Das haben wir gern, nicht! Zu spät kommen und als erster gehen. Leere Stellen, überall. Dabei solltet Ihr bei mir bleiben, hier, bis ich aufstehe, mich verneige und gehe. So gehört sich das, hört Ihr? Erst dann dürftet Ihr alle verschwinden. Aber nun überall kahle Stellen, Lochbränden gleich. 

Das sehe ich, dass Ihr verschwindet! Aber, so bleiben Sie doch! Wir kennen uns doch irgendwo her. Haben wir zusammengearbeitet? Oder vom Urlaub? Ach, womöglich sind Sie mein Nachbar? Gehen Sie nicht jeden Morgen mit Ihrem Hund, wie heißt der noch mal, Gassi? Der kleine Kläffer, den meine ich. Eines Tages wurde er vergiftet. Oder war das ein anderer Hund und Sie mussten ihren wegen Altersschwäche einschläfern lassen?

Kai-Uwe? Thomas? Hendrik? Die Namen sind so leer. Sie sagen nichts mehr als die Launen der Eltern beim Sichten ihres Neugeborenen unter dem zeitgeistlichen Einfluss. Ein jeder ist davon betroffen. Ja du, mit dem Flecken auf dem Pullover. Du hast zu viel Kaffee getrunken und entsprechend gestunken. Dein Büro musste nach deinem Fortgang vollrenoviert werden. Stinktier, so haben wir dich hinter deinem Rücken genannt. Deswegen gehst du jetzt? Was ist denn mit Euch los? Eine ganze Reihe komplett entleert. Wer wart Ihr bloß? 

Was ist das bloß für ein Leben? Kaum hat man es begriffen, ist es auch schon am Ende. Niemand freut sich, auf die Welt zu kommen. Kaum vorstellbar, dass ich mal so war, ein Nacktmolch, zahnlos, hilflos, bedürftig. Wer ist denn da im Spiegel? Bin ich das? Ein Gespenst, zahnlos, hilflos, bald alles los. 

Lustig, lachen kann man immer, auch im hohen Alter. Was soll man auch tun? Wenn einem alles andere abhandenkommt und man froh sein kann, alleine auf die Toilette zu gehen. Sie lachen immer noch nicht. Erinnerungen, Anekdoten, wo habe ich sie? Ich muss doch viele haben. Wenn man eine braucht, kommt keine und da steh ich dann vor Euch, vor meinem Leben und bringe nichts heraus. 

Sein und dann weniger Sein. Mein und doch nicht mein. Ein Leben? Was ist das schon? Wäsche auf der Leine, so flattern die Erinnerungen. Bei manchen sind die Flecken nicht rausgegangen, und manche würde man auch am liebsten verstecken. Die kaputten Unterhosen, die mit dem ausgeleierten Bündchen, um im Nachhinein zu sagen, sich zu fragen, warum man diese nicht vorzeitig entsorgt hatte. Warum hängt man an zerschlissener Unterwäsche? Aus Bequemlichkeit? Oder um sich ein wenig zu erheitern? Mein Ziel ist zu lachen. Schauen Sie mit mir zurück auf mein Leben, ein Haufen zerschlissener Erinnerungen. Gibt es denn sonst nichts, was so richtig lustig war? Wo seid ihr? Da, da sehe ich etwas. Natürlich, wie konnte ich das vergessen. Von der Arbeit…

Sie, aus der Pharmaindustrie. Sie kommen gerade zur rechten Zeit. Wissen sie noch? Nein, Sie können nichts wissen, weil das Ganze sich in meinem Kopf abgespielt hatte. Sie bei uns, Sie mein Kunde, dem ich die neue Marketingstrategie erklären wollte, die Idee, unsere Idee, basierend auf den Analysen und den vielen Zahlen. Ich hatte eine Präsentation dazu erstellt, mit Kuchen, Säulen und Blasen, hatte geübt, dazu zu sprechen, im Büro und zu Hause vor dem Spiegel. Und am Tag unseres Zusammentreffens – ich hatte sogar mit Keksen decken lassen – kam ich nicht dazu, zu präsentieren, obwohl ich am Beamer stand, mit dem Deckblatt an der Wand. Weiter kam ich lange nicht. Sie stahlen mir das Wort aus dem Mund und ritten weg in mein Kopfkino, Sie der Schurke mit dem schnellen Pferd, während ich von einem Bein auf das andere wechselte, um einen Moment abzupassen, wo Sie womöglich Luft holen mussten, damit ich Ihnen reingrätschen konnte. Ein paar Mal ist mir das gelungen. Da nahm ich den Ball und rannte weg, klickte weiter vom Berg zur Linie, doch da, in einer Sekunde des Schweigens hatte ich gegen Sie keine Chance mehr. Sie sprachen, über ihr Unternehmen, über ihre Jugend, Familie, Eltern, Gattin, Kinder, fast lückenlos. Mir blieb die Kapitulation.

Sie da, in der fünften Reihe, mit den runden Buntplastikgläsern! Sie waren doch der Chef, der Ober-Chef unserer Werbeagentur, nicht wahr? Wie war noch Ihr Name? Ihr Name ist mir entfallen, doch weiß ich noch ganz genau, wie ich ihre Weichteile berührt habe. Gott bewahre, nicht gewollt, ich hatte nicht vor, auf diesem Wege Karriere zu machen. Mit einem Kollegen kam ich aus der Cafeteria, wo Sie uns entgegenkamen. Ich hatte gestikulierend erzählt, und Sie in diesem Moment da – womöglich etwas unsanft – berührt. Danach hatte ich mich mit diesem Kollegen fast kaputtgelacht. Bis wir um die Ecke gebogen waren und ich Sie in der Glastür des Aufzuges hinter uns sah. Zur Strafe noch die Fahrt zusammen bis zum dritten Stock. 

Es nützt alles nichts. Ich habe wohl kein komödiantisches Talent. Niemand lacht. Viele sind schon weg. Die Mitte ist fast kahl. Und auch in den vorderen Reihen wird schamlos aufgestanden. Ich sehe nur noch Rücken. Nur wessen? Wer seid Ihr alle? Warum kann ich mich nicht an Euch erinnern? Sie, sind Sie nicht der hübsche Mann vom Markt in Sainte Maxime? Oder die unfreundliche Frau in der Bäckerei? Waren Sie nicht jahrelang mein Arzt? Dann müssten Sie doch wenigstens bleiben. Es ist womöglich etwas langweilig hier, ja, da kann ich Ihnen sogar recht geben. Ein aufregendes Leben hatte ich nicht. Es war eins von der Stange, so wie das von vielen anderen auch. Gehen Sie deswegen? Ich könnte Ihnen allen noch einen Witz erzählen. Hatte ich mir nicht mal ein Witzheft angelegt? Wo ist das nur? Hatte das mein Vater zerrissen? Nein, das war mein Poesiealbum, das weiß ich noch. Oder war das meine Mutter gewesen? Mama? Mama, wo bist du? Ach, da, in der ersten Reihe. Na, wenigstens bleiben die Eltern bis zum Schluss. Sie müssen immer bis zum Schluss bleiben, egal wie langweilig. 

Überall Lücken. Meine engsten Freunde? Was ist mit euch? Wartet doch, ich bin doch dabei, mein Witzheft zu suchen. Wenn ich doch nur in mein Kinderzimmer könnte! Da ist dieses kleine Heftchen, ganz eng beschriftet, sogar kategorisiert. Und immer, wenn ich einen Witz brauchte, hatte ich das Heft nicht dabei. Dauernd fiel mir der mit dem Frosch ein. Ein Frosch und ein Amerikaner. Seid ihr noch hier? 

Das Lied der Auster

Das Herz der Auster ist grau und weiß 
Wie die Schale so hart, so weich das Fleisch
Sie sagt nicht viel, wir können nur raten
Wenn sie zwischen Zähnen geraten
O Auster fein
Lass mich sein dein
Komm in meinen Mund hinein

Die Seele der Auster ist aus feinstem Schaum
Liegt auf der Zunge gleitet in den Traum
Bohrt sich im Rachen kurz vor dem Erbrechen
Eine Qual steigert die Lust, sehr angemessen
O Auster ganz
Ich will deinen Glanz
Bring mir den Geschmack des Ozeans

Die Stimme der Auster ist schelmisch
Wenn auf der Zunge, sehr spielerisch
Ob ich dich ess’, oder du mich
Weiß ich so genau gar nicht
O Auster dein
Komm sei doch mein
Gleite dich in meinen Gedanken hinein

Der Geschmack der Auster ist vielschichtig
Direkt verschluckt ist sie schleimig
Durchgekaut sie die Melodie entfaltet
Eine Orgie im Gaumen gestaltet
O Auster singt
In mein Gedicht
Mir mein schamhaftes Trauerlied

Das Geheimnis der Auster ist hinfort
Wenn gegessen wird achtlos und sofort
Mann soll denken, sie lebte in ihren Schalen
Bevor sie zwischen den Zähnen zermahlen
O Auster ich nehm’
Dein Geheimnis hinein
In mein ewiges Grab aus Fluchgestein

Ein gutes Gespräch

Gestern Abend waren wir in einem Thai-Restaurant essen. Dort hörte ich die Geschichte mit der Tüte. Die Geschichte wurde nicht direkt mir erzählt; ich wurde ein stiller Zuhörer, ganz zufällig. Die Gäste am Nachbartisch haben sich darüber unterhalten. Sie saßen hinter meinem Freund. Ich sah sie, wenn ich meinen Freund ansah, was üblich ist, wenn man zusammen essen geht. An dem besagten Tisch war ein älteres Ehepaar, das mit dem Rücken zu mir saß, ihnen gegenüber eine ältere Dame und ein Herr mittleren Alters; wie ich im Laufe ihres Gespräches erfahren konnte, war er der Sohn der älteren Dame.

Ich habe nicht gelauscht. Ich habe mich mit meinem Freund unterhalten. Ich erzählte ihm vom Osterbrunch meiner Freundin. Er war nicht dabei gewesen, und so beschrieb ich ihm die anderen Gäste, wer sie waren und worüber wir uns unterhalten hatten. Während ich erzählte, hörte ich, was am Nachbartisch gesprochen wurde, am Anfang noch unbewusst. Peter saß mir gegenüber und bemühte sich, mit meiner Erzählung mitzukommen. Ich bin mir sicher, er hat es irgendwann aufgegeben und nur so getan, als hörte er mir zu. Ich merke es, wenn er mit den Gedanken woanders ist. Aber egal, ich habe weitererzählt. So auch die ältere Dame, die Mutter des Herrn mittleren Alters am Nachbartisch. Nur mit dem Unterschied, dass sie sich vehement Gehör verschaffen wollte und ihre Geschichte mit der Tüte einige Male wiederholt hat, so dass auch ich jede Einzelheit mitbekam. Ich dagegen war eher gelassen und führte einen Monolog.

Wie ich die Geschichte mit der Tüte im Nachhinein rekonstruieren konnte, hat diese Dame eine Ferienwohnung in Frankreich. Wo genau, kann ich nicht sagen, da die genannten Ortsnamen mir entfallen sind; sie waren mir nicht bekannt. Das Paar, das ihr gegenüber saß, war nicht von hier. Das hörte ich heraus, als sie bezahlen wollten und der Sohn darauf bestand, sie einladen zu dürfen. Der Mann protestierte, worauf der Sohn sagte: “Das ist meine Heimatstadt und hier bezahle ich.” Kurze Zeit später erfuhr ich, dass sie aus Köln waren. Die Mutter sagte, die Entfernung von Köln nach Frankreich sei kürzer. „Es sind von Köln nur 150 km bis nach Frankreich.“

Das Kölner Pärchen möchte nach Frankreich fahren. Sie sind in Frankfurt, weil sie den Schlüssel für die Ferienwohnung brauchen. Wahrscheinlich, dachte ich, sind sie heute in Frankfurt angereist, gehen gemeinsam essen, werden die Nacht bei der Mutter schlafen und morgen nach Frankreich fahren. Ich vermutete, dass der Vater des Mannes mittleren Alters bereits verstorben ist. Das habe ich nicht heraushören können, und fragen wollte ich auch nicht. Ging mich ja nichts an, aber um die Geschichte für mich zu vervollständigen, habe ich beschlossen, dass sein Vater schon seit langer Zeit tot ist. Vielleicht ist er nur krank und liegt zu Hause, zweifelte ich für einen Augenblick, aber dann wären sie bestimmt nicht auswärts Essen gegangen. Dann hätte die Mutter etwas gekocht und sie wären bei ihm geblieben. Der Vater muss verstorben sein, entschied ich.

Also, das Pärchen fährt am nächsten Tag nach Frankreich und ist gekommen, um den Schlüssel abzuholen. Während ich diese Geschichte im Geiste nachbaute, erzählte ich vom Osterbrunch. So in etwa wird es die Mutter am Nachbartisch mitgekriegt haben, wenn sie nebenbei mir zuhörte, ähnlich wie ich ihr. Es waren eingeladen; ein normales Paar („Der Mann hat einen VW-Käfer auf ein Ei gemalt, kannst Du es Dir vorstellen? Das ganze Ei war ein VW-Käfer, nur etwas lang gezogen, und auch sonst interessiere er sich nur für Autos, sagte er, und seine Frau ist Heilpraktikerin, aber praktiziert nicht mehr, ein Burnout, wie schrecklich, sie hat zuletzt Angst gehabt, Angst, Patienten schlecht zu beraten, ihnen was Falsches zu geben, aber sie möchte wieder anfangen, vielleicht in einer Gemeinschaftspraxis oder so“), ein lesbisches Paar („Stell dir vor, ich habe es gar nicht gemerkt, sie sahen völlig normal aus, keine Ahnung, wie ich mir Lesben vorstelle, vielleicht denke ich in Klischees, dass die eine sehr maskulin sein müsse oder so, weißt Du, und apropos, das schwule Paar hatte abgesagt, den Toni kennst du auch, mit dem waren wir im King Khameamea Club“), ein deutscher Textil-Import-Exporteur aus Gomera („Er verkauft Klamotten, aber Andrea sagt, die sind nichts für mich, lauter Hippie-Sachen, er gab mir seine Telefonnummer, falls ich Interesse hätte, aber ich habe die Nummer nicht mehr, ach, weißt du, wenn die eh nichts für mich sind, dachte ich“), eine Frauenratgeber-Autorin („Sie hat mit einer Freundin bereits drei Bücher geschrieben, ihr letztes Buch ist ein erotisches Buch für Frauen, für das sie sehr viel Zeit in die Recherche investiert hat, sagte man mir, außerdem lebt sie die Hälfte des Jahres in Kalifornien, in Santa Barbara, mit ihrem zweiten Ehemann, der viel älter ist als sie, und mit dem hat sie keinen Sex mehr, aber mit andern Männern schon und der zweite Ehemann weiß das, sie sind sehr offen in dieser Beziehung, sagte sie mir“) und eine Frau („Sie war auch alleine da, mit ihrer Beziehung stimmt etwas nicht, sie waren zehn Jahre zusammen und haben sich vor drei Monaten getrennt und kommen aber nicht voneinander los, und jetzt sagt sie, sie habe nur eine Affäre mit ihm“). So ungefähr muss es sich vom Nachbartisch angehört haben.

Die Mutter wollte unbedingt erklären, wie das Pärchen in die Wohnung reinkommt. Ich hörte zuerst etwas von einem Maler, der eine Tüte in den Garten geschmissen haben muss. Da hatte ich die Geschichte noch nicht verstanden und hörte etwas aufmerksamer zu. Ihr Sohn wollte sie unterbrechen und sagte: „Mama, das müssen wir doch nicht jetzt und hier bereden oder? Das können wir doch später klären?“ Ich dachte, nein, später bin ich nicht dabei und drückte für die Mutter die Daumen, dass sie sich gegen den Sohn durchsetzen möge. Und schon hörte ich sie sagen: „Ruhe da! Man muss doch mal darüber sprechen können, man muss über alles sprechen, nicht?“ Volltreffer, sagte ich mir und hörte aufmerksamer zu. Also, diese Tüte liegt im Garten. „Ist sie denn immer noch im Garten?“, fragte die Frau aus Köln. „Nein“, sagte die Mutter, „die Mieter haben die Tüte in die Wohnung geholt. Sie muss irgendwo in der Diele liegen.“ Ich gebe zu, ich verstand nicht, was in der Tüte drin war. Es lag mir fast auf der Zunge zu fragen, als der Kölner Ehemann etwas Licht ins Dunkel brachte. „Aber wie kommen wir in die Wohnung, wenn der Schlüssel in der Tüte ist?“ Aha, dachte ich, in der Tüte ist ein Schlüssel drin. Vielleicht der Schlüssel für die Wohnung? „Nein, den Schlüssel für die Wohnung gebe ich euch, den habe ich bei mir“, hörte ich die Mutter dem Kölner Paar erklären, und gleichzeitig schaute sie ihren Sohn an, als Aufforderung, ihr den Schlüsselbund aus der Manteltasche zu holen. Ein Funken Protest blinzelte für einen kurzen Moment in seinen Augen, doch er gab nach, stand auf und ging zur Garderobe des Lokals.

„Also“, setzte die Mutter zum dritten Anlauf an, um es ihren Zuhörern ein für alle Mal begreiflich zu machen, wie sie vorzugehen hätten. Ich spitzte die Ohren, während ich meiner besseren Hälfte erzählte, dass ich auf mein erstes Osterei mit Lila – neben Hellblau der einzig richtig malende Stift – kleine Blumen malte, die von den anderen als Sterne bezeichnet wurden. „Ihr kommt mit diesem Wohnungsschlüssel in die Wohnung rein“, fuhr die Dame fort und löste einen Schlüssel aus ihrem Schlüsseletui. „Und in der Wohnung liegt diese Tüte, die der Maler in den Garten geschmissen hat. Darin ist der Schlüssel für das Gartentor.“ So war das, dachte ich. Der Maler hat das Gartentor gestrichen, von außen und von innen. Dafür hat er den Schlüssel gebraucht. Als er fertig war, hat er das Tor von außen abgeschlossen, den Schlüssel in eine Tüte getan und in den Garten geworfen. So einfach. Das sei so mit ihr vereinbart gewesen, hörte ich sie sagen. „Wie kam die Tüte in die Wohnung hinein?“, fragte die Frau aus Köln.

Ich erzählte in diesem Moment, wie ich vor lauter Neid auf den VW-Käfer-Ei-Mann der Runde ankündigte, mit einem Goldstift eine nackte Frau auf meinem zweiten Osterei malen zu wollen, wie ich jedoch beim ersten Versuch, zwei Brüste auf ein Ei zu malen, scheiterte, danach meine Ankündigung korrigierte, dass ich viel lieber Ornamente zeichnen möchte, weil diese Kunst seit 5.000 Jahren existiere, also bei weitem älter sei als die gegenständliche Malerei und in jeder Kultur auf der Welt vorgekommen sei, während die gegenständliche Kunst eine Erfindung des Abendlandes sei, und außerdem die Tüte von den Mietern in die Wohnung gebracht wurde, nachdem der Maler sie in den Garten geschmissen hatte. „Das ist doch klar”, sprach ich, „der Maler wurde beauftragt, das Gartentor zu streichen. Die Mutter hat das bestimmt telefonisch veranlasst, sonst hätte sie den Schlüssel nicht in einer Tüte in den Garten schmeißen lassen wollen oder?” und fuhr fort: „Manche Menschen hören einfach nicht zu. Ich habe diese Geschichte mit der Tüte von meinem Platz aus verstanden, aber stell Dir vor, das Kölner Ehepaar, das morgen nach Frankreich reist, um wahrscheinlich in der Wohnung der Mutter Ferien zu machen, hat dagegen nichts verstanden. Sie hat doch tatsächlich gerade gefragt, wie die Tüte in die Ferienwohnung gekommen ist, kannst Du das verstehen?“ „Kann ich mal Dein Essen probieren?“, fragte mich mein Freund.

Der Sohn griff ein, als die Mutter, zu meinem Überdruss, die Geschichte mit der Tüte zum vierten Mal erzählen wollte, und schlug vor, die Kölner sollten erst verreisen und von dort aus anrufen, wenn sie weitere Fragen haben sollten. Er schnappte den vorbeilaufenden Kellner und bat ihn um die Rechnung. Gott sei Dank, das wäre nun geklärt, dachte ich, und fing an von meinem dritten, selbstbemalten Osterei zu erzählen, während das Kölner Paar, die Mutter und der Sohn, aufstand und ging. „Es war ein schöner Abend, nicht wahr? Wir haben uns schon lange nicht so gut unterhalten“, sagte ich zu Peter. „Du hast recht“, antwortete er, „wollen wir bezahlen?“

Als ich aufstand, um meine Jacke anzuziehen, sah ich nun endlich auch die Personen, zwei Männer und eine Frau, die am Tisch hinter mir saßen. Sie hatten sich während des ganzen Abends auf Englisch über Vor- und Nachteile von Wohngemeinschaften unterhalten. Ich hatte mit meiner Vermutung recht gehabt. Alle drei waren sehr jung.