Pupuze Berber

Zum Ewigkeitssonntag

Viele sind von uns gegangen. Denn, es gibt den Tod, es gibt die Toten. Wenn sie gehen, gehen sie, und doch gehen sie nicht ganz. Sie hinterlassen uns ihre Lücke, sie übergeben uns in ein Leben ohne sie, sie hinterlassen uns ihr Fehlen, ihr Nichtsein, unseren Verlust. Und in dieser Leere wird uns ihre Abwesenheit bewusster, wie es uns ihre Anwesenheit nie war; Trauer.

Ihre Abwesenheit hinterlässt uns Schmerzen, sie hinterlässt uns Trauer, die wie ein undefinierbarer Wust ist, ein Berg, ein Ozean, eine Wüste, ein Feuer, eine Ohnmacht, eine Wut, auch Verzweiflung, oft alles zusammen.

Wir Hinterbliebenen versuchen diesen Wust zu ordnen, zu teilen, zu strukturieren, zu analysieren und so jedem Gefühl Platz zu schaffen und Geleit zu geben in unserem individuellen Trauerprozess. Wir trösten uns mit Erinnerungen, lassen sie aufsteigen, oder sie kommen unerwartet, denn die Trauer lässt sich nirgends einsperren. Sie blitzt auf, wenn wir eine Strickjacke sehen, an einem Restaurant vorbeifahren, im Park spazieren gehen, Gedichte lesen, Träumen, Gedanken kreisen lassen.

Wir erinnern und denken, wir füllen die sichtbare Abwesenheit mit Erinnerungen und Andenken, erzählen uns, teilen uns Freunden oder Verwandten mit. Wir legen unsichtbare Pfade in die sichtbare Abwesenheit, wir gedenken gegen die Leere, verinnerlichen und verdichten Erzählungen, verschachteln und schichten Erinnerungen. Wir bebauen die sichtbare Abwesenheit mit ihren Geschichten.

Viele sind von uns gegangen. Und doch sind sie bei uns, in unseren Geschichten.

Vorgetragen am 24.11. in der Kreuzkirche Preungesheim, Frankfurt

Ein letztes Mal träumen

Ein letztes Mal in deinen Träumen…
Komm und flieg mit mir
Dein weißes Kleid zieht ein Gewitter hinter sich her
Die Beine glatt rasiert, an der roten Ampel
Feuchte Hände und die Lippen rot
Und Guten Abend,
Schön dass sie das sind

Ein letztes Mal in meinen Träumen…
Was redest Du da
Schweig, ohne mich bist Du nichts
Keine Schwalbe am Himmel
Der in zwei sich gerade teilt
Die dunklere wird siegen
Und Du mit dem weißen Kleid
Im Kopf das Lied
Wenn Gott einer von uns ist,

Jah
Jah
Gott ist groß
Warum muss das Knie bluten
Rot ist schön, wie Deine Lippen
Das Wasser schafft es nicht
Rot hinaus zu spülen

Ein letztes Mal mit uns in Träumen…
Wenn die Schwalbe nicht mag
Lass mich doch fliegen
So breite Deinen weißen Rock aus und lass Dich fallen
Die Musik im Ohr, Blicke um dich, lächle stets zurück
Eine Zigarette lang
Und danach ist ein Loch zwischen den Lippen

Ein letztes Mal in ihren Träumen…
Ausgedehnt ein Universum gleich
Feucht die Hände
Rot die Küsse
Blutig das Wasser
Oder ist das alles egal
Schau doch nach unten, du dummes Ding
Du fliegst doch schon

Die Ballade von der alten Frau und der Katze im Wald

Neulich treffe ich
eine alte Dame
am Rollator
und in Persianer
Wir steigen beide aus der U-Bahn

Sie hat Schwierigkeiten
ich eiligen Termin
aber ich helfe ihr
so gehen wir
langsam
nebeneinander her

Nach fünf Schritten
bleibt sie stehen
schaut mich an und
sagt:

„Ach, wissen Sie,
neulich treffe ich meine Katze im Wald
eigentlich ein Kater
Fritz sage ich
wie er da am Baum liegt
keine Ahnung,
ob Birke,
Eiche oder
Fichte?
Nein, nein
Tanne erkenne ich,
die war‘s nicht
Ich sag, Fritz sag ich
du alter Zausel,
du mochtest meine Männer nicht.
Aber die Fleischbuletten.
Wie du sie geschlungen hast,
weißt du noch?

Da sagt er, „ich bin doch tot.“
Ich sag, „das weiß ich doch.“

Der Rollator rollt wieder
wir laufen zum Aufzug
sie drückt den Knopf und sagt:

„Ach, wissen Sie,
neulich im Wald,
da traf ich meine Katze,
eigentlich ein Kater.
Wie er da liegt, unterm Laub
so viele Schichten
der endlichen Zeit
damals war ich ganz jung
Ich sag, Fritz, sage ich
du weißer Bengel,
hast mit meiner Wolle gespielt
und Löcher gewoben
mir ins Gedächtnis
Hab‘s dir doch verboten
weißt du noch?

Da sagt er, „ich bin doch tot.“
Ich sag, „das weiß ich doch.“

Wir fahren dann
mit dem Aufzug hoch
Darin kein Wort
Die Tür geht auf,
sie rollt hinaus.
Bleibt stehen und:

„Ach, wissen Sie,
neulich da traf ich den Fritz im Wald,
wie er da lag,
am Wegesrand.
Ich sag, Fritz sage ich,
Du beleidigte Leberwurst.
Warum dieses Schweigen
Hab‘s halt tun müssen,
es musste so sein.
Hör auf mit dem Zirkus

Da sagt er, „ich bin doch tot.“
Ich sag, „das weiß ich doch.“

Die Dame wendet sich ab und
geht in Zeitlupentempo fort


Moment mal,
denke ich,
da fehlt doch noch was
Mit zwei großen Schritten
habe ich sie eingeholt
Sie lächelte mich an:

„Ach, wissen Sie,
neulich im Wald,
da traf ich meinen Fritz.
Wie er da lag im tiefen Graben
das Herbstlaub über
Mund und Augen.
Ich sag, Fritz sag ich,
du alter Schwerenöter
gestorben bist du
durch meine Hand

Da sagt er „Ich bin doch tot“
Ich sag „das weiß ich doch,
sonst wärst du fort“

Eine Kindheit im Pontus (Teil 5 die Lüge)

Zu Fuß gehen mochte ich schon immer, insbesondere das Schlendern. Normalerweise gehe ich nur bei schönem Wetter raus, aber das bisschen Regen, dachte ich, und wer weiß, vielleicht ziehen die Wolken auch schon bald vorüber. Nichts ist von Dauer. Und die Unannehmlichkeit, in diesem so herrlich duftenden Frühling nass zu werden, war mehr als erträglich. Ich könnte jederzeit nach Hause gehen, eine warme Dusche nehmen und mir eine Tasse heißen Tee machen, mich einkuscheln auf der Couch. Beim Gehen hatte ich mäandernde Gedanken, denn zu Hause konnte ich nie etwas zu Ende denken, da war die Wäsche, der Staub, die nicht ausgeräumte Spülmaschine, die sich stapelnden Zeitschriften, die ungelesenen Emails. Da konnte ich nie so bei mir sein wie auf einem Spaziergang. Es war Freitag, und ich hatte frei.

Beim Gehen kreisen meine Gedanken um Erlebnisse, die aus den dunklen Tiefen der fast vergessenen Vergangenheit hochkommen, wie an einer Schnur befestigte Fotografien. Sie sind nicht chronologisch, sondern sprunghaft in der Zeit, doch kommen sie nacheinander am inneren Auge vorbei, wo das bewusste Denken sie beleuchtet, Details darin erkennt, die aus heutiger Sicht anders zu deuten wären. Möglicherweise waren sie schon damals ganz anders gedacht, nur dass während des Erlebens ich mittendrin war und lediglich aus einem sehr dünnen Verständnisfundus reagierte.

„Ihre Denkspulen sind runtergefallen und sind durcheinandergeraten. Ach, der Kopf ist schon sehr anfällig, und ihr denkt nur an eure Füße und schützt sie, dass sie nicht nass werden.“

Großmutter saß an ihrem Webstuhl, verknotete dünne Hanffäden an einem Holzbalken und zog sie dann durch einen feinen Kamm. Cicianne, die mit dem goldenen Zahn, war mit ihrer jüngeren Schwester Medeaba in der Stube bei Großmutter und sie halfen ihr, den Webstuhl aufzubauen. Es würde lange dauern, bis sie ihr kleines Schiffchen zwischen den Reihen der marschierenden Fäden hin und her schicken konnte, das ich so sehr liebte, weil dann Großmutter Geschichten erzählte. Manchmal bewarfen sich anwesende Frauen mit Liedern, so eine Art Gesangswettbewerb, in dem sie sich auf gegenseitige Schwächen bezugnehmend und zur Erheiterung der ganzen Runde lustige Liedtexte dichteten. Zwei habe ich versucht zu übersetzen:

Das Kleid, das du anhast
Ist es Seide oder was
Da, du trägst es ständig
Wann wäscht du es eigentlich

Gabs heute Bohnen bei dir
Der Wind roch allzu stark hier
Eine Horde Wespe, Fadime
Steche deine Lügen-Zunge

Im Winter, wenn wir in der Stube blieben, wenn dort sogar der Ofen gefeuert wurde, war die Zeit der Hochzeiten, Erzählungen, Gesänge und des Zankens. Sobald das herbstliche trockene Laub von den Hängen gefegt und in den Ställen als Schlafunterlage der Kühe gepackt war, war die Arbeit eines Jahres erledigt und es kam die gesellschaftliche Zeit. Ab da saßen die Frauen zu Hause und diejenige, die einen Webstuhl hatte, baute ihn auf. Und webte den ganzen Winter über, auch an ihren Erzählungen.

„Die Spulen müssen an ihrem Platz sitzen. Sonst wirst du irre im Kopf, redest dummes Zeug wie Heva.“  Niemand wollte so werden wie Heva, und ich wusste nicht, warum. Denn ich mochte Heva sehr. Sie war die einzige Erwachsene, die sich Zeit nahm und sich tuschelnd mit mir unterhielt, wie es andere Frauen untereinander taten. Sie erzählte mir von einem jungen Mann, den sie begehrte. Ich fragte sie, was sie von ihm wollte. „Heiraten“, antwortete sie, „und dann bekomme ich schlaue Kinder wie dich.“

„Heva war nicht immer Heva. Als kleines Mädchen habe ich sie sehr gescheit und vernünftig erlebt. Beim Allah, dem Mächtigen, Medea, du hast sie zu heftig geschlagen. Da müssen all ihre Spulen runtergefallen sein. Was helfen da die vielen Ärzte, Medea, spar dir jetzt dein Geld. Heva ist Heva, erzählt, was ihr gefällt. Wir kommen mit ihr klar. Aber du Medea, auf dich wartet die Hölle“, schimpfte Cicianne auf ihre hagere Schwester ein.
„Rede nicht! Heva habe nicht anders behandelt als die anderen Acht. Und warum sind bei ihnen die Spulen nicht runtergefallen?“ Medeaba wollte nicht an Hevas Zustand schuld gewesen sein, aber was war denn dieser Zustand? Nur weil sie sich mit mir unterhielt und mich ernst nahm? Waren deswegen ihre Spulen durcheinandergeraten?

„Sagen wir Heva habe ich geschlagen, aber was ist mit der Schwiegertochter von Hosrofun Ahmet? Hatce, kaum ein Jahr verheiratet, schon hat sie Maraz. Hab ich sie vielleicht auch geschlagen?“

Maraz war etwas ganz Schlimmes. Da schrien die Frauen laut, rissen sich die Kleider vom Leibe und rannten weg, so schnell, dass niemand sie einholen konnte. So wurde die Geschichte einer Alten erzählt, die der Maraz befallen hatte.

„Ach, die hatte keine Maraz“, griff Großmutter ein. „Sie hatte nur Sehnsucht nach ihrem Mann. Warum hat man sie auch nur hierbehalten?“

„Jemand muss Nafiyeba doch helfen. Einer nach der anderen haben die Söhne ihre Frauen zu sich nach Istanbul genommen. Und jetzt auch noch Hatce.“

Meine Mutter hatte Hatce als Braut geschmückt. Ich konnte mich an diesem unglücklichen Tag ganz genau erinnern. Sie hatte sich mit anderen Frauen ins Zimmer eingeschlossen und mich wieder nicht reingelassen. So saß ich vor der Tür und lauschte dem Wehklagen des jungen Mädchens, dem Gelächter der anderen Frauen und die Mahnung Mutters: „stell dich nicht so an, du siehst aus wie ein Äffchen. Du gehst zum Fotografen. Du willst doch hübsch aussehen. Er wird aus seinem Kasten kein schönes Foto von dir ziehen können, so behaart wie du im Gesicht bist. Die Haare müssen weg.“ Ja, so sprach sie, der Fotograf zog ein Foto. Das Verb im Türkischen, das fürs Fotografieren gebraucht wird, bedeutet tatsächlich „ziehen“.

Das Mädchen tat mir leid. Das sagte Mutter mir auch, wenn sie mir die Haare kämmte und ich schrie, weil der Kamm tiefe Rillen in meiner Kopfhaut zog. „Stell dich nicht so an, deine Haare sind hohol (zerzaust).“ So weinte ich jeden Morgen, weil meine Haare unbedingt täglich gekämmt werden mussten. Dabei waren wir nur einmal beim Fotografen gewesen.

Mein Onkel aus Karabük wollte von mir und meinem Bruder ein Foto als Andenken haben, denn seine Frau und er waren kinderlos. An jenem Morgen hatte Mutter mich besonders gequält und mir diese verhasste Frisur verpasst: eine Palme mitten auf dem Kopf. Und dann wurde Tipischs Wagen bestellt. Tipisch war Onkel Ismail, der Mann von Tante Rukiye, die sich bei jeder möglichen Gelegenheit über ihn beschwerte, und ihn aber trotz allem liebevoll Tipisch nannte. Erwachsene waren schon merkwürdig. Wir Kinder durften ihn nie so nennen, auch Großmutter und Mutter nannten ihn nur so, wenn sie untereinander waren. Sonst hieß er bei meiner Großmutter Sevkinin Ibrahim, (Sevkis Sohn Ibrahim) und bei Mutter Ibrahim Abi (Bruder Ibrahim), bei mir Ibrahim Amca (Onkel Ibrahim). Ich mochte ihn, weil er uns Bonbons aus der Stadt brachte und mit seinen schwarz polierten Schuhen kleine, tänzelnde Schritte machte. Vermutlich nannte ihn Tante Rukiye deswegen Tipisch, weil er so tipisch tipisch neben ihr lief und sie keine Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten.

Am Fototag herrschte zu Hause große Aufbruchstimmung. Mutter durfte nach dem Frühstück nicht mal den Abwasch machen. „Tipisch kommt gleich, macht euch bereit“, mahnte Großmutter. Und dann kam er mit seinem Auto, hupte, und wir liefen den Weg vom Hof auf die Straße.

Mein Bruder war ganz aufgeregt und fragte mich, wie der Fotograf von uns ein Foto machen würde. In der Hinsicht war er schon schlau, mich und nicht Mutter gefragt zu haben und ich war schon froh, dass Mutter in der ganzen Aufregung uns nicht die gleiche Behandlung wie Hatce zukommen ließ, denn die Arme war danach ganz rot im Gesicht. Vermutlich überließ sie es dem Fotografen. Es war je keine Hochzeit und das Foto war nur für meinen Onkel gedacht.

„Na, ganz einfach“, antwortete ich meinem Bruder, „er wird uns die Haut vom Gesicht abziehen und auf ein Stück Papier kleben“. „WAAAS?“, schrie er und fing an zu weinen. Der Arme, er kannte keinen Schmerz, denn er wurde am Kopf, wie alle anderen Jungs im Dorf, kahlgeschoren, und niemals hatte Mutter ihn mit dem Kamm traktiert, oder wie bei Hatce, mit was auch immer.

Er weigerte sich laut weinend ins Auto einzusteigen und wollte nicht zum Fotografen. Der Wagen hupte, Onkel Tipisch drängte, Mutter schnappte sich meinen zappelnden Bruder und stopfte ihn hinein. Doch er hörte nicht auf zu weinen. Onkel Tipisch gab ihm Bonbons. Solange er aß, war er still, sobald das Bonbon aufgelutscht war, fing er wieder an zu weinen. Bis wir beim Fotografen waren, hatte er eine Tüte Bonbons aufgegessen und weinte trotzdem. Im Studio wollten alle Erwachsene, inklusive dem Fotografen ihn trösten, doch er weinte weiter. Dann gaben sie alle genervt auf, er sollte eben auf seinem ersten Foto weinen. Sie setzten uns auf einen Hocker, ich umarmte ihn, denn er tat mir leid, aber ich mir auch. Wir waren ganz allein in einer Ecke des großen Raumes, die Erwachsenen, inklusive Mutter entfernten sich von uns, und begaben sich auf die andere Seite, wo sich der Fotograf unter dem dunklen Tuch hinter einem schwarzen Kasten versteckte. Da wurde es sogar mir mulmig. Ich kannte zwar Schmerz, und das mit der Haut hatte ich auch nur erfunden, das war also gelogen, doch da mein Bruder die ganze Zeit beharrlich geweint hatte, war ich mir nicht mehr sicher, ob meine Behauptung doch nicht richtig war. Weil sich sogar die Erwachsenen in Sicherheit brachten. Und so wurde unser erstes Foto überhaupt nicht hübsch, was Mutter sehr ärgerte: Mein Bruder mit offen weinendem Mund und entsetzt schauenden Augen, ich mit eingesogenen Lippen und skeptisch-ängstlichem Blick, von der eigenen Lüge erwischt und bestraft.

Der Dichter oder The Blues of 29th Februar

Warum noch schreiben, darum schreiben. Die onanistische Schreibmaschine von Conroy Maddox, jede Taste ein schmerz, schreiben, bis die Finger bluten, schreiben, bis nichts mehr geht, Masochismus, exorbitant. Kotzen bis der Magen sich umdreht, danach ab in die Waschmaschine und es wird wieder alles rein, sauber.

Die Sonne scheint, und die Fische springen, deine Mutter ist schön, und dein Vater ist reich, so reich Baby, don’t cry… Erinnerung an das Vergessen, Erinnern und Vergessen, Vergessen zu erinnern, so ähnlich, in der Stadt schreien die Kinder, ein Vogel schwebt über den Wolken, träumen, alles nur träumen. Eine Maskerade, Karneval, Pappnasen überall, Hellau und Allaf, weine nicht kleine Maus, die Puppe ist weg, es ist gar Abend, mach doch die Suppe heiß, verbrenne Dich nicht beim Essen, puste, puste gut. Deine Zunge ist in zwei geteilt, die eine lügt die andere leckt. Metamorphose, Schmetterling, ein voller Bauch, da ist kaum noch Platz.

So sei doch um Himmelswillen laut, schrei Kind, an der Haltestelle, die Busse streiken wieder, der letzte ist auch schon fort. Ein Baum in Knospen, die Freude ist groß, Frühling ist die Lust, schreien und lachen, Gott war das schön, das Schreiben, das Tun, streicheln den Punkt, Gott, bist Du gut. Taschen voller Geld, keine Liebe in Sicht, ein Schiff in der Ferne, und wer kommt? Dicke Titten und eine rasierte Vagina treffen sich in der Mitte, und sprechen über Gott und auch über den Teufel.

Der Greis, fast kahl am Kopf, geneigt das Haupt, geht die Straße entlang, Gnade, Gnade und der Tod kommt auch bald. Fanfaren zur Hilfe, es brennt die Zigarette, die letzte ist doch ausgedrückt, das Fleisch ist kalt, warten, warten, dann kocht die Mutter die Suppe, da ist auch Fleisch drin. Freude war und doch nicht wahr, nicht zum Anfassen, alles Replikate, von wen nur? Alsbald wird es wahr, die Welt dreht sich auch so, die Sonne scheint, der Regen kommt, die Wolken schwenken ihren Hut, Adieu, es war schön mit Euch, sagt die schwarze Katze und leckt sich die Pfoten.

Mein ist die Sprache, mein ist Kunst, mein ist der Wein, mein ist… ach es sind so viele, es fließt der Main, unergründlich zum Rhein, die Stadt ist immer noch da, schön nicht aber sie ist da. Kalt ist das Fleisch in tausend Stücke zerhackt, warte, warte auch zu dir kommt der Hamann, oder so ähnlich, mit seinem Hackebeilchen, warte noch, noch ein Weilchen. Der Flieder blüht bald in seinen Gärten, auch die Blumen in Mutters Gärten, so schön doch, Hortensien, so schön, Friedhofsblumen hierzulande, sie wachsen doch nur im Schatten.

Mamas Kind weine nicht, Fliegen ist schön, sagt die Schwalbe und fliegt doch nur bei gutem Wetter, an der Mauer entlang, in der berühmten Stadt. Der Dichter macht einen Spaziergang, nimmt den Waldweg, an der Schneise trinkt er ein Bier, rülpst laut und sagt, Gott Erhalts, zieht den Roch hoch, Spazierstock und Gretchen, du hast die Milch verschüttet, so böses Kind, ich schick dir den Teufel an den Rock.

Onanie, Onanie, welche eine Wonne mit dir, schreibe mir bald, du Heiland, schreibt der Dichter in seiner Kladde, zieht die Schuhe aus, läuft barfuß aufs Moos, so grün, es sind alles Geldscheine, Dollarnoten, Geld in den Taschen, Handbillard, nichts mehr. Ein Schiff in der Ferne, bald Hortensie, Maiglöckchen, Vergissmeinnicht, Veilchen, Butterblumen, bald seid ihr dran, alle Mann an Bord, Captain Ahab wartet nicht, auf und davon. Der weiße Wal schwimmt dort, so schön, so mächtig, ach ihr Habenichte, kommt her und leckt mir die Füße, ich der Große Magier, und but but but ihr Hühner, gackert nicht allzu sehr, ich fick Euch mit der Möhre.

Zufrieden sind die Besitzlosen, die Lumpen dieser Welt, die Trinker an der Ecke, die Frau mit zerfurchtem Gesicht, der Mann mit Gicht, die Flasche kann er halten und die Kippe noch an der Trinkhalle. Ach Götter, schreibt der Dichter, lüftet seinen Rock, es ist ein wenig licht, der Wald, ach seufzt er, warum der ganze Schabernack, ich habe doch gedacht, alles hat ein Ende. Nein, sagt der andere, es gibt doch bekanntlich die Wurst, gemacht aus Fleische der Sau und ihres Blutes, die hat doch bekanntlich zwei. Und so zieht der Dichter fort, steckt in die Tasche die Puppe, den Lumpen und die Habenichte, den Schwalben und die Wolken, das Moos und die Fotos, zieht umher, humpeln und grummelnd, war mal wieder nichts, alles für die Katz und Kladde.

Zwischen Fisch und Nudeln

21. April, 2012, 10:15 Uhr. Eingang Edeka Markt. Heute habe ich die erste Vorstellung meiner Bilder in einem öffentlichen Raum, zu einem öffentlichen Publikum (wie es dazu kam ist eine andere Geschichte). Ich bin gut drauf nur etwas aufgeregt, meine Hände schwitzen. Dabei muss ich dem Spletti noch die Hand geben. Beim Eingang jedoch verblasst meine Euphorie. Der mir zugesprochene Platz zwischen Lottoannahmestelle und Bistro ist bereits belegt  (ein Sektanbieter aus Deutschland). Früher Vogel fängt den Wurm, denke ich und fluche innerlich. Und ganz in der Ferne winkt mir auch Gerald von der Kasse zu. Mein erster Gast ist schon da und ich habe nicht mal einen Stand. So an Misst, aber Spletti, der Marktleiter hat immer eine Lösung, und so lande ich auf die Fläche zwischen  Fischtheke und Nudeln. Da stelle ich meine Werke auf. Gerald hilft mit, den Stand aufzubauen, mit dem Gesicht zum Fisch, entgegen dem Menschen-Fluss im Supermarkt.

Bevor der erste echte Kunstliebhaber zu mir kommt, sind schon fast alle Freunde da. Noch ist alles easy, noch sind alle da, wir scherzen wie auf einer Party.  Später stehe ich da alleine, meine Füße werden kalt von der Kühlgebläse der Fischtheke, den ganzen Tag auf 12 cm. Was macht man nicht für die Kunst. Aber, ich habe Glück und schon kommt eine Dame auf mich zu, eine pensionierte Studienrätin, denke ich, mit erhobenen Augenbrauen, betrachtet das Gemälde meiner Tochter und fragt. „Was haben Sie sich dabei gedacht?“. „Ehm, ja, ich, nun, wie soll ich sagen, ich meine, Sie sehen, hmm, ehemm…“, ich hatte mich auf jede mögliche Frage vorbereitet, hatte mir die gesamte Kunstgeschichte zu Recht gelegt, wollte erzählen, dass die Kunst immer ein Spiegelbild ihrer Zeit sei, bla bla,bla. Sogar auf Negatives wie, was „für ein Scheiß“ war ich vorbereitet. Nun stehe ich da und bin mit dieser Frage völlig aus der Bahn geworfen. Was hatte ich mir dabei gedacht? Nichts. Ich hatte meine Tochter portraitiert. Die Dame sah mir in die Augen, sah sich das Bild genauer an und antwortete selbst. „Sie müssen Ihre Tochter sehr lieben, auch wenn sie bockig ist und oft schmollt, und ihren dicken Kopf durchsetzten möchte, sie haben das ja sehr schön in Bild umgesetzt wie man sieht. Und dass sie Gold verwendet haben dabei, als Anlehnung an das Goldene Kalb, das Aaron den Menschen als Gottesersatz gab als die danach verlangten.“ Ich war nun ganz sprachlos, nickte mit dem Kopf, sie wird es schon wissen was ich mir dabei gedacht hatte.

Diese Unterhaltung ist allerding schon auch der Höhepunkt des Tages, qualitativ betrachtet. Sonst stehe ich da, einfach so, starre in die Menge, die von der Fischtheke mir entgegen strömt, langsam und bedächtig den Einkaufswagen schiebend, denke noch an die Unmengen von Postkarten, die ich drucken ließ als Giveaway mit meinen Kontaktdaten. Keiner kommt vorbei und will welche haben, außer Kleinkinder. Nicht gerade die Zielgruppe aber immerhin eine willkommene Abwechslung für mich.

Wie ich da stehe und nichts tue als dazustehen und nichts tun,  fühle ich mich ein wenig wie Marina Abramowic: bestens platziert,  sichtbar zu jedem, aber von keinem angesprochen, obwohl sie alle diesen fragenden Blick haben „was macht die da bloß?“ Zugegeben, es ist auch nur die Edeka und nicht die Moma und ich bin weniger asketisch als Marina: ich gehe auf die Toilette, stehe fast stündlich draußen vor der Tür, schnorre hier und dort eine Zigarette, nehme vom Sektmann,  jedes Mal ein Glas Sekt mit, als Kompensation, für meinen eigentlichen Stand. So viel zu meiner Performance.

Und die Fakten? Bruttokontakte ca. 1.500 (0-99); Nettokontakte vier, davon ein Irrläufer (Original-Zitat „ach, Sie haben die Bilder von der Postkarte abgemalt“), und einer, der mehr an mir persönlich interessiert war als an meinen Werken; verteilte Karten 20 Aufträge 0, eine Erfahrung fürs Leben.

Eine Kindheit im Pontus (Teil4 Regen)

Regen. Er war und ist schon immer meine Verbindung zur Kindheit gewesen. Wann auch immer ich aus der Haustür hinaustrete in den Regen, die Art, die stetig, ehrlich und gleichgültig niederkommt, in dünnen, geraden, fast unsichtbaren Fäden, denke ich, „ach ja, wie damals im Dorf“.

Der Regen war in meiner Kindheit stets unaufgeregt, tobte selten, aber wenn dann heftig, da half dann auch kein Schirm mehr. Oft gab es diese tosenden Stürme im Sommer – nicht dass es bei uns so richtig warm wurde! Wenn aber doch, dann war es eine klebrige Schwüle, und wir hofften, dass es nicht allzu lange dauerte und der Himmel uns bald erlösen würde. Und wenn es dann soweit war, goss es schlagartig wie aus Kübeln, so dass die Frauen es nicht schafften, die trockene Wäsche von der Leine zu holen. Alles wurde augenblicklich nass. Nach kurzer Zeit war dieser Wutausbruch auch schon vorbei.

Bei einem Platzregen, egal wo ich ihn erlebe, kommen keine Erinnerungen hoch. Ganz anders eben bei einem entspannten, stressfreien Regen, der einfach da war, wie die Türschwelle, die Feuerstelle, die Kühe im Stall, Mutter, Großmutter und die aneinander gereihten Tage, die wie die Perlen an Großmutters Gebetskranz leise klickend vorüber gingen. Niemand regte sich auf, wenn es regnete, auch der Regen nicht. Er hatte einen entspannten Sound, ein flüsterndes Rauschen, das vom Himmel kam, und auf Dachziegeln niederfiel, auf Bäume, Holzscheite, im Hof vergessene Blechtöpfe, Tonkrüge und brachte sie dann zum Singen. Die Kühe, die an solchen Tagen im Stall bleiben mussten, muhten ab und an traurig dazu. Und so wurde aus dem gleichgültigen Regen ein gut orchestriertes Musikstück, der in jedem Hof seinen eigenen Klang hatte.

„Hängt Weiß nach der Hebamme!“ schrie Cicianne, die mit dem goldenen Zahn, hinten aus der Wohnstube heraus und gab so dem trägen Tag endlich ein richtiges Ereignis. Tante Seyhan sollte ihr Baby bekommen. Ihr Bauch war zum Platzen groß gewesen und die Alten murmelten, dass es doch längst höchste Zeit war. Großmutter sprang von ihrem Schemel hoch, legte zwei Holzscheite ins Feuer und ging nach draußen vor die Tür. Mutter kam mit einem weißen Bettlaken herausgelaufen, das sie auf die Wäscheleine in den Regen hing und laut durch ihre beiden Zeigefinger pfiff, bis vom gegenüberliegenden Hügel eine schrille Antwort kam.

„Hah, Kanacaba hat dich gehört. Sie schickt nach Kalacin Emine. Schnell. Setz du den Kessel mit Wasser auf. Ich bin unten bei Karabey. Das zungenlose Tier braucht mich jetzt“, sagte Großmutter. Und als sie sah, dass ich mich ebenfalls hinter Mutter auf dem Weg ins Haus machte, rief sie mir zu: „Du wartest hier auf die Hebamme.“

„Ich will doch das Baby sehen.“

„Geduld, du braucht mehr Geduld. Es ist nicht einfach, einen Menschen zu gebären. Das dauert. Tu was ich dir sage. Setz dich hier hin und warte.“ Sie nahm einen Schemel und setzte mich an die Türschwelle, dem Regen zugewandt, bevor sie zu ihrer Lieblingskuh in den Stall ging, über die sie ständig sagte: „So Gott will und sie gesund wird, werde ich sie dieses Jahr zum Fest opfern“, und Mutter jede Gelegenheit nutzte, um hinter ihrem Rücken zu ergänzen: „Doch als Karabey gesund wurde, wollte sie viel lieber gedeckt werden und verzichtete auf eine Seele im Jenseits.“ Folglich musste Großmutter in diesem Jahr Dursana opfern, die sie so gar nicht leiden konnte. Daher auch der Name, Dursana, der „Bleibstehen“ bedeutet, weil diese Kuh uns immer Kummer bereitete, weil sie anstelle von frischem Gras oft den Kohl und die Bohnen am Wegrand fraß, wenn wir mit Kühen unterwegs waren.

Am besagten Opferfest war Großmutter nicht beseelt wie sonst. Als Mutter mit Kavurma, dem frisch gebratenen Fleisch des gerade geschlachteten Tiers den Frühstückstisch deckte, wandte sich Großmutter wehleidig zu ihrer Schwester Hashatun: „Möge Allah mir meine dummen Gedanken verzeihen, aber wenn ich mir vorstelle, dass mich diese störrische und eigensinnige Kuh im Jenseits begleiten wird. Ich wollte doch viel lieber meine Karabey bei mir.“

Sie aß wenig vom Fleisch und verzog jedes Mal den Mund, wie ich, wenn ich gekochte Bohnen essen musste. Großtante Hashatun war ein zu fröhlicher Mensch und konnte sehr witzig fluchen. „Ich pupse vor deine Nase. Was machst du für ein Gesicht. Hast du denn diesseits keine Sorgen mehr, dass du an deine Kühe im Jenseits denkst? Iss auf, ich will gleich noch tanzen.“

„Untersteh dich, wo du gerade den siebten Mann begraben hast.“

„Ich begrab noch den achten. Wer will mir das Tanzen verbieten.“ Und schon stand sie auf und nahm mich an der Hand. „Komm, wir machen eine Runde Tepetopuk.“ Sie stellte abwechselnd einen Fuß auf die Zehenspitze, schoss mal die rechte und mal die linke Hüfte hoch und schnippte mit den Fingern im Rhythmus dazu, während sie die Arme weit ausgebreitet hatte, als wollte sie fliegen. Und ich wirbelte jauchzend um sie herum. Großmutter schimpfte nun über ihre verrückte ältere Schwester und grämte sich weniger um ihre Kühe im Jenseits, die eine Seele bekamen, wenn sie geopfert wurden.

So hatte Karabey nun auch einen dicken Bauch, weswegen Großmutter bei ihr war und ich lange an der Türschwelle in den Regen schaute. Bis eine rundliche Frau wiegenden Schrittes daherkam. Ich sprang auf.

„Bist du die Hebamme?“

„Wer sonst. Dich habe ich auch rausgeholt. Ich habe euch alle rausgeholt.“ Sie blieb neben mir stehen, öffnete ihr langen Kopfüberwurf und schlug die Enden auf ihrem Rücken.
„Wie groß du geworden bist. Ich hatte es dir nicht zugetraut zu überleben, so winzig warst du bei deiner Geburt. Aber, siehe da, du bist wohl sehr ehrgeizig.“ Sie tätschelte meinen Kopf und ging hinein. Ich lief hinterher, aber Mutter hatte sie schon erwartet und schlug die Tür zur Gebärstube vor meiner Nase zu. 

„Ich will das Baby sehen!“, rief ich und boxte gegen die Tür. Doch niemand reagierte. Ich ging also wieder nach draußen und setze mich auf meinem Schemel an der Türschwelle. Ich war wütend auf Mutter. Das machte sie immer so. Nie durfte ich dabei sein, immer wurde ich weggejagt. Dabei wollte ich doch zusehen, woher das Baby kam. Und dann fiel mir ein, dass ich ein Mädchen war und irgendwann eine Frau sein würde, wie sie alle. Ich hatte also alles, was sie auch hatten. Ich lief in unser Zimmer, stelle mich vor dem Spiegel, zog meinen Kleidchen aus, schob das Unterhemd hoch und schaute auf meinem Bauch. Und sah es sofort: den Bauchnabel! Natürlich, die Hebamme hatte ja gerade gesagt, sie hat mich da rausgeholt. Nachdem ich das geklärt hatte, bastelte ich mir eine Stoffpuppe, die ich unter meinem Unterhemd trug und lief zur Großmutter in den Stall. Sie saß auf dem Futtertrog und sprach leise mit Karabey, die ein kleines Kälbchen leckte.
„Karabey hat ihr Kälbchen“, rief ich und eilte zu ihr. Doch Großmutter hielt mich auf.
„Schhht, nicht so laut.“ Sie winkte mich zu sich und so schauten wir beide zu, wie das Kälbchen langsam aufstand und an die Zitzen der Mutter ging. Es war hellbraun, hatte so hübsche Augen mit dichten Wimpern und auf der Stirn einen dunklen Fleck, das aussah wie ein Gänseblümchen.
„Das ist das schönste Kälbchen, das ich je gesehen habe“, sagte ich und – zugegeben – es war auch mein erstes, an das ich mich erinnern konnte.
„Allah zürnt mir, es ist ein Stierkalb, ein nutzloses Tier.“
„Kann ich es haben, wenn du es nicht behalten willst?“
„Du musst dich aber um ihn kümmern.“ Ich versprach es ihr hoch und heilig und nannte es Blümchen.
„Ist die Hebamme gekommen?“
„Ja, sie haben sich wieder ins Zimmer eingeschlossen.“
„Ob das gut geht“, murmelte sie und stand auf.

Als wir ins Haus gingen, bog Onkel Osman von der Straße zum Hof ab. Jemand musste ihn unterrichtet haben, weil wir ja noch das Weiß hängen hatten. Mutter nahm Großmutter mit, und ich lief hinterher. Die Tür stand offen, Tante Seyhan lag verschwitzt im Bett, ihr Oberkörper aufgerichtet. Cicianne putzte ihr übers Gesicht, gab ihr Wasser zu trinken und strich Ihr die Haare nach hinten, während die Hebamme etwas Kleines in einem weißen Laken wickelte.
„Wo ist das Baby?“, fragte ich leise, denn niemand sprach.
„Ein hübscher Junge. Sie muss ihn schon lange tot getragen haben, die Haut war schwarz angelaufen, kam sehr schwer raus. Wir mussten zu zweit kräftig drücken“, flüsterte die Hebamme zu meiner Großmutter und ging mit gesenktem Kopf und dem weißen Päckchen aus dem Zimmer. Draußen schmiss Onkel Osman seine Zigarette auf dem Boden und nahm das weiße Bündel wortlos entgegen. Er holte einen Spaten aus dem Schuppen und lief den Hang herunter, zu einem kleinen Apfelbaum. Dort direkt am Stamm begrub er sein namenloses Kind.

Niemand schien mehr später an den Jungen zu denken. Wenn er gelebt hätte, wäre er vier Jahre jünger als ich. Die Tage gingen wieder geräuschlos vorbei, wie alle Tage zuvor.

Der Regen blieb.

Ein ausgenuckelter Roman

„Mann, was für eine Enttäuschung! Bist doch selbst schuld!“ schimpfte ich mit mir. „Was für eine mega Demütigung musstes du ertragen! Sie steht einfach auf und setzt sich woanders hin. Was denkt sie sich, wie ich mich da fühle. Diese dumme Kuh! Nur ein Sachbuch hat sie geschrieben. Und was ein Schlechtes! Mit den Zahlen des statistischen Bundesamtes. Nimmt dessen Tabellen, dichtet eine Story dazu und prophezeit damit die Zukunft. Die blöden Medien haben sie wohl so gehypt, dass die Gute ihre Manieren vergessen hat.“

Das Taxi ließ die Lichter der Wolkenkratzer im Nachthimmel hinter sich. Eine Anfreundung mit der Autorin bei ihrer Lesung im 34. Stock hätte für meinen ungeschriebenen Roman ein schöner Anfang werden können. So von Autorin zu (Fast-)Autorin, hätten wir uns doch austauschen könne. Und was macht sie? Setzt sich einfach woanders hin, als wollte sie mir sagen „Halt die Klappe“ (halten Sie den Mund!).“

Ich, dumme Gans, zahlte auch noch Eintritt und ließ mir das blöde Buch signieren. „Warte nur, bis ich meinen eigenen Roman geschrieben habe.“ Ich werde nämlich eine berühmte Schriftstellerin und sie wird sich in eine Schlange einreihen müssen, um ein signiertes Exemplar meines neuen Romans zu bekommen. Da werde ich sie erst einmal mit erhobenen Augenbrauen fixieren. „Du hast lange nichts Neues geschrieben. Hat das statistische Amt nichts mehr zu bieten? Geh doch einfach zum Finanzamt, die haben auch Zahlen.“ Gönnerhaft und sehr unleserlich werde ich dann „für Lisa, Tabellenmärchentante“ ins Buch kritzeln und es ihr zurückgeben.

Während ich solche Pläne in meine Zukunft hineinschmiedete, löste sich die Wut auf diese Frau in eine wohlige Müdigkeit auf. Zukunftspläne waren schon immer mein Nuckel gegen die Gegenwartsohnmacht gewesen. Hatte mich in der Schule eine Mitschülerin geärgert, verzog ich mich gleich in eine Ecke und grübelte darüber nach, wie ich es ihr später heimzahlen würde. Ich machte ständig Pläne und nie ist einer wahr geworden. Trotzdem behielt ich meinen Nuckel. 

Das Taxi hielt vor meinem Wohnblock an. Endlich konnte ich zu meiner Katze Paula gehen und mich schlafen legen.

Am nächsten Tag war ich völlig geflasht. Ein Instagram-Bekannter bat mich darum, seine entfernte, ältere Verwandte (eine sehr erfolgreiche Schriftstellerin und Literatin!) zu helfen, die in meiner Stadt wohnte. Ich sollte ein Facebook-Account für sie einrichten und sie in die Nutzung von Social Media einführen. Davon hatte sie keine Ahnung, wollte aber trotzdem ein Konto, um mitreden zu können (und um ihr Wissen mit der Welt zu teilen!). Ob ich denn aushelfen wollte… Er könnte mir ihre Telefonnummer geben. Was für eine blöde Frage. Das Schicksal hatte mir eine Riesenchance gegeben. Ich sah mich meinem Ziel, einen Roman zu schreiben, näherkommen als jemals zuvor. Also rief ich die Autorin noch am selben Tag an und besuchte sie am darauffolgenden.

Da lagen 40 Jahre zwischen uns. Ich sehr aufgeregt, sie ganz gechillt. Wir machten uns an die Arbeit. Ich legte für sie ein Profil an, mit einem sehr vorteilhaften Foto von ihr (am Tisch ein Buch lesend) und klärte sie über Like-Phänomene auf: „Babykatzen und Welpen, in Herzen gerahmte Portraitbilder, blinkenden Blumen! Das zieht alte einsame Herren an! Finger weg!“ Anschließend zeigte ich ihr wie sie nach Personen suchen konnte. Im Minutentakt fand sie irgendjemanden, den ich nicht kannte, klickte auf „FreundIn hinzufügen“ und eilte schon wieder zum nächsten Bekannten. Ab da war sie kaum ansprechbar. Ich langweilte mich, und wusste nicht, ob ich einfach gehen sollte, blieb aber doch. Von dieser Begegnung sollte immerhin auch was für mich herausspringen. So leicht würde ich nicht aufgeben. Sie sollte mir als Gegenleistung etwas von ihrem Wissen abgeben und mich bei meinem angefangenen Liebesroman beraten. „Du kannst mich immer anrufen, wenn du Fragen hast“, versicherte ich ihr beim Abschied.

Sie rief nicht an. Ich lud sie am nächsten Tag zu einem Kaffee ein. Das Treffen sollte an einem Ort sein, an dem sie nicht einfach so im Computer verschwinden konnte. Ein recht plüschiges „Oma-Café“ war genau das richtige. Da würden wir uns gegenübersitzen und sie müsste sich dann wohl oder übel auch mit mir und meinen Belangen beschäftigen. Sie hatte schlechte Augen und so dürfte ich ihr in der Tat die wenigen Zeilen meines Romanentwurfs vorlesen. „Eine unsäglich langweilige Geschichte“ tadelte sie mich lautstark, worüber ich mich besonders freute. Denn, sie war ja keine Freundin, die mich mit Lob loswerden wollte. Sie war eine Schriftstellerin, und setze sich mit meinem Text auseinander. Ich sog ihre Worte auf wie Zewa Wisch und Weg das Wasser (zu abgedroschen und langweilig!), oder wie meine Hightech-Binde die Monatsblutung (das ist keine Metapher, das ist neumodisches Gender-Geplapper!)

Nun hatte ich endlich die Gelegenheit a) meinen Roman mit entsprechend fachlicher Unterstützung zu beenden und b) über sie andere Schriftstellerinnen kennen zu lernen. Also musste ich unsere aufkeimende Bekanntschaft über das Facebook-Anlernen hinaus vertiefen.

Auf jede ihrer Wünsche ging ich ein. Da sie in ihrem Alter nicht gerne unterwegs war, besuchte ich sie häufiger in ihrer Altbauwohnung, die sie mit ihrem Mann bewohnte. Da saß ich also stundenlang vor einer Tasse kaltem Tee, aß den mitgebrachten Käsekuchen, (den sie so liebte) und war einfach nur glücklich. Die berühmte Schriftstellerin nahm sich Zeit für mich, unglaublich. Ich zeigte ihr die überarbeiteten Versionen meines Romans, und sie erzählte mir von ihren Facebook-Abenteuern. Inzwischen hatte sie nach entfernten Familienmitgliedern gesucht und vergessene Kommilitonen gefunden. Ich freute mich für sie (dass sie so schnell lernte) und auch für mich. Hin und wieder durfte ich erneut vorlesen: „Sie zog nervös an ihrer Zigarette und…“ „Was? Rauchende Frauen, gaaanz schlecht. Klischeehafter Mumpitz!“ Erneut haute sie mir die überarbeitete Version um die Ohren. Das machte mir aber nichts aus. „So wie sie Facebook von mir gelernt hatte, werde ich von ihr Schreiben lernen“, tröstete ich mich im Stillen, und hoffte bald schon Fortschritte machen zu können, damit sie nicht abermals mit groben Worten über die ausgedruckten Seiten herfiel (Was schreibst du so lange Sätze? Du bist doch kein Musil!).

Ach, es waren glückliche Tage! Bis spät in die Nacht erzählte sie mir von ihren Facebook-Diskussionen und beendete sie mit: „Alles Idioten!“ Zuhause ging ich mit der kuscheligen Zufriedenheit ins Bett von ihr zu lernen. Inzwischen war sie für mich nicht nur eine Schriftstellerin; sie wusste sehr viel, hatte zu jedem Thema eine Meinung und verteidigte sie hart. Nach kurzer Zeit hatte sie es geschafft, auf Facebook mehr Nutzer zu blockieren als Freunde zu gewinnen (das Blockieren hatte ich ihr gezeigt, falls sie Fotos von entblößten männlichen Genitalien bekam. Und sie bekam so viele!) Ich tröstete sie: Es gäbe noch genug Menschen auf der Welt. Warum nicht einfach Unbekannte kennenlernen? „So wie wir beide“, dachte ich und lächelte süß in mich hinein.

„So wie sie will ich auch werden, wenn ich alt bin“, dachte ich. Eine Frau voller Weisheit und Wahrheit. Eine starke, graue Eminenz. „Ich möchte genauso strahlen und Jüngere um mich herum haben. Ich will denen all mein Wissen weitergeben, so wie sie mir.“ (Ich werde dann nicht mehr an weltliche, profane, vergängliche Dinge hängen, wie jetzt, sondern heldenhaft nur noch für die Wahrheit kämpften, wie sie.) Allerdings gab es bis dahin einen weiten Weg, der noch vor mir lag. Ich, die kleine Angestellte, wollte schreiben. Nicht nur unfreundliche Emails und Abmahnungen wegen nicht bezahlter Rechnungen, nein, es sollte ein Roman geschrieben werden, der mir Ehre und Ruhm bringen würde.

Inzwischen waren wir enger vertraut. Sie rief mich täglich an. Oft war sie angetrunken. Das erkannte ich an ihrer besonderen Heiterkeit. Sie berichtete weiterhin ausgiebig von ihren Begegnungen auf Facebook. Und eines Tages schrie sie mir ins Ohr: „Stell dir vor, ich habe meinen Professor gefunden!“ Ich kräuselte die Stirn. Wie alt mochte er sein, wenn sie 69 war? Fragen wäre unhöflich und ich wollte sie nicht unterbrechen. Wie ein junges Mädchen ließ sie sich über ihre Uni-Abenteuer aus, als wäre sie gestern noch dort gewesen. „Er sagte, Gisele, Schätzecken, du bist keine Gisela, nicht wahr, du bist Gisellechen, das sieht man doch.“

Ein paar Tage später schlug sie mir vor, sie bei ihrer bevorstehenden Lesereise zu begleiten. „Wir treffen uns morgen um drei im Oma-Café. Dann erzähl ich dir alles“, sagte sie knapp und legte auf. Ich war so happy auf die bevorstehende Reise, dass ich mich nicht fragte, warum wir uns im Café und nicht – wie üblich – bei ihr zu Hause treffen sollten.

Dort erfuhr ich schließlich den Grund. Diese Lesereise war eigentlich keine Lesereise. Sie hatte den geplanten Ausflug am Telefon nur als solche getarnt, weil ihr Mann zugegen war. Bei Kaffee und Käsekuchen servierte sie mir die Wahrheit: Sie sei in ihren Professor verliebt. Er war damals leider verheiratet gewesen, aber: „Stell dir vor, er ist jetzt Witwer!“

Während ich ihre letzten Sätze im Kopf zu ordnen versuchte, fuhr sie fort: „Jetzt ist endlich meine Gelegenheit gekommen. Ich werde ihn besuchen, und du wirst mich begleiten. Wir nehmen den Zug. Du weißt, ich kann nicht gut sehen, dazu noch mein Hüftleiden. Ich übernachte bei ihm, du übernimmst mein Hotelzimmer.“

“Mann, was war das jetzt? Bin ich nur ihr Alibi? Ich muss was tun!“, beschloss ich später in der Straßenbahn. Zu Hause, noch im Mantel, setzte ich mich hin, und schrieb diese Kurzgeschichte. Im Speisewagen des Zugs, auf dem Weg zu ihrem Liebestreffen überreichte ich ihr dann meine in Schriftgröße Arial 18 ausgedruckten Blätter. „Weißt du, Gisela, ich habe es mir anders überlegt. Wir vergessen mal den Roman. Ich habe etwas ganz Neues geschrieben. Lies doch mal und sag mir, was du darüber denkst.“ Sie setzte ihre Lesebrille auf, nahm einen roten Stift aus der Tasche und begann im Text Korrekturen vorzunehmen. (Diese habe ich für die Nachwelt kursiv in Klammern drinnen gelassen.) Danach gab sie mir den Papierstapel zurück und bestellte vom vorbeigehenden Schaffner zwei Piccolo. „Siehst du Schätzchen, daraus wird ein Schuh. Schreib weiter so! Prösterchen!“

Eine Kinheit im Pontus (Teil2: Hizir)

Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Ich beschloss, eine etwas längere Route zu gehen, anstatt die übliche Runde. Also nahm ich den Weg geradeaus, hinunter zur Autobahnbrücke und dann an den Schrebergärten entlang, die teilweise so urig waren, dass ich völlig vergessen konnte, in Frankfurt zu leben. Auf einem Grundstück sah ich sogar ein Pferd, das gemütlich alles fraß, was es dort finden konnte. Auch die Kohlpflanzen mussten daran glauben, die sich gegen den harten Winter gestemmt hatten, nur um dann im Frühjahr von einem Pferd verspeist zu werden. Ich fragte mich, ob sich die Besitzer der Kleingartenanlage wegen des Kohls nun ärgern würden, oder ob sie das Pferd absichtlich in diese Parzelle gelassen hatten. Dem Pferd war das sicherlich egal. Von den Blättern des übrigen Kohls prallten dicke, schwere Tropfen auf die ohnehin schon nasse Erde herunter.

Die einzige Möglichkeit, der Kindheit zu entkommen, war erwachsen werden, dachte ich. Und oft fragte ich mich, wie ich das alles überstanden hatte. Offenbar war ich wie dieses Kohlblatt, und der Niederschlag prallte an mir ab. Egal wie stark er war, konnte er mich doch nicht durchdringen. So begriff ich viele Ereignisse damals nicht, nur die Spuren sind übriggeblieben, die nun dieses merkwürdige Gefühl entstehen lassen, wenn ich darüber nachdenke, wie damals mein Leben und vor allem das Verhältnis zu Erwachsenen war. Sie lebten fern, außerhalb meiner Reichweite, was die Verständigung betraf. So dürfte sich ein Mensch fühlen, wenn er auf einen anderen Planeten geschossen wird und er dort nur noch Fragen hat.

Mutter gab mir stets eine Antwort. Auch wenn sie, wie ich feststellen musste, nicht korrekt waren und mich in vieler Hinsicht zu seltsamen Irrungen und dummen Wirrungen verleitet haben, so stand bei ihr nie eine meiner Fragen unbeantwortet im Raum, ganz im Gegensatz zu meiner Großmutter.

„Geh und spiel mit deinen Altersgenossen, von solchen Sachen verstehst du nichts“, versuchte sie mich wegzujagen. Und irgendwann hörte ich auf, sie zu fragen. Aber es interessierte mich brennend, warum sie mir nicht antwortete? Verheimlichte sie etwas? Hatte sie etwa ein großes Geheimnis? Hatte sie Angst, sich zu verplappern, wenn sie ausgefragt wurde? Dabei kannte Großmutter wirklich die tollsten Geschichten. Später begegneten mir diese in Deutschland als Märchen der Brüder Grimm in einer anderen Form, aber inhaltlich waren sie gleich. Frau Holle hatte nicht Schnee gemacht, sondern war eine alte alleinlebende Frau, die Hilfe brauchte. Und Aschenputtel hieß Ahmet. Das war überhaupt meine Lieblingsgeschichte und ich konnte nie genug davon bekommen, wenn Großmutter vom Aschenahmet erzählte. Zugegeben, hier war das Märchen etwas anders als die Version der Brüder Grimm, aber mir gefällt es nach wie vor besser.

Ahmet hatte seinen Spitznamen erhalten, weil er zwar klug, aber auch sehr faul war und den ganzen Tag nichts tat als seine nackten Füße in warme Asche zu stecken. Aber am Ende siegte die Klugheit und nicht der Fleiß, was ich bevorzuge.  Er wollte nach den gescheiterten Versuchen seiner zwei fleißigen jüngeren Brüder das Tier fangen, das nachts die Ernte vom Feld fraß. Sein Vater hatte ihn ausgelacht, so faul wie er war, doch die Mutter argumentierte: der Mais wird so oder so gefressen, so lass ihn doch, wenn er unbedingt will. Aschenahmet machte sich am Feldrand ein Feuer, wartete, bis alles zu Asche verbrannt war, steckte seine Füße hinein und spähte in die Nacht. Bis ein Esel kam und den Mais zu fressen begann. Da sprang er aus der Asche, setzte sich dem Esel auf den Rücken, hielt ihn an den Ohren fest, so dass er nicht runterfallen konnte, egal wie stark der auch ausschlug. Am Ende begann das Tier zu sprechen und versprach Aschenahmet die Erfüllung von drei Wünschen gegen seine Freilassung. Und Aschenahmet hatte bei jeder Erzählung meiner Großmutter andere Wünsche. Mal hat er die Tochter vom reichen Aga geheiratet, mal zog er um die Welt, wurde also ein Reisender und erlebte in jeder Stadt ein anderes Abenteuer. Ich liebte Aschenahmet als Wanderer in der Welt besonders, denn da begegnete er Drachen und anderen Ungeheuern.

Großmutter war also nicht schweigsam, ganz im Gegenteil, nur hatte sie was gegen Fragen, stellte ich fest. Überhaupt, die alten Frauen stellten nie Fragen, sie erzählten sich einfach alles von der Seele, wo sie sich auch trafen. Wenn ich mit ihr hinter den Kühen her schlenderte und sie unterwegs andere traf, so fragte nie eine von denen: „Großmutter, warum kochst du immer so viel Kohlsuppe?“ wie ich. Denn das war so, und wir mussten sehr lange davon essen. Stattdessen erzählte sie einfach:

„Koch mehr als genug zu essen, denn wer weiß, welcher Hungrige unerwartet an deine Tür klopft? Möge Allah unseren Kessel nie leer werden und niemanden an Hunger leiden lassen. So war gestern tatsächlich einer da. Ich gab ihm, was ich hatte, Maisbrot und Kohlsuppe.“

Wenn die Suppe frisch gekocht war, behielt der Schwarzkohl darin seine Struktur und war sichtbar mit grob zerrupften Blättern und Strunk, wie auch die getrockneten Bohnen und die Maiskörner. Ein paar Tage später, als der Kessel etwa zur Hälfte leer wurde, stampfte Großmutter den Kohl und alles andere darin zu Brei. Den allerletzten Rest, so gegen Ende der Woche, setzte sie mit Maisbrot an, so dass wir die gleiche Suppe in drei verschiedenen Versionen essen konnten, bis sie den Kessel in der Feuerstelle neu aufsetzte.

„Der Kessel darf nie leer sein, was wäre, wenn einer kommt, und du hast nichts zu essen?“, pflichtete ihr Feriaba bei, die als einzige im Dorf einen goldenen Zahn hatte.

„Gott behüte, was wenn es der Hizir ist?“ entgegnete die schielende Nafiyeba.

Später habe ich erfahren, dass Hizir ein heiliger Prophet ist, der vom Kraut der Unsterblichkeit gegessen hatte und deshalb ewig leben würde. Er war stets unterwegs, meist in Lumpen gekleidet, um Gläubige zu prüfen. Wenn er zu essen und trinken bekam, gab er dem Haus seinen Segen. Und niemand wollte wegen einer Kelle Kohlsuppe auf Hizirs Segen verzichten. So ließ ihn Großmutter draußen im Hof Platz nehmen und tischte ihm die letzte Metamorphose unseres Schwarzkohls auf.

„Was soll ich euch sagen, ein gewöhnlicher alter Mann mit schlechten Augen, dachte ich. Er kniff sie so eng zusammen, dass sie aussahen wie eine verschnürte Sacköffnung. Er löffelte seinen Teller und segnete Haus und Hof, wie es sich gehört. Ich dachte, jetzt sollte er gehen, ich muss noch mit den Kühen raus, doch er blieb sitzen und fummelte am Revers seines Kaftans, der fast nur noch aus Flicken bestand. Er nahm von dort eine grobe Nähnadel heraus und hielt sie in die Höhe seiner Augen. Bestimmt will er etwas an seiner Bekleidung reparieren, dachte ich und fragte ihn, ob er Garn und alte Fetzen zum Stopfen bräuchte.

‚Nein, Schwester‘ antwortete er, ‚ich versuche die Welt durch dieses Nadelöhr zu schieben.’ Oh, Allmächtiger, der Erschaffer von Erde und Himmel, er hat mir den Hizir geschickt, das ist er leibhaftig, durchfuhr es mich wie ein Blitz. Ich räumte schnell Teller und Löffel weg und brachte ihm ein großes Glas gezuckerten Tee. Zugegeben, der war von heute Morgen, nicht ganz frisch, aber er hat sich gefreut. Und da wusste ich, er hat noch eine belehrende Prüfung, die er mir mitgeben will. Ich nahm also einen Schemel und setzte mich rechts neben ihn, so dass ich die Nadel sehen konnte, die er immer noch in der rechten Hand hielt, die zusammengekniffenen Augen darauf gerichtet.

‚Ich gehe schon sehr lange mit dieser Nadel durch Dörfer und Städte, erzähle mein Anliegen. Und sehe in die erstaunten, missbilligenden, spöttischen Augen, wenn ich nach dem Freitagsgebet mich für eine Weile in die Sonne hocke und die Nadel aus meinem Revers ziehe, so wie jetzt.  Die Gläubigen, die aus dem Gotteshaus kommen, einer nach dem anderen, erklären mich für verrückt und meinen, das sei doch ganz und gar unmöglich, da passe nicht mal ein ordentlicher Wollfaden durch, wie denn eine ganze Welt? Na, da hast du dir was vorgenommen, Onkelchen, sagte einer, nimm doch lieber deinen Gebetskranz in die Hand und bete, sieh doch, du bist alt, möge Gott dir zwar ein langes Leben schenken, doch am Ende wird jedes Lebewesen den Tod schmecken und da wartet unsere aller Abrechnung im Jenseits, je nachdem, wie wir uns diesseits so benommen haben, also warum in deinem Alter sich noch mit dieser Welt beschäftigen?

Da antworte ich ihm: mein Sohn, du hast recht, es schickt sich wahrlich nicht in meinem Alter mich mit solcher Narrheit zu beschäftigen. Möge Allah der Allmächtige, der Erbauer von Himmel und Hölle dir die Antwort geben, was er mir so beharrlich verschweigt. Er lächelt milde, gibt mir ein paar Münzen in meine linke Hand und geht seiner Beschäftigung nach. Ich verlasse daraufhin die Stadt.‘

Da schwieg der Mann, steckte seine Nadel zurück an den Kaftan und trank den Tee aus. Er lobte ausschweifend den Geschmack, segnete den Hof mit allem, was dazu gehört erneut und griff zu seinem langen Wanderstab, um aufzustehen. Ich aber hielt es nicht mehr lange aus und fragte ihn, was mit diesem Mann geschehen ist.

‚Mir ist zu Ohren gekommen, dass er ein Wanderer wie ich geworden ist, um die Antwort auf meine Frage zu verbreiten. Leider bin ich ihm nie wieder begegnet.‘ Er stand auf. Ich ebenfalls, um ihn zu verabschieden. Da legte er seine Hand auf meinem Arm und sagte: ‚Du aber bist eine Frau, und kennst die Antwort. Du hast schließlich zehn Welten da durchbekommen.‘ Und mir kamen die Tränen.

Langsam machte er sich auf, um den Hof zu überqueren. Ich hatte vergessen ihm noch ein Bündel mit Maisbrot mitzugeben, so ging ich schnell ins Haus, holte es und lief ihm hinterher, aber er war verschwunden. Weder im Hof noch den Weg hinunter oder hinauf sah ich ihn.“

Die Kühe hatten sich inzwischen merklich von uns entfernt. Großmutter stand auf und wir verließen die Runde ohne Abschied. Das war also das Geheimnis. Sie hatte zehn Mal die Welt durch das Nadelöhr durchbekommen, wozu nicht einmal ein heiliger Prophet in der Lage war. Und alle diese Geschichten kamen aus diesen Welten. So hatte ich gelernt, Großmutter nie zu fragen, sondern immer zu warten, bis sie anfing von sich aus zu erzählen.

Eine Kindheit im Pontus (Teil 3: Fifirik)

Die wilden Schrebergärten hatte ich inzwischen hinter mir gelassen und lief unter den Brückenpfeilern entlang, wo der Boden trocken war. Links neben mir floss der Urselbach, vom Regen aufgewühlt schäumend. An seinen flachen Ufern wuchs Gras und Gestrüpp, alles in einem frischen Grün, das das Auge erfreute. Etwas weiter oben lag der Fußballplatz und ich hörte dort das fröhliche Geschrei der Kinder, die dort trainierten. „Bei dem Wetter“, dachte ich, verwarf aber sogleich diesen Gedanken wieder. Ich sollte nicht alles so dramatisieren, war selbst schließlich auch unterwegs.

„Von der Nähe betrachtet ist das Leben eine Tragödie und je weiter wir uns davon entfernen, formt es sich zu einer Komödie“, hatte ich kürzlich irgendwo gelesen. Was sind wir für traurige Geschöpfe, der Natur und unseren Mitmenschen ausgesetzt. So sind wir stets bemüht in irgendwelchen gegebenen Verhältnissen mehr oder weniger zu überleben. Und je weiter wir den Blick vom einzelnen wegziehen und auf die gesamte Menschheit lenken, wirkt dieser millionenfache Überlebenskampf irgendwie lächerlich. Am besten wäre es, es gäbe uns gar nicht.

Und mit der Zeit ist es genauso. Je gegenwärtiger, desto schlimmer, je vergangener desto lustiger. Heute lache ich über das Erlebte in meiner Kindheit. Die Ernsthaftigkeit ist mit den Jahren verloren gegangen. Oder hatte ich dem Erwachsensein diesen Ernst angedichtet, den es so nie gab? Auf jeden Fall war ich damals von den Erwachsenen fasziniert. Sie waren groß, vernünftig, eloquent und frei, konnten tun und lassen, was sie wollten. Niemand schickte eine Frau weg, wenn sie sich einen Schemel nahm und sich zu einer Unterhaltung dazu setzte. Aber, sobald sie mich entdeckten, wie ich ihnen lauschte, wurden sie stumm und ich musste gehen und mit den Kindern spielen.

„Und nimm deinen Bruder mit.“

„Na gut.“

Dann trottete ich, mit meinem dreijährigen Bruder an der Hand, den kleinen Weg entlang vom Hof auf die Straße, auf der allerdings höchstens zweimal am Tag ein Auto fuhr, nämlich das von Onkel Recep, wenn er morgens sehr früh zur Arbeit eilte, und wenn er abends sehr spät nach Hause kam. Sie war aus Lehm und beim Regen bildeten sich in den breiten Reifenspuren des kleinen LKWs riesige Pfützen. Außer mir liebten alle Kinder Matsch, stocherten mit Stöcken darin herum, hüpften hinein, bewarfen sich damit, als wäre es Schnee. Ich hielt mich von ihnen weit entfernt, um vom Dreck nichts abzubekommen, und schaute zu, wie von meinem kleinen Bruder irgendwann nur noch die Augen zu sehen waren. Der Rest war von einer braunen Brühe überzogen, wie bei den anderen drei. Nur ich war sauber geblieben, in meinem weißen Kleidchen, das ich sehr liebte, das mit den weißen Rüschen am Rock. Wenn ich lief, bauschte er sich wie Pasmanika hoch, das sah aus wie Popcorn.

Und dann kam Tante Feria, die wir Kinder wegen ihres goldenen Zahns Cicianne nannten. Sie war anders als die anderen Frauen im Dorf, und ich mochte sie sehr, weil sie mich oft vor Rabauken beschützte, aber noch öffters vor Mutter. Denn Mutter konnte aufbrausend sein, wenn ich log und ich konnte schon damals gute Geschichten erfinden. Doch an diesem Tag war Cicianne sauer auf mich, weil ihre zehn Jahre alte Tochter Serap sich im Matsch suhlte, während ich, fünf Jahre jünger, sauber und adrett dem Geschehen aus einer sicheren Entfernung zuschaute.

„Was stimmt mit ihr nicht, sie sollte genauso sein wie die anderen. Und dafür habe ich gerade gesorgt“, rief sie Mutter zu, die angelaufen kam, weil ich Rotz und Wasser weinte. Denn Cicianne hatte mich gepackt und in den Matsch geworfen. Mein schönes Popcornkleidchen triefte vor Dreck, was sollte sonst noch passieren?

Heulend lief ich ins Haus, um mich umzuziehen und da muss mich Opa Korot gehört haben, als er am Hof vorbei ging.

„Was ist? Hast du dir weh getan?“, fragte er mich.

Opa Korot war, wie alle im Dorf, über Ecken mit uns verwandt. Er hatte einen langen Bart und einen noch längeren alten Wollmantel mit vielen tiefen Taschen, in denen er alles Mögliche aufbewahrte und Kindern schenkte, was er unterwegs gefunden hatte. Meistens waren das Esskastanien. Ich mochte ihn sehr, fürchtete mich jedoch vor seinem Bart, so dass ich mich versteckte, wenn er zu uns kam. Das wusste er und es machte ihm nichts aus. Er ließ mir trotzdem immer etwas aus seinen Taschen da.

„Schau mal, was ich hier für dich habe. Ich lasse es dir draußen auf dem Fenstersims“, sagte er und ich konnte es kaum abwarten, dass er ging. Ich kroch unter dem Bett hervor und lief zum Fenster, das hochgeschoben war. Da lag ein kleines, teils bauchiges Ding aus Blech. Und weil ich es nicht erkannte, fragte ich Mutter.

„Fifirik“, antwortete sie. Später war mir klar, dass sie das Wort erfunden hatte, weil auch sie nicht wusste, dass es Trillerpfeife hieß. Zwei Jahre später, als unsere Lehrerin damit trillerte, und wir im Schulhof von einer Ecke zum anderen liefen, hatte ich ihr von meiner Fifirik erzählt und sie mich unmissverständlich korrigiert. Aber, weil niemand das Wort davor kannte, nannten wir Opa Korots Geschenk Fifirik und ich fing sofort an damit zu lärmen. „Ich will auch mal“ schrie mein Bruder. Wie ärgerlich! Ich musste alles mit ihm teilen. Sonst kam Mutter und ich musste mir anhören: „Du bist doch schon so groß, gib ihm das.“ Also pfiffen wir abwechselnd in meine Fifirik. Und Großmutter scheuchte uns erneut aus dem Haus.

Ich lief mit meinem Geschenk an der einen, meinem Bruder an der anderen Hand wieder auf die Straße. Die Kinder hatten nun genug im Matsch gespielt und sich inzwischen eine neue Gemeinheit ausgedacht, um alte Frauen zu erschrecken. Sie stülpten ihre Augenlieder von innen nach außen, in dem sie an den Wimpern zogen und von oben aufs Lied drückten, so dass die Innenseite des Liedes mit blutigen Äderchen sichtbar wurde.

Die ohnehin schon dreckigen Gesichter sahen nun auch noch schaurig aus. So lief die Horde zum nächstgelegenen Haus, um Zülfiyeba zu erschrecken, eine fast hundertjährige Frau. Sie fürchtete sich und schrie so laut, dass ihre Schwiegertochter Tante Mucefer herbeieilte. Und als die sah, wie wir uns über die klapprige Greisin kaputtlachten, nahm sie ein langes Holzscheit und jagte uns vom Hof. Die anderen Kinder waren viel schneller als ich, weil ich ja noch meinen kleinen Bruder an der Hand hatte, der auch noch stolperte, und mich dabei mitriss, so dass wir beide hinfielen und ich dabei meine Fifirik verlor. Tante Mucefer hatte sie gesehen. Sie hob sie auf und lief zurück zum Haus. Ich war traurig, wagte jedoch nicht, zu ihr zu gehen, denn ich fühlte mich schuldig, hatte ich doch mitgelacht.

Ein paar Tage später saßen mehrere alte Frauen auf kleinen Schemeln bei uns im Hof und unterhielten sich, darunter Cicianne und Tante Mucefer. Tante Rukiye, die berühmt dafür war, immer viel zu reden, schimpfte gerade wieder über ihren Mann und ließ niemanden zu Wort kommen, wenn auch einige es versuchten. Da zog Tante Mucefer, die neben Rukiye saß, meine Fifirik aus der Tasche ihrer Strickweste und blies kräftig hinein. Tante Rukiye machte einen Satz nach oben, packte ihren Kopf zwischen ihren beiden Händen und schrie, „Auwww“, so erschrocken war sie. Die Maiskolben, die sie unterwegs gepflückt hatte, fielen ihr aus dem Schoß, aber das kümmerte sie nicht. Ihren Kopf zwischen den Händen haltend verließ sie den Hof Richtung Straße.

„Wie kannst du die arme Frau so erschrecken. Sie hat schon wenig Verstand, willst du, dass sie ihn ganz verliert?“, schimpfte Großmutter mit Tante Mucefer.

„Wo hast du dieses Ding her? Was machst du für Sachen, Du bist doch kein Kind?“ machte Cicianne weiter, und ich erkannte meine Chance. So trat ich dem Schatten der Haustür hinaus, von wo ich sie belauscht hatte zu der Runde der empörten Frauen und schrie:

„Das ist meine Fifirik. Und sie hat sie mir gestohlen!“, und zeigte dabei mit meinem Zeigefinger auf Tante Mucefer.

„Das stimmt nicht, du hast sie fallen lassen, als du weggerannt bist und ich hab sie nur aufgehoben“, maulte sie mich an.

„Jetzt legst du dich auch noch mit einer Fünfjährigen an. Schäm dich!“ Cicianne stand auf, nahm ihr meine Fifirik aus der Hand und gab sie mir zurück.

Darüber lachten alle, außer Tante Mucefer, die mich nur traurig anschaute.

Da verstand ich sie nur zu gut. Denn ich hatte etwas, das sie nicht mehr hatte und unbedingt zurückhaben wollte. Ich ging zu ihr, legte ihr meine Fifirik in die Hand und sagte.

„Ok, du kannst heute noch mit ihr spielen, aber morgen hole ich sie mir. Einverstanden?“