Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Ich beschloss, eine etwas längere Route zu gehen, anstatt die übliche Runde. Also nahm ich den Weg geradeaus, hinunter zur Autobahnbrücke und dann an den Schrebergärten entlang, die teilweise so urig waren, dass ich völlig vergessen konnte, in Frankfurt zu leben. Auf einem Grundstück sah ich sogar ein Pferd, das gemütlich alles fraß, was es dort finden konnte. Auch die Kohlpflanzen mussten daran glauben, die sich gegen den harten Winter gestemmt hatten, nur um dann im Frühjahr von einem Pferd verspeist zu werden. Ich fragte mich, ob sich die Besitzer der Kleingartenanlage wegen des Kohls nun ärgern würden, oder ob sie das Pferd absichtlich in diese Parzelle gelassen hatten. Dem Pferd war das sicherlich egal. Von den Blättern des übrigen Kohls prallten dicke, schwere Tropfen auf die ohnehin schon nasse Erde herunter.
Die einzige Möglichkeit, der Kindheit zu entkommen, war erwachsen werden, dachte ich. Und oft fragte ich mich, wie ich das alles überstanden hatte. Offenbar war ich wie dieses Kohlblatt, und der Niederschlag prallte an mir ab. Egal wie stark er war, konnte er mich doch nicht durchdringen. So begriff ich viele Ereignisse damals nicht, nur die Spuren sind übriggeblieben, die nun dieses merkwürdige Gefühl entstehen lassen, wenn ich darüber nachdenke, wie damals mein Leben und vor allem das Verhältnis zu Erwachsenen war. Sie lebten fern, außerhalb meiner Reichweite, was die Verständigung betraf. So dürfte sich ein Mensch fühlen, wenn er auf einen anderen Planeten geschossen wird und er dort nur noch Fragen hat.
Mutter gab mir stets eine Antwort. Auch wenn sie, wie ich feststellen musste, nicht korrekt waren und mich in vieler Hinsicht zu seltsamen Irrungen und dummen Wirrungen verleitet haben, so stand bei ihr nie eine meiner Fragen unbeantwortet im Raum, ganz im Gegensatz zu meiner Großmutter.
„Geh und spiel mit deinen Altersgenossen, von solchen Sachen verstehst du nichts“, versuchte sie mich wegzujagen. Und irgendwann hörte ich auf, sie zu fragen. Aber es interessierte mich brennend, warum sie mir nicht antwortete? Verheimlichte sie etwas? Hatte sie etwa ein großes Geheimnis? Hatte sie Angst, sich zu verplappern, wenn sie ausgefragt wurde? Dabei kannte Großmutter wirklich die tollsten Geschichten. Später begegneten mir diese in Deutschland als Märchen der Brüder Grimm in einer anderen Form, aber inhaltlich waren sie gleich. Frau Holle hatte nicht Schnee gemacht, sondern war eine alte alleinlebende Frau, die Hilfe brauchte. Und Aschenputtel hieß Ahmet. Das war überhaupt meine Lieblingsgeschichte und ich konnte nie genug davon bekommen, wenn Großmutter vom Aschenahmet erzählte. Zugegeben, hier war das Märchen etwas anders als die Version der Brüder Grimm, aber mir gefällt es nach wie vor besser.
Ahmet hatte seinen Spitznamen erhalten, weil er zwar klug, aber auch sehr faul war und den ganzen Tag nichts tat als seine nackten Füße in warme Asche zu stecken. Aber am Ende siegte die Klugheit und nicht der Fleiß, was ich bevorzuge. Er wollte nach den gescheiterten Versuchen seiner zwei fleißigen jüngeren Brüder das Tier fangen, das nachts die Ernte vom Feld fraß. Sein Vater hatte ihn ausgelacht, so faul wie er war, doch die Mutter argumentierte: der Mais wird so oder so gefressen, so lass ihn doch, wenn er unbedingt will. Aschenahmet machte sich am Feldrand ein Feuer, wartete, bis alles zu Asche verbrannt war, steckte seine Füße hinein und spähte in die Nacht. Bis ein Esel kam und den Mais zu fressen begann. Da sprang er aus der Asche, setzte sich dem Esel auf den Rücken, hielt ihn an den Ohren fest, so dass er nicht runterfallen konnte, egal wie stark der auch ausschlug. Am Ende begann das Tier zu sprechen und versprach Aschenahmet die Erfüllung von drei Wünschen gegen seine Freilassung. Und Aschenahmet hatte bei jeder Erzählung meiner Großmutter andere Wünsche. Mal hat er die Tochter vom reichen Aga geheiratet, mal zog er um die Welt, wurde also ein Reisender und erlebte in jeder Stadt ein anderes Abenteuer. Ich liebte Aschenahmet als Wanderer in der Welt besonders, denn da begegnete er Drachen und anderen Ungeheuern.
Großmutter war also nicht schweigsam, ganz im Gegenteil, nur hatte sie was gegen Fragen, stellte ich fest. Überhaupt, die alten Frauen stellten nie Fragen, sie erzählten sich einfach alles von der Seele, wo sie sich auch trafen. Wenn ich mit ihr hinter den Kühen her schlenderte und sie unterwegs andere traf, so fragte nie eine von denen: „Großmutter, warum kochst du immer so viel Kohlsuppe?“ wie ich. Denn das war so, und wir mussten sehr lange davon essen. Stattdessen erzählte sie einfach:
„Koch mehr als genug zu essen, denn wer weiß, welcher Hungrige unerwartet an deine Tür klopft? Möge Allah unseren Kessel nie leer werden und niemanden an Hunger leiden lassen. So war gestern tatsächlich einer da. Ich gab ihm, was ich hatte, Maisbrot und Kohlsuppe.“
Wenn die Suppe frisch gekocht war, behielt der Schwarzkohl darin seine Struktur und war sichtbar mit grob zerrupften Blättern und Strunk, wie auch die getrockneten Bohnen und die Maiskörner. Ein paar Tage später, als der Kessel etwa zur Hälfte leer wurde, stampfte Großmutter den Kohl und alles andere darin zu Brei. Den allerletzten Rest, so gegen Ende der Woche, setzte sie mit Maisbrot an, so dass wir die gleiche Suppe in drei verschiedenen Versionen essen konnten, bis sie den Kessel in der Feuerstelle neu aufsetzte.
„Der Kessel darf nie leer sein, was wäre, wenn einer kommt, und du hast nichts zu essen?“, pflichtete ihr Feriaba bei, die als einzige im Dorf einen goldenen Zahn hatte.
„Gott behüte, was wenn es der Hizir ist?“ entgegnete die schielende Nafiyeba.
Später habe ich erfahren, dass Hizir ein heiliger Prophet ist, der vom Kraut der Unsterblichkeit gegessen hatte und deshalb ewig leben würde. Er war stets unterwegs, meist in Lumpen gekleidet, um Gläubige zu prüfen. Wenn er zu essen und trinken bekam, gab er dem Haus seinen Segen. Und niemand wollte wegen einer Kelle Kohlsuppe auf Hizirs Segen verzichten. So ließ ihn Großmutter draußen im Hof Platz nehmen und tischte ihm die letzte Metamorphose unseres Schwarzkohls auf.
„Was soll ich euch sagen, ein gewöhnlicher alter Mann mit schlechten Augen, dachte ich. Er kniff sie so eng zusammen, dass sie aussahen wie eine verschnürte Sacköffnung. Er löffelte seinen Teller und segnete Haus und Hof, wie es sich gehört. Ich dachte, jetzt sollte er gehen, ich muss noch mit den Kühen raus, doch er blieb sitzen und fummelte am Revers seines Kaftans, der fast nur noch aus Flicken bestand. Er nahm von dort eine grobe Nähnadel heraus und hielt sie in die Höhe seiner Augen. Bestimmt will er etwas an seiner Bekleidung reparieren, dachte ich und fragte ihn, ob er Garn und alte Fetzen zum Stopfen bräuchte.
‚Nein, Schwester‘ antwortete er, ‚ich versuche die Welt durch dieses Nadelöhr zu schieben.’ Oh, Allmächtiger, der Erschaffer von Erde und Himmel, er hat mir den Hizir geschickt, das ist er leibhaftig, durchfuhr es mich wie ein Blitz. Ich räumte schnell Teller und Löffel weg und brachte ihm ein großes Glas gezuckerten Tee. Zugegeben, der war von heute Morgen, nicht ganz frisch, aber er hat sich gefreut. Und da wusste ich, er hat noch eine belehrende Prüfung, die er mir mitgeben will. Ich nahm also einen Schemel und setzte mich rechts neben ihn, so dass ich die Nadel sehen konnte, die er immer noch in der rechten Hand hielt, die zusammengekniffenen Augen darauf gerichtet.
‚Ich gehe schon sehr lange mit dieser Nadel durch Dörfer und Städte, erzähle mein Anliegen. Und sehe in die erstaunten, missbilligenden, spöttischen Augen, wenn ich nach dem Freitagsgebet mich für eine Weile in die Sonne hocke und die Nadel aus meinem Revers ziehe, so wie jetzt. Die Gläubigen, die aus dem Gotteshaus kommen, einer nach dem anderen, erklären mich für verrückt und meinen, das sei doch ganz und gar unmöglich, da passe nicht mal ein ordentlicher Wollfaden durch, wie denn eine ganze Welt? Na, da hast du dir was vorgenommen, Onkelchen, sagte einer, nimm doch lieber deinen Gebetskranz in die Hand und bete, sieh doch, du bist alt, möge Gott dir zwar ein langes Leben schenken, doch am Ende wird jedes Lebewesen den Tod schmecken und da wartet unsere aller Abrechnung im Jenseits, je nachdem, wie wir uns diesseits so benommen haben, also warum in deinem Alter sich noch mit dieser Welt beschäftigen?
Da antworte ich ihm: mein Sohn, du hast recht, es schickt sich wahrlich nicht in meinem Alter mich mit solcher Narrheit zu beschäftigen. Möge Allah der Allmächtige, der Erbauer von Himmel und Hölle dir die Antwort geben, was er mir so beharrlich verschweigt. Er lächelt milde, gibt mir ein paar Münzen in meine linke Hand und geht seiner Beschäftigung nach. Ich verlasse daraufhin die Stadt.‘
Da schwieg der Mann, steckte seine Nadel zurück an den Kaftan und trank den Tee aus. Er lobte ausschweifend den Geschmack, segnete den Hof mit allem, was dazu gehört erneut und griff zu seinem langen Wanderstab, um aufzustehen. Ich aber hielt es nicht mehr lange aus und fragte ihn, was mit diesem Mann geschehen ist.
‚Mir ist zu Ohren gekommen, dass er ein Wanderer wie ich geworden ist, um die Antwort auf meine Frage zu verbreiten. Leider bin ich ihm nie wieder begegnet.‘ Er stand auf. Ich ebenfalls, um ihn zu verabschieden. Da legte er seine Hand auf meinem Arm und sagte: ‚Du aber bist eine Frau, und kennst die Antwort. Du hast schließlich zehn Welten da durchbekommen.‘ Und mir kamen die Tränen.
Langsam machte er sich auf, um den Hof zu überqueren. Ich hatte vergessen ihm noch ein Bündel mit Maisbrot mitzugeben, so ging ich schnell ins Haus, holte es und lief ihm hinterher, aber er war verschwunden. Weder im Hof noch den Weg hinunter oder hinauf sah ich ihn.“
Die Kühe hatten sich inzwischen merklich von uns entfernt. Großmutter stand auf und wir verließen die Runde ohne Abschied. Das war also das Geheimnis. Sie hatte zehn Mal die Welt durch das Nadelöhr durchbekommen, wozu nicht einmal ein heiliger Prophet in der Lage war. Und alle diese Geschichten kamen aus diesen Welten. So hatte ich gelernt, Großmutter nie zu fragen, sondern immer zu warten, bis sie anfing von sich aus zu erzählen.