Pupuze Berber

Vergessen verdrängen

Ich muss mich erinnern. Nichts vergessen. Also zwinge ich mich, zu üben. Übungen, um zu erinnern. Aber welche? Wie kann ich lernen, das Vergessen zu verdrängen, es behindern beim Ausbreiten, verhindern zu vernebeln und abzudecken die Stadt, die Welt, mich, MICH.

Wissen die Leute hier in der U-Bahn wie das geht, wenn sie morgens in ihren Zeitungen, Büchern oder dem Bildschirm ihrer Hadys starren? Vielleicht üben sie bereits, nur ich, ich weiß davon nichts. Ich hätte sie besser beobachten sollen. Aber so eine U-Bahnfahrt ist weder eine gute Gelegenheit noch ein passender Ort, um etwas so Wichtiges zu lernen. Wie soll das denn gehen? Youtube-Tutorial? E-Learning? Ein „Dummy fürs Erinnern“? Ich weiß ja nicht. Das ist nicht so ganz meins. 

Es gibt bestimmt Kurse bei der Volkshochschule. Da gibt es doch so einiges, warum also nicht einen über Vergessensverdrängung? Was würde ich da tun? Vielleicht sitzen wir dann alle im Kreis, sagen vor uns alles auf, alles, ganz laut, wie Mantras, wippen leicht mit dem Oberkörper, rezitieren immer und immer wieder, um das Vergessen zu verdrängen, weg, weg von uns, von unserem Erlernten, Erinnerungen, Gedanken, Geschichten, Namen, Adressen, Geschmäckern, Gerüchen, Gefühlen, fort, fort, fort mit dir! Würden wir alle gemeinsam aufschreiben, mit Lauten in die Luft, mit Wasser auf den Boden, Blick in den Augen, Gästen in der Sicht, gegen das Vergessen, gegen das Fressen der Vergänglichkeit an unserem Gedächtnis.

Das ist alles mein Versäumnis. Ich schreibe zwar, mit Kulli die Kladden voll, tief gebeugt mit Schostakowitsch im Ohr. Ich verdränge durchaus, aber nicht das Vergessen. Ich blende nur diese Menschen aus.

Sein und weniger Sein

Da sitze ich nun und blicke zurück. Mein Gelebtes vor mir ausgebreitet. Ihr wollt unterhalten werden, aber meint ihr, es ist so einfach? Tag ein, Tag aus mit Euch im Schlepptau? Ausblenden, ja, aber für immer löschen? Illusion, nichts weiter als eine Illusion. Dachte ich. Jetzt frage ich mich, was ich gestern gegessen habe. Auf der anderen Seite, warum frage ich mich das? Wer will das denn wissen? Um mich zu vergewissern, dass ich gestern gelebt und sogar etwas zu mir genommen habe. Ich schaue mal nach. Was war das? Brot? Brot auf jeden Fall und Käse. Das esse ich jeden Tag und werde es auch gestern gegessen haben. Aber tatsächlich wissen?

Vorige Woche? Was war da? Vielleicht bin ich zum Arzt gegangen? Was? Wer sind Sie? Was wollen Sie? Geld? Wird man hier am helllichten Tag überfallen! Was? Ich kann sonst meinen Einkauf nicht mitnehmen? Es ist doch meins, nicht? Wenn es mein Einkauf ist, dann werde ich ihn doch mitnehmen dürfen. Und, nein, ich kenne Sie nicht! Und ich habe keine Tochter! Nein, lassen Sie das! Ich bleibe hier, solange ich will!

Da schau einer an. Es lichten sich die hinteren Reihen. Das haben wir gern, nicht! Zu spät kommen und als erster gehen. Leere Stellen, überall. Dabei solltet Ihr bei mir bleiben, hier, bis ich aufstehe, mich verneige und gehe. So gehört sich das, hört Ihr? Erst dann dürftet Ihr alle verschwinden. Aber nun überall kahle Stellen, Lochbränden gleich. 

Das sehe ich, dass Ihr verschwindet! Aber, so bleiben Sie doch! Wir kennen uns doch irgendwo her. Haben wir zusammengearbeitet? Oder vom Urlaub? Ach, womöglich sind Sie mein Nachbar? Gehen Sie nicht jeden Morgen mit Ihrem Hund, wie heißt der noch mal, Gassi? Der kleine Kläffer, den meine ich. Eines Tages wurde er vergiftet. Oder war das ein anderer Hund und Sie mussten ihren wegen Altersschwäche einschläfern lassen?

Kai-Uwe? Thomas? Hendrik? Die Namen sind so leer. Sie sagen nichts mehr als die Launen der Eltern beim Sichten ihres Neugeborenen unter dem zeitgeistlichen Einfluss. Ein jeder ist davon betroffen. Ja du, mit dem Flecken auf dem Pullover. Du hast zu viel Kaffee getrunken und entsprechend gestunken. Dein Büro musste nach deinem Fortgang vollrenoviert werden. Stinktier, so haben wir dich hinter deinem Rücken genannt. Deswegen gehst du jetzt? Was ist denn mit Euch los? Eine ganze Reihe komplett entleert. Wer wart Ihr bloß? 

Was ist das bloß für ein Leben? Kaum hat man es begriffen, ist es auch schon am Ende. Niemand freut sich, auf die Welt zu kommen. Kaum vorstellbar, dass ich mal so war, ein Nacktmolch, zahnlos, hilflos, bedürftig. Wer ist denn da im Spiegel? Bin ich das? Ein Gespenst, zahnlos, hilflos, bald alles los. 

Lustig, lachen kann man immer, auch im hohen Alter. Was soll man auch tun? Wenn einem alles andere abhandenkommt und man froh sein kann, alleine auf die Toilette zu gehen. Sie lachen immer noch nicht. Erinnerungen, Anekdoten, wo habe ich sie? Ich muss doch viele haben. Wenn man eine braucht, kommt keine und da steh ich dann vor Euch, vor meinem Leben und bringe nichts heraus. 

Sein und dann weniger Sein. Mein und doch nicht mein. Ein Leben? Was ist das schon? Wäsche auf der Leine, so flattern die Erinnerungen. Bei manchen sind die Flecken nicht rausgegangen, und manche würde man auch am liebsten verstecken. Die kaputten Unterhosen, die mit dem ausgeleierten Bündchen, um im Nachhinein zu sagen, sich zu fragen, warum man diese nicht vorzeitig entsorgt hatte. Warum hängt man an zerschlissener Unterwäsche? Aus Bequemlichkeit? Oder um sich ein wenig zu erheitern? Mein Ziel ist zu lachen. Schauen Sie mit mir zurück auf mein Leben, ein Haufen zerschlissener Erinnerungen. Gibt es denn sonst nichts, was so richtig lustig war? Wo seid ihr? Da, da sehe ich etwas. Natürlich, wie konnte ich das vergessen. Von der Arbeit…

Sie, aus der Pharmaindustrie. Sie kommen gerade zur rechten Zeit. Wissen sie noch? Nein, Sie können nichts wissen, weil das Ganze sich in meinem Kopf abgespielt hatte. Sie bei uns, Sie mein Kunde, dem ich die neue Marketingstrategie erklären wollte, die Idee, unsere Idee, basierend auf den Analysen und den vielen Zahlen. Ich hatte eine Präsentation dazu erstellt, mit Kuchen, Säulen und Blasen, hatte geübt, dazu zu sprechen, im Büro und zu Hause vor dem Spiegel. Und am Tag unseres Zusammentreffens – ich hatte sogar mit Keksen decken lassen – kam ich nicht dazu, zu präsentieren, obwohl ich am Beamer stand, mit dem Deckblatt an der Wand. Weiter kam ich lange nicht. Sie stahlen mir das Wort aus dem Mund und ritten weg in mein Kopfkino, Sie der Schurke mit dem schnellen Pferd, während ich von einem Bein auf das andere wechselte, um einen Moment abzupassen, wo Sie womöglich Luft holen mussten, damit ich Ihnen reingrätschen konnte. Ein paar Mal ist mir das gelungen. Da nahm ich den Ball und rannte weg, klickte weiter vom Berg zur Linie, doch da, in einer Sekunde des Schweigens hatte ich gegen Sie keine Chance mehr. Sie sprachen, über ihr Unternehmen, über ihre Jugend, Familie, Eltern, Gattin, Kinder, fast lückenlos. Mir blieb die Kapitulation.

Sie da, in der fünften Reihe, mit den runden Buntplastikgläsern! Sie waren doch der Chef, der Ober-Chef unserer Werbeagentur, nicht wahr? Wie war noch Ihr Name? Ihr Name ist mir entfallen, doch weiß ich noch ganz genau, wie ich ihre Weichteile berührt habe. Gott bewahre, nicht gewollt, ich hatte nicht vor, auf diesem Wege Karriere zu machen. Mit einem Kollegen kam ich aus der Cafeteria, wo Sie uns entgegenkamen. Ich hatte gestikulierend erzählt, und Sie in diesem Moment da – womöglich etwas unsanft – berührt. Danach hatte ich mich mit diesem Kollegen fast kaputtgelacht. Bis wir um die Ecke gebogen waren und ich Sie in der Glastür des Aufzuges hinter uns sah. Zur Strafe noch die Fahrt zusammen bis zum dritten Stock. 

Es nützt alles nichts. Ich habe wohl kein komödiantisches Talent. Niemand lacht. Viele sind schon weg. Die Mitte ist fast kahl. Und auch in den vorderen Reihen wird schamlos aufgestanden. Ich sehe nur noch Rücken. Nur wessen? Wer seid Ihr alle? Warum kann ich mich nicht an Euch erinnern? Sie, sind Sie nicht der hübsche Mann vom Markt in Sainte Maxime? Oder die unfreundliche Frau in der Bäckerei? Waren Sie nicht jahrelang mein Arzt? Dann müssten Sie doch wenigstens bleiben. Es ist womöglich etwas langweilig hier, ja, da kann ich Ihnen sogar recht geben. Ein aufregendes Leben hatte ich nicht. Es war eins von der Stange, so wie das von vielen anderen auch. Gehen Sie deswegen? Ich könnte Ihnen allen noch einen Witz erzählen. Hatte ich mir nicht mal ein Witzheft angelegt? Wo ist das nur? Hatte das mein Vater zerrissen? Nein, das war mein Poesiealbum, das weiß ich noch. Oder war das meine Mutter gewesen? Mama? Mama, wo bist du? Ach, da, in der ersten Reihe. Na, wenigstens bleiben die Eltern bis zum Schluss. Sie müssen immer bis zum Schluss bleiben, egal wie langweilig. 

Überall Lücken. Meine engsten Freunde? Was ist mit euch? Wartet doch, ich bin doch dabei, mein Witzheft zu suchen. Wenn ich doch nur in mein Kinderzimmer könnte! Da ist dieses kleine Heftchen, ganz eng beschriftet, sogar kategorisiert. Und immer, wenn ich einen Witz brauchte, hatte ich das Heft nicht dabei. Dauernd fiel mir der mit dem Frosch ein. Ein Frosch und ein Amerikaner. Seid ihr noch hier? 

Das Lied der Auster

Das Herz der Auster ist grau und weiß 
Wie die Schale so hart, so weich das Fleisch
Sie sagt nicht viel, wir können nur raten
Wenn sie zwischen Zähnen geraten
O Auster fein
Lass mich sein dein
Komm in meinen Mund hinein

Die Seele der Auster ist aus feinstem Schaum
Liegt auf der Zunge gleitet in den Traum
Bohrt sich im Rachen kurz vor dem Erbrechen
Eine Qual steigert die Lust, sehr angemessen
O Auster ganz
Ich will deinen Glanz
Bring mir den Geschmack des Ozeans

Die Stimme der Auster ist schelmisch
Wenn auf der Zunge, sehr spielerisch
Ob ich dich ess’, oder du mich
Weiß ich so genau gar nicht
O Auster dein
Komm sei doch mein
Gleite dich in meinen Gedanken hinein

Der Geschmack der Auster ist vielschichtig
Direkt verschluckt ist sie schleimig
Durchgekaut sie die Melodie entfaltet
Eine Orgie im Gaumen gestaltet
O Auster singt
In mein Gedicht
Mir mein schamhaftes Trauerlied

Das Geheimnis der Auster ist hinfort
Wenn gegessen wird achtlos und sofort
Mann soll denken, sie lebte in ihren Schalen
Bevor sie zwischen den Zähnen zermahlen
O Auster ich nehm’
Dein Geheimnis hinein
In mein ewiges Grab aus Fluchgestein

Ein gutes Gespräch

Gestern Abend waren wir in einem Thai-Restaurant essen. Dort hörte ich die Geschichte mit der Tüte. Die Geschichte wurde nicht direkt mir erzählt; ich wurde ein stiller Zuhörer, ganz zufällig. Die Gäste am Nachbartisch haben sich darüber unterhalten. Sie saßen hinter meinem Freund. Ich sah sie, wenn ich meinen Freund ansah, was üblich ist, wenn man zusammen essen geht. An dem besagten Tisch war ein älteres Ehepaar, das mit dem Rücken zu mir saß, ihnen gegenüber eine ältere Dame und ein Herr mittleren Alters; wie ich im Laufe ihres Gespräches erfahren konnte, war er der Sohn der älteren Dame.

Ich habe nicht gelauscht. Ich habe mich mit meinem Freund unterhalten. Ich erzählte ihm vom Osterbrunch meiner Freundin. Er war nicht dabei gewesen, und so beschrieb ich ihm die anderen Gäste, wer sie waren und worüber wir uns unterhalten hatten. Während ich erzählte, hörte ich, was am Nachbartisch gesprochen wurde, am Anfang noch unbewusst. Peter saß mir gegenüber und bemühte sich, mit meiner Erzählung mitzukommen. Ich bin mir sicher, er hat es irgendwann aufgegeben und nur so getan, als hörte er mir zu. Ich merke es, wenn er mit den Gedanken woanders ist. Aber egal, ich habe weitererzählt. So auch die ältere Dame, die Mutter des Herrn mittleren Alters am Nachbartisch. Nur mit dem Unterschied, dass sie sich vehement Gehör verschaffen wollte und ihre Geschichte mit der Tüte einige Male wiederholt hat, so dass auch ich jede Einzelheit mitbekam. Ich dagegen war eher gelassen und führte einen Monolog.

Wie ich die Geschichte mit der Tüte im Nachhinein rekonstruieren konnte, hat diese Dame eine Ferienwohnung in Frankreich. Wo genau, kann ich nicht sagen, da die genannten Ortsnamen mir entfallen sind; sie waren mir nicht bekannt. Das Paar, das ihr gegenüber saß, war nicht von hier. Das hörte ich heraus, als sie bezahlen wollten und der Sohn darauf bestand, sie einladen zu dürfen. Der Mann protestierte, worauf der Sohn sagte: “Das ist meine Heimatstadt und hier bezahle ich.” Kurze Zeit später erfuhr ich, dass sie aus Köln waren. Die Mutter sagte, die Entfernung von Köln nach Frankreich sei kürzer. „Es sind von Köln nur 150 km bis nach Frankreich.“

Das Kölner Pärchen möchte nach Frankreich fahren. Sie sind in Frankfurt, weil sie den Schlüssel für die Ferienwohnung brauchen. Wahrscheinlich, dachte ich, sind sie heute in Frankfurt angereist, gehen gemeinsam essen, werden die Nacht bei der Mutter schlafen und morgen nach Frankreich fahren. Ich vermutete, dass der Vater des Mannes mittleren Alters bereits verstorben ist. Das habe ich nicht heraushören können, und fragen wollte ich auch nicht. Ging mich ja nichts an, aber um die Geschichte für mich zu vervollständigen, habe ich beschlossen, dass sein Vater schon seit langer Zeit tot ist. Vielleicht ist er nur krank und liegt zu Hause, zweifelte ich für einen Augenblick, aber dann wären sie bestimmt nicht auswärts Essen gegangen. Dann hätte die Mutter etwas gekocht und sie wären bei ihm geblieben. Der Vater muss verstorben sein, entschied ich.

Also, das Pärchen fährt am nächsten Tag nach Frankreich und ist gekommen, um den Schlüssel abzuholen. Während ich diese Geschichte im Geiste nachbaute, erzählte ich vom Osterbrunch. So in etwa wird es die Mutter am Nachbartisch mitgekriegt haben, wenn sie nebenbei mir zuhörte, ähnlich wie ich ihr. Es waren eingeladen; ein normales Paar („Der Mann hat einen VW-Käfer auf ein Ei gemalt, kannst Du es Dir vorstellen? Das ganze Ei war ein VW-Käfer, nur etwas lang gezogen, und auch sonst interessiere er sich nur für Autos, sagte er, und seine Frau ist Heilpraktikerin, aber praktiziert nicht mehr, ein Burnout, wie schrecklich, sie hat zuletzt Angst gehabt, Angst, Patienten schlecht zu beraten, ihnen was Falsches zu geben, aber sie möchte wieder anfangen, vielleicht in einer Gemeinschaftspraxis oder so“), ein lesbisches Paar („Stell dir vor, ich habe es gar nicht gemerkt, sie sahen völlig normal aus, keine Ahnung, wie ich mir Lesben vorstelle, vielleicht denke ich in Klischees, dass die eine sehr maskulin sein müsse oder so, weißt Du, und apropos, das schwule Paar hatte abgesagt, den Toni kennst du auch, mit dem waren wir im King Khameamea Club“), ein deutscher Textil-Import-Exporteur aus Gomera („Er verkauft Klamotten, aber Andrea sagt, die sind nichts für mich, lauter Hippie-Sachen, er gab mir seine Telefonnummer, falls ich Interesse hätte, aber ich habe die Nummer nicht mehr, ach, weißt du, wenn die eh nichts für mich sind, dachte ich“), eine Frauenratgeber-Autorin („Sie hat mit einer Freundin bereits drei Bücher geschrieben, ihr letztes Buch ist ein erotisches Buch für Frauen, für das sie sehr viel Zeit in die Recherche investiert hat, sagte man mir, außerdem lebt sie die Hälfte des Jahres in Kalifornien, in Santa Barbara, mit ihrem zweiten Ehemann, der viel älter ist als sie, und mit dem hat sie keinen Sex mehr, aber mit andern Männern schon und der zweite Ehemann weiß das, sie sind sehr offen in dieser Beziehung, sagte sie mir“) und eine Frau („Sie war auch alleine da, mit ihrer Beziehung stimmt etwas nicht, sie waren zehn Jahre zusammen und haben sich vor drei Monaten getrennt und kommen aber nicht voneinander los, und jetzt sagt sie, sie habe nur eine Affäre mit ihm“). So ungefähr muss es sich vom Nachbartisch angehört haben.

Die Mutter wollte unbedingt erklären, wie das Pärchen in die Wohnung reinkommt. Ich hörte zuerst etwas von einem Maler, der eine Tüte in den Garten geschmissen haben muss. Da hatte ich die Geschichte noch nicht verstanden und hörte etwas aufmerksamer zu. Ihr Sohn wollte sie unterbrechen und sagte: „Mama, das müssen wir doch nicht jetzt und hier bereden oder? Das können wir doch später klären?“ Ich dachte, nein, später bin ich nicht dabei und drückte für die Mutter die Daumen, dass sie sich gegen den Sohn durchsetzen möge. Und schon hörte ich sie sagen: „Ruhe da! Man muss doch mal darüber sprechen können, man muss über alles sprechen, nicht?“ Volltreffer, sagte ich mir und hörte aufmerksamer zu. Also, diese Tüte liegt im Garten. „Ist sie denn immer noch im Garten?“, fragte die Frau aus Köln. „Nein“, sagte die Mutter, „die Mieter haben die Tüte in die Wohnung geholt. Sie muss irgendwo in der Diele liegen.“ Ich gebe zu, ich verstand nicht, was in der Tüte drin war. Es lag mir fast auf der Zunge zu fragen, als der Kölner Ehemann etwas Licht ins Dunkel brachte. „Aber wie kommen wir in die Wohnung, wenn der Schlüssel in der Tüte ist?“ Aha, dachte ich, in der Tüte ist ein Schlüssel drin. Vielleicht der Schlüssel für die Wohnung? „Nein, den Schlüssel für die Wohnung gebe ich euch, den habe ich bei mir“, hörte ich die Mutter dem Kölner Paar erklären, und gleichzeitig schaute sie ihren Sohn an, als Aufforderung, ihr den Schlüsselbund aus der Manteltasche zu holen. Ein Funken Protest blinzelte für einen kurzen Moment in seinen Augen, doch er gab nach, stand auf und ging zur Garderobe des Lokals.

„Also“, setzte die Mutter zum dritten Anlauf an, um es ihren Zuhörern ein für alle Mal begreiflich zu machen, wie sie vorzugehen hätten. Ich spitzte die Ohren, während ich meiner besseren Hälfte erzählte, dass ich auf mein erstes Osterei mit Lila – neben Hellblau der einzig richtig malende Stift – kleine Blumen malte, die von den anderen als Sterne bezeichnet wurden. „Ihr kommt mit diesem Wohnungsschlüssel in die Wohnung rein“, fuhr die Dame fort und löste einen Schlüssel aus ihrem Schlüsseletui. „Und in der Wohnung liegt diese Tüte, die der Maler in den Garten geschmissen hat. Darin ist der Schlüssel für das Gartentor.“ So war das, dachte ich. Der Maler hat das Gartentor gestrichen, von außen und von innen. Dafür hat er den Schlüssel gebraucht. Als er fertig war, hat er das Tor von außen abgeschlossen, den Schlüssel in eine Tüte getan und in den Garten geworfen. So einfach. Das sei so mit ihr vereinbart gewesen, hörte ich sie sagen. „Wie kam die Tüte in die Wohnung hinein?“, fragte die Frau aus Köln.

Ich erzählte in diesem Moment, wie ich vor lauter Neid auf den VW-Käfer-Ei-Mann der Runde ankündigte, mit einem Goldstift eine nackte Frau auf meinem zweiten Osterei malen zu wollen, wie ich jedoch beim ersten Versuch, zwei Brüste auf ein Ei zu malen, scheiterte, danach meine Ankündigung korrigierte, dass ich viel lieber Ornamente zeichnen möchte, weil diese Kunst seit 5.000 Jahren existiere, also bei weitem älter sei als die gegenständliche Malerei und in jeder Kultur auf der Welt vorgekommen sei, während die gegenständliche Kunst eine Erfindung des Abendlandes sei, und außerdem die Tüte von den Mietern in die Wohnung gebracht wurde, nachdem der Maler sie in den Garten geschmissen hatte. „Das ist doch klar”, sprach ich, „der Maler wurde beauftragt, das Gartentor zu streichen. Die Mutter hat das bestimmt telefonisch veranlasst, sonst hätte sie den Schlüssel nicht in einer Tüte in den Garten schmeißen lassen wollen oder?” und fuhr fort: „Manche Menschen hören einfach nicht zu. Ich habe diese Geschichte mit der Tüte von meinem Platz aus verstanden, aber stell Dir vor, das Kölner Ehepaar, das morgen nach Frankreich reist, um wahrscheinlich in der Wohnung der Mutter Ferien zu machen, hat dagegen nichts verstanden. Sie hat doch tatsächlich gerade gefragt, wie die Tüte in die Ferienwohnung gekommen ist, kannst Du das verstehen?“ „Kann ich mal Dein Essen probieren?“, fragte mich mein Freund.

Der Sohn griff ein, als die Mutter, zu meinem Überdruss, die Geschichte mit der Tüte zum vierten Mal erzählen wollte, und schlug vor, die Kölner sollten erst verreisen und von dort aus anrufen, wenn sie weitere Fragen haben sollten. Er schnappte den vorbeilaufenden Kellner und bat ihn um die Rechnung. Gott sei Dank, das wäre nun geklärt, dachte ich, und fing an von meinem dritten, selbstbemalten Osterei zu erzählen, während das Kölner Paar, die Mutter und der Sohn, aufstand und ging. „Es war ein schöner Abend, nicht wahr? Wir haben uns schon lange nicht so gut unterhalten“, sagte ich zu Peter. „Du hast recht“, antwortete er, „wollen wir bezahlen?“

Als ich aufstand, um meine Jacke anzuziehen, sah ich nun endlich auch die Personen, zwei Männer und eine Frau, die am Tisch hinter mir saßen. Sie hatten sich während des ganzen Abends auf Englisch über Vor- und Nachteile von Wohngemeinschaften unterhalten. Ich hatte mit meiner Vermutung recht gehabt. Alle drei waren sehr jung.

Ali, die anderen und Ich

ALI:  Ey, wo bist du die ganze Zeit gewesen? Ist dir eigentlich klar, wie lange ich schon halbnackt bei der Oberstudienrätin auf ihrer alten Couch rumhocke? Gib endlich Stoff!

ICH: Ähm, ich glaube, du bist bei mir falsch gelandet.

KOMMISSAR: Schräder, wir müssen die Leiche des Chinesen finden. Die machen mir schon Druck. 

ICH: Hä? Wer macht Druck?

KOMMISSAR: Spar dir die doofen Fragen, Schräder. Wo ist dieser tote Mann?

ICH: Moment mal, wovon reden Sie? Ich weiß nichts von einer Leiche.

ISABELL: Ich fahre ziellos durch die Gegend und rauche eine nach der anderen. Die Autoscheiben sind gelb vom Nikotin. Es will mir einfach nichts in den Sinn kommen. 

JENNY: Wo ist Ali? Wo steckt er bloß?

ICH: Ali? Gerade hat sich ein Ali bei mir gemeldet. Ein blöder Zufall? 

OBERSTUDIENRÄTIN: Ich möchte auf der Stelle nach Hause! Mein Adonis wartet auf mich. Und ich hänge in einem stinkenden U-Bahn-Tunnel fest. Hol mich hier sofort raus, sonst rufe ich die Polizei!

KOMMISSAR: Frollein, die Polizei hat schon alle Hände voll mit toten Chinesen zu tun. Wir bergen keine festgefahrenen Pendler. Schräder!!!

ICH: Wer seid ihr denn alle? Woher habt ihr meine Nummer?

ALI: Du weißt ganz genau, wer wir sind. Ich will hier raus. Ich will zu meiner Jenny. Bring mich zu ihr – jetzt! 

ICH: Warum ich?

ALI: Aja, wer macht hier die Geschichte? Schreib mir halt ´nen Taxi, was weiß ich! Wenn du das nicht hinkriegst, dann zieh mir wenigstens ein T-Shirt an. Hier läuft so `ne dumme Smart-Klimaanlage, die kein Schwein bedienen kann.
ICH: OK. Ich lade euch mal alle in einen Gruppen-Chat ein. So, jetzt können wir von vorne anfangen. 

ALI: Jenny, bist du da? 

JENNY: Ja, endlich finde ich dich!

KOMMISSAR: Und ich dich, mein Kätzchen! Hier steckst du also. 

JENNY: Herr Kommissar, kennen wir uns?

KOMMISSAR: Ähem, na, nein, liebes Kind. Ich habe nur versehentlich im falschen Chatfenster geschrieben. Weißt du, ich spiele viele Nebenrollen und habe sie nun durcheinandergebracht. Hier bin ich der Kommissar. So Kollegen, ich habe langsam die Schnauze voll von diesem schlechten Improtheater. Reißt euch zusammen, ihr habt einen Ermittlungsauftrag! Wo ist die Leiche? Sie kann doch nicht einfach so verschwinden!

ICH: Moment mal. Ich glaube, ich kann mich so langsam an euch erinnern. Bist du der Ali aus meiner Kurzgeschichte, die ich nie fertiggeschrieben hab?

ALI: Ja, der Ali, der übrigens viel lieber Botaniker geworden wäre. 14 Jahre, drei Monate und fünf Tage. So lange sitze ich schon auf einem „Kanapee“, was auch immer das sein soll.

ICH: Und als ich dich verließ, warst du tatsächlich in Iris‘ Wohnung. Du hast auf sie gewartet, weil du wieder bankrott warst, weil du gezockt und dich verschuldet hattest. Du bist zwar eine Augenweide, aber sonst zu nichts zu gebrauchen.

ALI: Glaubst du, ich wollte so geschrieben werden, oder was?

JENNY: Oh Ali, du hast mir doch versprochen, diese Oberstudienrätin nicht mehr zu besuchen. Wie konntest du mich belügen?

ALI: Jenny, Liebste, Engelchen, kleines Rosinenkrümelchen, das war doch nur, weil ich etwas Geschäftliches mit ihr besprechen wollte. 

OBERSTUDIENRÄTIN: Wie bitte? Das war geschäftlich? Meinst du, ich habe dir das ganze Geld gegeben, nur um dich anzuschauen? Ich dachte, wir sind für einander geschaffen und du würdest für immer bei mir bleiben. Ich könnte doch für dich sorgen. 

JENNY: Wenn du für jemanden sorgen willst, kauft dir doch einen Hund. Er ist mein Freund und wir lieben uns. Ali, sag ihr das endlich!

OBERSTUDIENRÄTIN: Was soll er mir sagen? Dass ich ihm immer wieder den Arsch rette? Er wäre gestorben, wenn ich nicht gewesen wäre. Ist dir das klar? Er verdankt mir sein Leben. Was hast du ihm denn anzubieten, du kleine Göre! 

JENNY: So gefällt dir Ali, was? Hauptsache, er hängt an deinem Tropf, und du kannst ihm das ständig unter die Nase reiben. Wie lange muss er noch seine Schuld bei dir begleichen? Mich liebt er einfach so. Ich muss ihm dafür auch nichts geben. So ist nämlich wahre Liebe! 

OBERSTUDIENRÄTIN: Kann ich mir gut vorstellen. Wahre Liebe im Jugendzimmer. Du wohnst doch bestimmt noch zu Hause bei deinen Eltern.

JENNY: Wenigstens bin ich nicht so alt, dass ich Alis Mutter sein könnte!

KOMMISSAR: Liebe Jenny, du hast was Besseres verdient als einen Gigolo. Schick ihn einfach zum Teufel und hilf mir lieber meine Leiche zu finden. 

OBERSTUDIENRÄTIN: Welche Leiche? Kann mir das bitte jemand erklären? Was hat dieser Typ hier zu suchen?

ICH: Ja! Sorry, wieder so eine unfertige Geschichte von mir, ein Krimi, der sich um eine Leiche dreht. Sie ist unerklärlicherweise verschwunden. 

KOMMISSAR: So ist es. Meine Aufgabe hier ist, sie zu finden. Leider wieder eine Nebenrolle. Dabei hätte sie mehr Beachtung verdient.

ALI: Mein Handy! Sie rufen mich an. Ich bin geliefert…

OBERSTUDIENRÄTIN: Wer ruft an?

ALI: Nicht der Shanty-Chor. Natürlich die vom „Import-Export“. Ich hab` Schnee gestohlen. Dumme Aktion.

KOMMISSAR: Jenny, da hast du dir aber ein ganz feines Bürschchen angelacht. Gigolo alleine reicht ihm nicht, er muss auch noch mit der Unterwelt zu tun haben. War der Chinese involviert? 

ALI: Hä, wie denn das? Ist er nicht tot?

KOMMISSAR: Ja, aber davor hat er gelebt.

ALI: Mach Sachen.

KOMMISSAR: Er war nämlich unser Mittelsmann.

ICH: Moment…Es sind zwei unterschiedliche Geschichten gewesen, keine gute Idee, sie jetzt zu vermischen…  

ALI: Genau. Jetzt geht es nur um die Geschichte mit dem Chinesen, ne? Alles klar! Dann kann ich ja `nen Abgang machen, bevor die Offenbacher Koksmafia mich umlegt. Häh? Wo ist die Tür. Die war vorhin noch da.

ICH: Das war so nicht vorgesehen. Du bist immer noch in meiner Geschichte und ich bestimme, schon vergessen?

OBERSTUDIENRÄTIN: Das wäre ja noch schöner. Du bleibst schön da. Glaubst doch nicht, dass ich dich einfach so gehen lasse, du Dummerchen…

ALI: Verfluchte Scheiße! Kann ich wenigstens endlich ein T-Shirt haben?

OBERSTUDIENRÄTIN: Nicht, bevor wir unseren prickelnden Höhepunkt hatten.

JENNY: Das ist ja abartig. Was bildet sich diese Cougar ein! 

ISABELL: Ihr habt vielleicht Probleme. Ich würde alles für eine klitzekleine Idee geben. Ich fahre immer noch in der Gegend herum und doch ist mein Kopf leer. Warum fällt mir nichts ein? Warum kann ich kein einziges Wort schreiben? Wo sind meine Kippen?

ICH: Schreib doch das auf, was die anderen erleben. Warum marterst du dein Hirn, wenn die Geschichten von allein zu dir kommen?

ISABELL: Das sind doch deine Geschichten. Keine Ahnung, was du dir dabei gedacht hast. 

ICH: Weiß nicht. Ist schon lange her. Bedien dich ruhig.
ISABELL: Außerdem kenne ich hier niemanden. Ich lese nur, was die anderen in der Gruppe schreiben. Und es ist alles so durcheinander. 

ICH: Dann entwirr sie! Das wirst du doch bestimmt können, oder?

ISABELL: Wenn ich nur den Anfang hätte. Es müsste doch so ein Plot zu jeder Geschichte geben. Du hast sie nicht sauber ausgearbeitet. 

ICH: Ähm, ja, kann schon sein. Weißt du, unter uns, ich habe sie nicht mal irgendwo notiert. Sie sind nur Sprachaufnahmen auf einem Diktiergerät. 

ISABELL: Da haben wir es! Du nimmst nichts ernst. Und dann soll ich dir da raushelfen, dieses lose Bündel zusammenzubinden, um eine Story daraus zu stricken?

ICH: Na ja, immerhin habe ich ein paar Ideen gehabt.  Du scheinst vom Schreiben so viel zu verstehen wie ein Kirschkern von der Zahnkrone. 

ISABELL: Deine Metapher ist ebenfalls schlecht. Mich überrascht nichts mehr.
KOMMISSAR: Liebe Isabell, ich bin voller Geschichten. Wenn nur diese Leiche wiederauftauchen würde. Hilf mir sie zu finden, dann erzähle ich dir ganz viel.

ALI: Ich kann auch mitmachen, nur müsstet ihr mir den Arsch retten. 

OBERSTUDIENRÄTIN: Du hast mir doch versprochen, mit ihnen nichts mehr zu tun zu haben.

ALI: Ist keine neue Geschichte, ich schwör. 

JENNY: Muss Ali sich in seiner Geschichte mit diesen Offenbachern herumschlagen? Reicht es nicht, wenn er einfach bei mir im Hotel arbeitet? Können wir seine nicht anders schreiben?

OBERSTUDIENRÄTIN: Das wäre langweilig. Niemand interessiert sich für einen jungen Mann, der völlig normal ist. 

JENNY: So wichtig ist dir Ali also. Nur Mittel zum Zweck.

ISABELL: Mit irgendwas muss ich ja anfangen, also, ich notiere: Ali, der seine trostlosen Tage halbnackt auf dem Sofa…

OBERSTUDIENRÄTIN: Eine Chaiselongue.

ALI: So ein Monsterding, das mich in sich aufsaugt. 

ISABELL: Also gut. Nachdem Ali seine Tage auf dem menscheneinsaugenden Chaiselongue verbrachte, erwachte plötzlich in ihm der Wunsch, etwas zu tun, das ihn und seine ihm nahestehenden und geliebten Mitmenschen glücklich machen würde: Eine Lehre zum Koch. Zigarette?

ICH: Oh, Danke, ich nehme eine. Ich rauche zwar sonst nicht, aber so eine virtuelle Friedenskippe kann nicht schaden. 

ALI: Tolle Lehre! Da bin ich das erste Mal in der Großküche. Alter, alles aus Edelstahl. Töpfe in allen Größen hängen über dem Kopf. Aber durfte ich irgendwas mit denen machen? Nöh. Ich war gerade gut genug fürs Gemüseputzen. Das war total langweilig.

KOMMISSAR: Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Kein Meister fällt vom Himmel. So ein Hotel, insbesondere die Küche erfordert Präzision, glaub mir mein Junge. Du musst erst mal eine Karte entwerfen, die einen breiten Geschmack abdeckt. Dazu sollte auch immer etwas Außergewöhnliches dabei sein. Und saisonale Gerichte, daran erkennt man die wahre Liebe zur Gastronomie.

OBERSTUDIENRÄTIN: Für einen Kommissar kennen Sie sich sehr gut aus. Eine Nebenrolle, wie ich vermute? 

KOMMISSAR: Ja, richtig. Hier bin ich aber nur der Kommissar. Damit das klar ist!

JENNY: Ich hab’s! Isabell, du beschreibst am besten, wie wir uns im Hotel begegnen und uns ineinander verlieben. Romantische Bücher sind die besten. Sie machen dich reich, glaub mir!

ICH: Aber du kennst Ali schon?

ISABELL: Was soll ich nun schreiben? Ihr bringt mich durcheinander…

KOMMISSAR: Wenn ich hier kurz unterbrechen darf? Nichts für ungut, liebe Jenny, aber Liebesgeschichten dienen einer bestimmten Klientel als Flucht aus der Realität. Wir wollen doch nicht fliehen, oder? Ich plädiere für einen Krimi. Liebe Isabell, wenn du über meine verschwundene Leiche schreibst, ist es doch viel spannender. Romanzetten gibt es schon so viele. Und im Kern sind sie alle gleich: Mann trifft Frau, sie verlieben sich, der Mann wird schwach, oder braucht Geld, geht fremd, es fließen die Tränen und am Ende kommen die Liebenden wieder zusammen. Anschließend wird es mit und von Til Schweiger verfilmt. Gähn!

ISABELL: Da haben Sie nicht ganz Unrecht, Herr Kommissar. 

OBERSTUDIENRÄTIN: Im Glück mögen sich die Geschichten ähneln; in deren Unglück ist jede einzigartig, wie Tolstoi schon sagte. Wenn ich die Autorin wäre, dann würde ich meine Geschichte so schreiben: gepeinigt durch die Begierde der körperlichen Gelüste, oder besser noch, durch die permanente Suche nach deren Befriedigung. Ali wäre nur eins dieser Abenteuer. Ich könnte da so einiges erzählen.

ISABELL: Ach ja… so etwas wie die feministische Variante von Angélique? Die arme Angélique wurde als Sexsklavin verkauft und musste so einiges über sich ergehen lassen. Du sorgst selbst dafür, dass dir all das widerfährt, was ihr geschehen ist. Dabei scheint dir nichts heilig zu sein.

JENNY: So einen Schund würde niemand lesen! Isabell, warum schreibst du nicht deine eigenen Erfahrungen? Immerhin, mich hat es neugierig gemacht, wer du bist und warum du rauchend durch die Nacht fährst.

ISABELL: Es gibt nicht viel über mich zu erzählen. Ich habe nur die fixe Idee, einen Roman zu schreiben. Und das Rauchen… Vor ein paar Jahren habe ich in einem Interview gelesen, wie eine Schriftstellerin von sich sagte, sie könne nur schreiben, wenn sie dabei raucht. Zu Hause darf ich nicht rauchen. Mein Mann leidet an Asthma. Und die Nacht. Sie gehört einfach mir. Die leeren Straßen, die Lichtkegeln auf dem Asphalt, das alles gibt mir ein Gefühl von mir. Ich bin nur ich, wenn ich im Auto herumfahre und rauche. Und ich hoffe natürlich, die Geschichte meines Lebens zu finden.

ICH: Wie schön du das beschrieben hast. Ich habe mir das genauso vorgestellt, wie du durch die Nacht fährst. Wie eine Filmszene.

KOMMISSAR: Ich bin leider viel zu beschäftigt, um in einem Film mitzuspielen. Tagein, tagaus schlage ich mich mit Verbrechern herum. Und so kurz vor der Rente muss ich unbedingt diese Leiche abliefern. Sonst habe ich einen schwarzen Fleck auf meinem Lebenslauf als Kommissar. Ich bin der Kommissar, und wenn ich als Kommissar scheitere, ja, was bin ich dann? So spreche ich mich auch selbst an. „Guten Morgen Herr Kommissar“, sage ich, wenn ich morgens ins Bad gehe und mein Gesicht im Spiegel sehe. Wenn ich in einem Film mitspielen würde, würde ich ebenfalls den Kommissar spielen. Ich kann überhaupt gut in Rollen spielen – vor allem als Kommissar!

ICH: Hast du nicht auch einen Hotelier gespielt, in einer anderen Geschichte, die ich mal angefangen habe? 

KOMMISSAR: Was weiß ich! Du hast überhaupt keinen Schimmer von deinen eigenen Hirngespinsten. Löst sich dein Verstand womöglich auf? Hier bin ich jedenfalls Kommissar…

ISABELL: …sagte er zum tausendsten Mal…

KOMMISSAR: … und ich habe einen Mittelsmann eingesetzt, um an Hintermänner ranzukommen. 

ICH: Der Chinese.

KOMMISSAR: Genau, und bevor er seine Mission beenden konnte, starb er an einem Herzinfarkt.

ISABELL: Moment! Etwas langsamer. Sonst komme ich nicht mit. Ich notiere: Es gab eine Bande organisierter Verbrecher, richtig? Und dein Mittelsmann wurde in die Bande hineingeschleust, um dieses Verbrechen zu verfolgen. Dann ist er plötzlich gestorben… 

ISABELL: Ja, aber was war das für eine Organisation? Man müsste doch wissen, was dieser Chinese dort machen sollte, oder?

OBERSTUDIENRÄTIN: Natürlich Schätzchen, du musst alles wissen, wenn du eine Geschichte schreibst. Sogar, was die Protagonisten für Unterhosen tragen. Insbesondere das! Ich meine bei den Männern, da gibt es Shorts und Slips und, ja, manche tragen auch nichts. Das alles muss die Leserin einfach wissen.  

KOMMISSAR: Diese liebestollen Weiber, die habe ich echt zum Fressen gern! 

OBERSTUDIENRÄTIN: Wie darf ich diese Gehässigkeit jetzt deuten, Herr Kommissar?

KOMMISSAR: Nichts für ungut, Gnädigste. Kannte mal so ein Flittchen. Gott sei Dank habe ich rechtzeitig einen Abgang gemacht.

OBERSTUDIENRÄTIN: Das ist so typisch. Wenn ein Mann wild rumvögelt, ist er ein toller Hecht, macht‘s eine Frau, ist sie gleich ein Flittchen.

KOMMISSAR: Sie hat mit ihren Jungs von der Oberstufe gevögelt. Und sie war meine Frau! Aber hier bin ich… ihr wisst schon. Isabell, du wolltest mehr vom Mittelsmann wissen, nicht wahr? 

ISABELL: Was könnte das für eine Organisation sein. Eine Drogenmafia?

ALI: Leute, diese ganze Sache mit dem eingeschleusten Chinesen ist sowas von ausgelutscht. Kompletter Krimi-Kitsch. In dem Geschäft existieren bereits tief verankerte Strukturen. Da ist mit ‘nem Mittelsmann nichts zu gewinnen.

KOMMISSAR: Ach ja? Aber jemand namens Ali, der mit Koks handelt und Frauen abschleppt, soll ein origineller, klischeefreier Charakter sein, oder was? Und was weißt du von professioneller Polizeiarbeit?

JENNY: Ali kennt sich eben gut in der Szene aus, weil er deren Laufbursche ist. 

KOMMISSAR: Darauf sollte niemand stolz sein, mein Kind!

ALI: Hör mir mal gut zu, Mann, ich habe mir diese Rolle nicht selbst ausgesucht. Ich wäre gerne Botaniker, weißt du, aber nein, wer Ali heißt, muss sich mit Offenbachern rumschlagen. Wieso überhaupt ein Chinese?

ISABELL: Ali hat Recht. Einverstanden, keine Drogen. Es muss etwas anderes sein, wozu ein Chinese gut passt.

JENNY: Vielleicht ist er nicht in der Mafia gewesen, sondern er war ein Mitglied des chinesischen Geheimdienstes. Das wäre doch sehr spannend, wie ein James Bond-Film.

ICH: Ob das glaubwürdiger ist als die Drogenmafia?

ISABELL: Er könnte wichtige Informationen kopiert und zum Verkauf angeboten haben?

KOMMISSAR: Nee, nee. Ich mach nicht bei einem internationalen Spionage-Thriller mit. Bin doch kein Lackaffe.

ISABELL: Darf ich kurz zusammenfassen? Es misslang eine gezielte Operation der Polizei, mit Einsatz eines Mittelsmannes eine kriminelle Organisation auszuhebeln. Der dafür vorgesehene Mann mit chinesischer Herkunftsgeschichte verstarb kurz davor.

OBERSTUDIENRÄTIN: Wie wär’s damit: Es handelte sich nicht um eine Drogenmafia, sondern um eine Kunstraubmafia, besser noch Raubkunst. 

ISABELL: Beutekunst! Das ist es! Gestohlen aus Museen! Also legen wir los. Interpol war den Dieben auf der Spur. Sie sind über einen Mittelsmann, einen angeblich chinesischen Milliardär, mit ihnen in Kontakt getreten und wollten die Übergabe eines gestohlenen Werkes abwickeln.

ICH: Ja, natürlich! Das wird großartig! Der Verstorbene war ein angeblicher Käufer. Das ist wie ein Krimi aus den Sechzigern. Frauen mit hochtoupierten Haaren.

ALI: Mann, da waren gerade mal meine Eltern geboren. Ewig her.

ICH: Du hast Recht… Es ist eine blöde Idee, sorry. Wir bleiben in unserer Zeit. Damals gab es auch keine Chat-Programme. Sonst müssten wir unsere Unterhaltung aufs Telefon verlegen. Oder im Chat so tun, als würden wir telefonieren.

ALI: Telefonieren geht gut. 

ISABELL: Du kannst bestimmt so einiges gut.

ALI: Ja Mann, unterschätz auch du mich ruhig. Ich habe sehr viel mehr drauf. 

ISABELL: Na gut. Dann lass mal hören.

ALI: Es beginnt so: erster Tag im Hotel. Ich mache gerade eine Zigarettenpause auf der Terrasse und sehe Jenny. Sie stapelt die leeren Kaffeetassen auf ihr Tablett. Eine Aura wie flüssiges Gold. Plötzlich schaut sie auf, und rennt hastig hinein. Ich denke, war ich das? Habe ich sie erschreckt? Dabei kann sie mich nicht gesehen haben. Ich stand seitlich von ihr, sah sie im Profil. Ohne nachzudenken drücke ich die Kippe aus und laufe hinter ihr her.  

JENNY: Stimmt, Ali kann Auren sehen! Er behauptet, dass jeder Mensch so eine Aura hat. 

OBERSTUDIENRÄTIN: Ich habe eine rote Aura.

ALI: Bei Iris war es sowas von Rot, Alter! Ja, wie ein roter Sack, durch den das Sonnenlicht durchscheint. Sie war warm und einladend, so krass!  

JENNY: Ein riesiges Ei war das, ein Monster-Alien-Ei hat ihn angezogen, um ihn auszusaugen.  

ISABELL: Jenny, was genau hattest du gesehen? Warum warst du so erschrocken? Das könnte uns vielleicht in der Geschichte weiterbringen. 

JENNY: Ach, das… Da war gerade ein Mann gekommen, dem ich nicht begegnen wollte. Hat hier aber nichts zu suchen. 

ALI: Was für ein Mann. Dein Ex? 

JENNY: Nein! 

ALI: Wer dann?

JENNY: Nicht das, was du denkst. 

ALI: Was denk ich? Nichts. Ich will’s nur wissen!

JENNY: Es war… Es war mein Vater.

KOMMISSAR: Ja, das war ich! Ich musste mich hier einschleichen, um dich zu finden. Das hattest du also im Sinn, nachdem du dein Jurastudium abgebrochen hast. 

JENNY: Aber, Sie?

KOMMISSAR: Ja, ich! Dein Vater! Ich hasse die Rolle des schneidigen Kommissars. Die ist nichts für mich. Ich möchte nur noch dein Vater sein.

ISABELL: Oh Gott! Es wird schlimmer. Jetzt haben wir hier einen Fake-Polizisten.

OBERSTUDIENRÄTIN: Was? Der ist kein Kommissar? 

KOMMISSAR: Ich bin ein alleinerziehender Vater, der sich Sorgen macht.  Meine Tochter, mein Ein und Alles, sie hat ihr Jurastudium abgebrochen um eine Lehre als Hotelkauffrau anzufangen. Ich war fassungslos, als ich es hörte. Und ich bin es immer noch. Jenny, Kind, warum konntest du das nicht mit mir besprechen? Warum diese Heimlichkeiten all die Zeit? 

JENNY: Och nee, da hab´ ich sowas von keinen Bock drauf…Papa, muss das sein?

KOMMISSAR: Ja, sonst kommen die Geschichten nie zu ihrem Ende!

JENNY: Na gut… Papa… es tut mir leid. Ich dachte, ich würde dich furchtbar enttäuschen, wenn ich dir die Wahrheit sage. Das Studium war sehr langweilig. Dieses Auswendiglernen, das ist nicht meins. Ich möchte mit Menschen zu tun haben, und zwar im Hotel, so wie ich aufgewachsen bin. 

OBERSTUDIENRÄTIN: Sie hatten ein Hotel, Sie Möchtegern-Bulle? 

KOMMISSAR: Das ist doch jetzt nicht mehr wichtig! Wollen wir jetzt nicht mit Ihrer Geschichte weitermachen?

OBERSTUDIENRÄTIN: Mit meiner Geschichte, ja? Dann bin ich eben deine Frau! Das hast du davon, wenn du deine Vorgeschichte verheimlichst!

KOMMISSAR: Wir beide, verheiratet? Du bist ja noch schlimmer als meine Ex-Frau…

OBERSTUDIENRÄTIN: Vielleicht bin ich ja deine Ex-Frau.

KOMMISSAR: Bitte… bitte nicht das…

OBERSTUDIENRÄTIN: Wir alle müssen Opfer bringen, um das Ende unserer Geschichten zu finden.

KOMMISSAR: Argh, na gut! 

OBERSTUDIENRÄTIN: Na, nicht so widerwillig! Wenn wir uns schon als Familie wiedergefunden haben, sollten wir diesen Moment etwas auskosten. Vor allem, wenn wir einen gemeinsamen Feind haben.

KOMMISSAR: Wen meinst du – achso. Natürlich! Ali!

OBERSTUDIENRÄTIN: Ganz genau, Ali… Du Schuft, du mieser kleiner Halunke! Du hast nicht nur mein Geld, sondern mir auch meine Tochter gestohlen! 

KOMMISSAR: Na, na, schwenke die Moralkeule nicht zu weit, denn sie könnte zurückschlagen. Wer war denn diejenige, die hinter kleinen Jungs her war? Hattest dir auch den passenden Beruf ausgesucht. Eine nimmer versiegende Quelle an Jungs, Futter für deine unstillbaren Gelüste. Jetzt ist auch noch der Freund deiner Tochter dran.

OBERSTUDIENRÄTIN: Jenny, Kleines, glaub mir, ich konnte nicht wissen, dass du mit ihm zusammen bist. Er hat nie viel von dir erzählt. 

ALI: Scheiße Mann, Jenny, Zuckerschnute, Honiglippe, woher sollte ich wissen, dass sie deine Mutter wird?

JENNY: Warum muss sie meine Mutter sein? Sie ist doch voll peinlich.

ISABELL: Nicht nur peinlich, die Story hört sich für mich unsäglich schlecht an. Ein plumpes Familiendrama. Ali liebt Jenny und Iris, Iris liebt Ali. Vater, getarnt als Kommissar, deckt alles auf. Das ist eher was für die Bild-Zeitung!

OBERSTUDIENRÄTIN: Hört mal, ich möchte mich keineswegs rechtfertigen. Für mich ist die Liebe zu Ali mehr als körperlich gewesen. Ich fühlte mich für ihn verantwortlich, nachdem ich ihm das Leben gerettet hatte. Er sollte etwas Besseres werden als ein gutaussehender Kleinkrimineller. Aber dafür musste er von diesem Zeug runterkommen.

ALI: Man nennt es auch Gras.

OBERSTUDIENRÄTIN: Du hattest mir versprochen, solange du bei mir bleibst, dieses verdammte Ding nicht anfassen.

ALI: Das „Ding“ heißt Bong, und ich weiß nicht, wovon du sprichst. 

OBERSTUDIENRÄTIN: Er war so voll, der ist mir fast vors Auto gefallen. Fragt ihn!

ALI: Nicht voll – breit! Es heißt breit! Hat in deiner Jugend niemand gekifft, oder was?

KOMMISSAR: Meine Frau hat ganz andere Laster. Ich sage nur: jeden Abend Château Migrähn. Leberzirrhose lässt grüßen.

ISABELL: Bleibt doch mal bei der Sache! 

ALI: Ja, gut. Es stimmt schon. Es hätte mich beinahe erwischt. Jedenfalls stieg Iris aus dem Auto und da sah ich das rote pochende Etwas um sie herum. Es bewegte sich, warf strahlende Fäden zu mir rüber und zog mich an sich. Ich musste es berühren, mit den Händen kneten, mein Gesicht darin vergraben. Leute, das war so irre, da wusste ich: Es war ein Gottesbeweis! Er rettete mich, nicht nur vor dem Tod. Mein Leben hat ab da eine neue Wendung genommen. Allah hat viele Wege!

JENNY: Bullshit! Ali, hör damit einfach auf!

ISABELL: Was für ein Trip.
ICH:
Das, was dir fehlt.

OBERSTUDIENRÄTIN: Er mag gewiss etwas übertreiben. In Wirklichkeit kam ich vom Besuch meiner Oma aus dem Krankenhaus, als er mir vors Auto lief. Mein Vater war schon tagsüber bei ihr gewesen, weil an dem Abend so ein Finale war. Deutschland gegen irgendwen, was er auf jeden Fall nicht verpassen wollte. Mir ist Fußball so was von egal, also fuhr ich allein hin. Ich konnte in letzte Sekunde bremsen. Es hat nicht viel gefehlt. Da stand er, wie ein paralysiertes Kaninchen, völlig weggetreten, und reagierte nicht auf meine Worte. Ich musste ihn mitnehmen, was blieb mir andres übrig? Zu Hause habe ich ihn erst mal gewaschen und frisch gemacht. Die ganze Nacht lang erzählte er von Strahlungen und Ausstrahlungen, von Stimmen und Toten, lauter so unzusammenhängendes Zeugs. Mir war das unheimlich und ich dachte, es muss an dem Stoff liegen, den er zu sich genommen hatte. 

ALI: Junge, das war fast mein Ende. Ich werde verfolgt. Fast erwischen sie mich. Da bin ich in eine Sackgasse geraten und denke, das war‘s. Sie sind bewaffnet und hätten mich über den Haufen geschossen. Ich spreche schwitzend mein letztes Gebet, doch da höre ich eine Stimme, laut und deutlich, „noch nicht, denn du hast noch etwas zu erledigen. Lauf zum Eingang des Hauses hinter dir!“ Die Tür ist tatsächlich einen Spalt offen. Da gehe ich also rein, schiebe den Holzkeil zur Seite und die Tür fällt ins Schloss. Ich steige die Treppe hinunter zu den Kellerräumen und warte dort im Dunkeln. Keine Ahnung für wie lange, vielleicht bin ich eingeschlafen. Auf jeden Fall gehe ich wieder raus und da höre ich Schritte hinter mir. Scheiße, denke ich, und renne wie blöd los. Und gerate fast unter die Räder. 

ISABELL: Ali hatte Glück, dass seine Retterin Iris sich auf dem Rückweg vom Krankenhaus befand und gut bremsen konnte. Er sah um Iris herum das Rot, worauf er unentwegt starrte. Es war das Licht der Straßenlaterne, das Iris von hinten anstrahlte, und ihre hennagefärbten Haare verstärkten Alis Wahrnehmung ihrer roten Aura. Angst, Kälte, womöglich auch Hunger öffneten sein drittes Auge. Vielleicht aber auch nur die Drogen, die er zu sich genommen hatte.

ALI: Ich hatte keinen Hunger. Sie hat eine rote Aura, ich habe sie gesehen, auch wenn ich nüchtern war!

ISABELL: Ich schreibe doch kein Buch über Okkultismus. Du kannst es so gesehen haben, doch muss es für den Leser eine realistische Erklärung geben.

OBERSTUDIENRÄTIN: Ich muss sowieso etwas an deiner Erzählung korrigieren: meine Haare sind doch nicht mit Henna gefärbt! Sie sind von Natur aus kastanienrot. Das sollte bitteschön auch so geschrieben werden. Auf jeden Fall habe ich ihn dann zu mir geholt und aufgepäppelt wie ein krankes Vögelchen. Später hat er eine Lehre als Koch angefangen, wo er, wie ich gerade erfahren habe, meiner Tochter Jenny begegnet ist. Ich hatte doch keine Ahnung, Jenny war da noch nicht meine Tochter gewesen. Ich dachte, Ali hatte irgendein anderes beliebiges Mädchen. 

JENNY: Es ist schon komisch. Ich habe gedacht, meine Mutter ist… 

KOMMISSAR: … ein Flittchen. Sie hat dich und mich verlassen.

OBERSTUDIENRÄTIN: Ja – weil du mich dazu gezwungen hast! Du hast mir nämlich damit gedroht, die Schulbehörde einzuschalten und mich wegen Verführung Minderjähriger zu verklagen, wenn ich nicht gehe.  

KOMMISSAR: Zu Recht! 

OBERSTUDIENRÄTIN: Es war nicht meine Schuld. Jonas, dieser Oberstufenschüler, er war frühreif. Er kam mir immer schon so verdächtig nah, wenn er etwas nicht verstanden hatte. Ich dachte zunächst, er hört schlecht.

ISABELL: Stoppt mal! Ich glaube, wir bleiben besser bei der Geschichte mit der Leiche. Ich werde mit diesen Nebenschauplätzen nicht fertig. Sie sind so was von an den Haaren herbeigezogen. Das kauft mir kein Mensch ab, wenn ich so einen Mist schreibe.

ICH: Du kommst eben mit komplexen Erzählungen nicht zurecht. Geh halt und such den toten Chinesen, wenn dir alles andere zu viel ist.

ISABELL: Das Leben ist verwirrend genug, daher sollte alles Erfundene einen Erzählstrang haben. Und Unnützes muss dort raus. 

JENNY: Ihr seid schuld dran. Ich hätte diese Erzählung so aufhören lassen: Ali arbeitet als Auszubildender im Hotel und hat sich dort in mich verliebt. Ich heile ihn von allen Lastern, auch von Iris. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Keine verstörende Verwandtschaft zwischen Iris und mir, keine Nebenschauplätze, einfach nur der Anfang einer zauberhaften Beziehung mit Happy End in Sicht. Hach!

ISABELL: Ich schreibe doch keinen Groschenroman. 

KOMMISSAR: Wartet mal! An dem Abend, an dem der Chinese den Kunstraub-Deal einfädeln sollte, gab es ebenfalls ein Spiel. Ich erinnere mich, dass ich mich darüber aufgeregt hatte, ausgerechnet an dem Abend zum Einsatz zu müssen. Es war das Finale gegen Portugal.

ICH: Das kann nicht nur ein dummer Zufall sein.

ISABELL: Wer weiß das schon bei dir. Aber gut, dann bleiben wir eben an Alis und Iris‘ Kennenlerngeschichte dran. Iris, was genau hat Ali denn so alles gemurmelt in der Unfallnacht? 

OBERSTUDIENRÄTIN: Was weiß ich, wirres Zeugs eben, unzusammenhängend. Ich musste laut lachen, weil er sagte: „du hast so viel Ahnung von Botanik wie Fische vom Stricken“. Da schrie er laut auf, und ich dachte, er ist böse auf mich, weil ich gelacht hatte.

ISABELL: Was schrie er?

OBERSTUDIENRÄTIN: Etwas wie „hör auf mit den kitschigen Kopfgeburten und Klischees, mach einfach einen Pflanzenforscher aus mir.“ Da sagte ich ihm, dass er dafür auf die Uni müsste, und natürlich würde ich ihm dabei helfen. Am nächsten Tag hat er nichts mehr davon gewusst. Er konnte sich wohl an nichts erinnern. 

ALI: Ein Blackout. 

ISABELL: Was hast du an dem Tag gemacht? Ich meine, bevor du gejagt wurdest?

ALI: So ‘nen blöden Job im Krankenhaus. Mein Cousin hat eine Reinigungsfirma und ab und an helfe ich dort aus. 

KOMMISSAR: Du hast im Krankenhaus gearbeitet? In Offenbach? Die haben meine Leiche verloren. 

ALI: Ja Mann, im Krankenhaus. Da bin ich gerade im Flur und schwenke meinen Mopp hin und her. Ich hab´ neuen Stoff geraucht. Der hatte es in sich. Auf jeden Fall höre ich, wie jemand über mich spricht. Ich schmeiße den Mopp in die Ecke und schaue nach, wer da ist. Da sehe ich einen weißen Reißverschlusssack, der atmet. Aus dem Sack schwebt Rauch nach oben. Ich habe ihn gepackt. War nicht sehr schwer.  

ISABELL: Und?

ALI: Mehr weiß ich nicht.

KOMMISSAR: So war er, der Chinese. Klein, und nicht schwer. 

JENNY: Ali muss ihm im Krankenhaus begegnet sein, als die Leiche dort frisch hingebracht wurde.

OBERSTUDIENRÄTIN: Eine Leiche kann aber nicht atmen.

ISABELL: Vielleicht dampfen?

ALI: Oder rauchen, was? Leute, was labert ihr? Ich hab´ sie richtig atmen sehen. Ein grünes Licht brannte an der Wand gegenüber und da sah ich ganz deutlich etwas aufsteigen.

ISABELL: Dampfende Leichen, strickende Fische! Ob ich daraus etwas Brauchbares zaubern kann?

OBERSTUDIENRÄTIN: Das sind erbärmliche Metaphern.

KOMMISSAR: Kirschkern und Zahnkrone hatten wir auch schon. Dabei weiß jeder, der eine Zahnkrone hat, wie schmerzlich diese beiden in Kombination sein können.

ALI: Oh Mann!

ISABELL: Du sagst es! Es ist sinnlos. Kaum haben wir eine Person eingefangen, driftet schon die nächste ab. So kriege ich niemals unsere Geschichten unter einen Hut.

ALI: Nein, warte!

ISABELL: Ich gebe auf. Habe auch keine Kippen mehr.

ICH: Wie, du willst schon aufgeben? 

ISABELL: Du hast es schon vor Jahren getan. Schon vergessen?

ALI: Ich meine, sie ist …

JENNY: Schon gut, Ali, Iris ist meine Mutter, wir wissen das alle. Er hat wieder so ein Flashback. Kommt vom Kiffen.

ALI: Honigschnute, du süßeste aller Jahrmarkt-Candy-Mäuse, denk doch mal nach! Sie ist die Leiche! Sie hat all das Zeugs gesagt. Ey, kommt schon. Begreift ihr nicht? Das Meta-Ding! 

KOMMISSAR: Halleluja! Nach Gottesbeweis jetzt die Meta-Ebene.

ISABELL: Ja… Äh, nein, Moment! Er meint mit Meta-Ding die Metapher! Fisch und Stricken. Jemand muss ihm das in der Nacht im Krankenhaus gesagt haben, wie Iris es uns gerade erzählt hat.

JENNY: Oder irgendwann davor. Ali hat schon immer mit sich gehadert. Vermutlich hat er deswegen all diese Drogen genommen.

KOMMISSAR: Nein, mein Kind, Ali hat mit Ich gehadert.  Das Ich ist meine Leiche, ich habe sie nun endlich gefunden. Und es ist unser aller Kirschkern unterm Gebiss, der all seine Unzulänglichkeiten und Unfähigkeit auf uns überträgt, uns straucheln lässt, ohne richtige Bindungen im Wind flatternd. Und wofür alles? Für eine miserable Geschichte. Man sollte ihm das Handwerk legen. 

ICH: Was? Spinnt ihr?

OBERSTUDIENRÄTIN: Ja, so ist es. Ali muss dir dort begegnet sein, in deinem Totensack. Er hat stets mit dir gehadert, er war sich seiner schäbigen Rolle bewusst.

ALI: Du hättest mir zuhören sollen. Dann wärst du ein besseres Ich und keine Leiche.

ICH: Ihr spinnt doch! 

ALI: Ach, ja? Beweise uns doch mal das Gegenteil!

ICH: Ich muss euch gar nichts beweisen. Im Zweifel für den Angeklagten, oder nicht?

KOMMISSAR: Ich bin sehr zufrieden. Ich ist gefunden und überführt! 

ISABELL: Ich hätte es wissen sollen. All dieses Versagen… Es ist vorbei, ich gebe das Schreiben endgültig auf! Ich will ein geregeltes Leben und acht Stunden Schlaf! Macht‘s gut, Leute!

(ISABELL hat die Gruppe verlassen.)

JENNY: Ali, der Witzbold mit seinen Auren und Gottesbeweisen. Dabei ist er nur einer Leiche begegnet. 

ICH: Lasst mir doch meine Ruhe! Himmel noch mal, was seid ihr doch für Quälgeister!

ALI: Selbst schuld. Hättest du mich nur Botaniker werden lassen! 

ICH: Wisst ihr was? Macht was ihr wollt!

(ICH hat die Gruppe verlassen.) 

KOMMISSAR: Und jetzt? 

ALI: Wir entscheiden, wie es weiter geht.  

JENNY: Ich hätte da einen Vorschlag. Kommissar, du bist mein Vater, Iris meine Mutter und wir leben in unserem kleinen Familienhotel irgendwo in den Bergen.

ALI: Ich bin als Student der Botanik dort unterwegs, suche nach wilden Orchideen und bin Gast in eurem Hotel. Da begegne ich Jenny und verliebe mich in sie. 

OBERSTUDIENRÄTIN: Ich habe einen wunderschönen Garten und werde nichts mit dir anfangen. 

JENNY: Ich dafür umso mehr.

KOMMISSAR: So genau wollen wir das gar nicht wissen, Liebes.

Sexliteratur aus der Sandkiste

Als ich anfing, einen Roman zu schreiben, worin sexuelle Handlungen explizit beschrieben werden sollten, merkte ich, wie befangen ich dabei war. Da saß ich dann mit Kuli und Kladde auf der Treppe vor der Musikschule mit Blick auf den Kinderspielplatz – und versuchte zu beschreiben, wie sich meine Heldin durch die Türkei vögelte. Es blieb meistens beim Versuch. Ich war nicht in der Lage, auch nur das Wort „Schwanz“ zu schreiben, ohne Herzrasen oder feuchte Hände zu bekommen.

Woran lag das bloß? War womöglich meine Herkunft schuld daran, die Türkei, die türkische Kultur, die mich prägte und daran hinderte, über die schönste Nebensache der Welt zu schreiben? Nun, das Buch konnte ich nach einigen Anläufen doch noch beenden, aber die Frage, ob und wie die kulturellen Unterschiede mein Schreiben beeinflusst hatten, beschäftigt mich weiterhin.

Ist die Sexualität in der Kultur meiner Herkunft ein Tabu, worüber man nicht spricht? Hatte ich deswegen Hemmungen und war prüde? Nun ja, wenn ich überlege, dass meine Eltern den Fernsehkanal wechselten, sobald sich zwei Leute küssten, oder mein Großvater uns Kindern weismachen wollte, dass dort der Mann die Zähne der Frau kontrollierte, also eine Art Zahnarzt sei, dann ist eine gewisse Tabuisierung durchaus vorhanden.

Auf der anderen Seite ist die Sexualität allgegenwärtig in Schimpfwörtern, in Form des verbalen Abreagierens, wenn Menschen aufeinander sauer sind. Dann wird auf Türkisch schnell „gefickt“, wo auf Deutsch ein schlichtes „Mist“ oder „Scheiße“ ausreicht. In meiner Herkunftskultur gibt man sich mit den schlichten Fäkalien nicht ab, nein, da geht es rustikaler zu.

Und falls der Eindruck erweckt wird, dies wäre ein bevorzugter Radaustil der Männer, muss ich korrigieren: Frauen benutzen ihn ebenfalls in verschiedenen Variationen. Meine Mutter denkt sich jemanden aus, der es dem Beschimpften besorgen soll, und wenn sie „Arap“ sagt – damit meint sie einen Schwarzhäutigen – ist ihre Wut besonders groß. Die verstorbene Oma hingegen übernahm den Akt der sexuellen Sanktionierung lieber selber. Dann knüpfte sie sich die ganze Sippschaft des Gemaßregelten vor, als sei sie in Fahrt gebracht worden und könne nicht bremsen – wie ein LKW mit geplatztem Reifen.

Es war schon sehr merkwürdig, in einem Umfeld aufzuwachsen, wo bei einer harmlosen Kussszene im Fernsehen eilig umschaltet wurde, im selben Atemzug man sich jedoch verbal fickend über die Sippschaft hermachte.

Nun, das seien eben einfache Menschen, Unterschicht, anatolische Bauern, bekam ich von Freunden zu hören, das ist doch keine Kultur! Ich müsste mich mehr in der Literatur umschauen. Wie offen oder nicht offen wird dort die Sexualität behandelt?

Also begann ich zu recherchieren. Weil ich in Deutschland aufgewachsen bin und mich mit der türkischen Literatur kaum auskenne, fragte ich den Mann meiner Schwester, der als Lehrer in Istanbul arbeitet. Er nannte mir ein paar Romane, worin ich Sexbeschreibungen finden konnte. Darunter „Turbane in Venedig“ von Nedim Gürsel, ein in Paris lebender türkischer Autor. Glücklicherweise hatte ich dieses Buch sogar auf Deutsch vorliegen.

„Unter dem Wintermantel gleitet seine rechte Hand zu Lucias Beinen. Etwas weiter oben, direkt unter dem weggerutschten Rock, fand er das kleine, haarige Biest, ein Felltierchen.“ Da in meiner Herkunftskultur Haare am Körper unerwünscht sind, insbesondere bei den Geschlechtsteilen, fühlte sich Kamil, der Protagonist im Roman, wohl angeekelt? Oder warum nennt er die Vagina ein Biest? „Er zog seine Hand sofort weg“, lese ich weiter, „als ob er sich verbrannt hätte“. Eindeutig traumatische Zustände wie bei mir, denn wie kann man sich an einem feuchten Ort verbrennen?

Lucia gefällt das nicht. Sie schiebt seine Hand zum „Biest“ zurück und lässt sie weiterreiben, bis sie „nahe dran war zu schreien. Im gleichen Moment spürte er etwas Warmes, Schleimiges an seinen Fingern.“ Ist das ein Beweis, dass der türkische Mann nichts von der Frau versteht? Zumindest deckt sich das mit dem Wegzappen der Kussszenen. Eben ein notwendiges Übel. Man muss darüber schreiben, zumindest wenn man in Paris lebt, in der Stadt der Liebe, muss sich der Autor dabei gedacht haben. Und da war die behaarte Muschi ein Biest. An späterer Stelle, als Kamil mit einer Nutte im Taxi nach Hause fährt, heißt es: „Eine Hand streichelte seinen Penis unter der Hose, er war also nicht allein. Er legte auch seine Hand zwischen den Schenkeln der Frau und fand das Tierchen.“ Die Frauen wechseln, das Tierchen bleibt.

Ich legte dieses Buch etwas verärgert zur Seite. Aber ein Autor macht noch keine Kultur. Die modernen türkischen Autoren schreiben über Sex immer in Kombination mit Liebe oder als Frucht der Liebe, das kannte ich bereits. Die Handlung wird oft umschrieben oder findet eine schnelle Erwähnung, ohne dass eine akkurate Beschreibung für notwendig erachtet wird.

In „Ince Memed“ lässt der größte Romancier Yasar Kemal den Leser im Dunkeln, wie Hatce von ihrer großen Liebe im Wald entjungfert wird. „Er fasst sie an den Handgelenken und zieht sie zum Felsen hin. Als sie zu sich kommt, ist Hatce eine Frau.“ In Ahmet Hamdi Tanpinars „Huzur“ geht Mümtaz mit der verheirateten Nuran eine heimliche Beziehung ein. Sie treffen sich zum Sex, aber auch hier lässt uns der Autor im Dunkeln, wie sie es treiben, als wäre das eine sehr private Angelegenheit der beiden.

Weiter zurück in der Literaturgeschichte begegne ich dem 1931 verstorbenen Mehmet Rauf. Der Autor, der mit „Eylül“ den ersten psychologischen Roman der Türkei geschrieben hatte, saß wegen eines dünnes Heftchens von 60 Seiten acht Monate im Gefängnis und wurde dabei seine gesellschaftliche Ehre los. In „Die Geschichte der Lilie“ beschreibt er pornografisch exakt den Akt sowohl zwischen Mann und Frau als auch zwischen zwei Frauen. Das Buch hat keine andere Handlung als die des Sexes; weder eine große Liebe, noch ein umständliches Anwerben drum herum. Im Gegensatz zu „Biest-Felltierchen-Kamil“ ist sein Protagonist gerade entzückt von der Genitalbehaarung seiner Gespielinnen.

Es machte mir Spaß, den Roman zu lesen, denn dieser Mann versteht die Frauen. Bevor er in seine 15-jährige Angebetete Zambak (Lilie) eindringt, bringt er sie tagelang mit Zunge und Hand zum Höhepunkt, um ihr Begehren für ihn zu steigern. Später genießt er als Voyeur aus seinem Versteck heraus die intimen Handlungen seiner zarten Lilie mit einer bekannten Lesbierin. Und als Höhepunkt, sowohl des Buches als auch für ihn, tritt er aus seinem Wandschrank hervor und verkehrt mit der Lesbierin – unter anderem anal.

Es gab und gibt also in meiner Herkunftskultur die pornografischen Texte, vermutlich wie in jeder anderen Kultur auch. Bei den alten Osmanen gab es die „Behnames“, spezielle Sexratgeber wie die Kama Sutra. An einer Stelle darin heißt es: „Im Sommer zu Frauen, im Winter zu jungen Männern.“ Dem Mann wurde Bisexualität empfohlen. Die Volkslieder sind noch heute voll von „wippenden Brüsten“ und anderen Anzüglichkeiten. Und MILF ist keine neue Modeerscheinung: „Was soll ich mit dir, schick mir lieber deine schöne Mutter“, schmachtet in einem Lied der Geliebte eines Mädchens.

Wie weit war nun diese Kultur an meinem Schreibhemmnis schuld? Oder lag es eher an den Kinderspielplätzen, wo ich die Geschichte schrieb? Oder war es eine Kombination aus beiden? Übertrug sich das Wegzappen der Kussszenen auf mich als Mutter? Spielte im Hintergrund das schlechte Gewissen aus dieser Zeit eine Rolle? War es so, dass ich mich schämte, im Beisein meiner Tochter über Sex zu schreiben? Etwa so wie meine Eltern sich geniert haben müssen, mit uns Kindern diese Szenen anzuschauen?

Wie auch immer. Die Antwort werde ich vermutlich nie herausfinden. Das Problem hatte ich sowieso gelöst: Ich schrieb die heißen Stellen einfach auf Türkisch. Denn in dieser Sprache lag mir, dank der alltäglichen Schimpfrituale, das reichhaltige Vokabular vom Ficken, Vögeln und Bumsen auf der Zunge.

Ohne Titel

Reit mich zu ‘nem Traum
Lass mich an Tischen spielen
Lass mich sehen, ob Glück nah ist
Oder entfernt wie Planeten
In der anderen Welt, halt mich fest
Wenn sich alles dreht

2)

Weiter steh‘n
Dich nackt an der Scheibe sehen
Weiter dreh‘n
Dein Licht in Illusionen brechen
Weiter geh‘n
Dir entrückt den Rücken kehren

3)

Ein blasses
Karussellpferd
Galoppiert
Und hinterlässt
Einen Brandherd
Das Kind drauf
Sieht nicht
Wen es
Mitnimmt

Es ist blind

4)

D o l l a r    s o l l    w e i ß e r    s e i n    a l s

K u h m i l c h

K u m m e r    k a n n    b u n t e r    s e i n    a l s

S m a r t i e s

P o r t e m o n n a i e   i s t   l e e r

N i r g e n d s   B e g e h r e n   m e h r

I c h   p u t z   d a n n   m e i n   G e w e h r

5)

Neonröhren flimmern
Hübsche Mädchen sirren
Nein, Nein! Es darf nicht sein!
Keine Zeit sich zu verlieben
Es ist noch Geld auszugeben
Oh ja! lass es uns zerstreuen!

6)

Wenn mich der Wahnsinn so beflügelt
Steig ich hoch und höher in die Atmosphäre
Wenn sich die Stadt in den Sand weit ausstreckt
Wie achtlos hingestreute Reißzwecke
Dann klaue ich der Nacht einen Strauß Sterne
Und schenke sie dir, meiner Zuckerschnute

7)

Sing laut ein Vaterunser
Vergiss nicht unsere Sache
Dein Reich ich so verlockend fand
Ich braucht‘ nur ein wenig Glück
Hoffnung mit Bang
Mal schwarz mal rot
Die Kugel ihre Runden dreht
Es geht nichts mehr, ich bete
Mein Wille geschehe

8)

Hey falscher Mann
Ich fand dich
In der Wüste Nevada
Du glaubst mir nicht
Allein weil ich sage
Auf Reißbrett entwickelt ist dein Heim
Virulent grell ist dein Schein
Wenn ich nicht aufpasse
Bist du mein Verderben

9)

Etwas weniger Wirklichkeit
Etwas mehr Regung, hier
Das ständige Ausweichen
Hat uns krumm gemacht, Schätzchen
Ein wenig Lust mehr
Ein paar Tränen weniger
Etwas mehr Kapitulation,
Etwas weniger Bemühen
Lass steigen aufrecht in die Hölle
Die Stufen

10)

Ja, Ich will
Ja, Ich will

11)

Hier singen Gott-Gläubiger, Betende
Der beseelte Prediger, euer Mahnender
Strahlend lacht der Clown, aller Drohender
Kehrt zurück zum Heiland, ihr Hoffenden

12)

Willst du mit mir in die Schlacht ziehen?
In dieser Nacht
Willst du mit mir dich innigst amüsieren?
In dieser Stadt
Glitter, Glitzer, Flitter, Booster, Toaster
So schön bist du Crystal Meth

13)

Ich war ein Stein und du aus Plastik
Lagen im Garten ohne Hektik
Ich war grau, du bunt quietschig
Wurden heiß und auch mal frostig
Ich bin ein Stein und werde verstauben                     
Dich hingegen wird’s ewig geben
Ganz ohne Leben

Epilog:

Etwas mit Spaß
Oder was ist sonst Las Vegas
Eine Stadt
Verrucht, verteufelt, geliebt, belebt
Und mehr noch
Schauplatz
Projektionsfläche, Träume
Der unbegrenzten Möglichkeiten
Des Protzes, der Macht, des Größenwahns
Eine Flucht
In die exzessiv zerstörerische Schönheit
Party, Spaß, Glitzer
Ein Oben
Größer, schneller, höher, besser und vor allem
Billiger
Ein Unten
Im Schatten dort weilen die Verlierer
Abfallprodukte
Ausgeschieden von der Vergnügungsmaschinerie
Gewaltbereit, kriminell, drogensüchtig
Die Ausgerutschten oder besser noch Ausgelutschten
Leben sie zu Hunderten in den Tunnels des Kanalsystems
Obdachlos
Omnipräsent in dem hektischen Glamour der Glitzerwelt
Ich sah ekstatischen Partyspaß
Ultimative Gigantomanie mit
Atemberaubendem Blick auf die nächtliche Stadt
Und auch Familien
Die zu Weihnachten ihren Kindern Schießübungen auf einer Shooting Farm schenkten
In Gegenden gewesen, die zu den gefährlichsten der USA zählen
Menschen gesehen, die alles verloren, in Las Vegas
Bizarre Eindrücke
Abstrakte Bilder eingefangen in Stimmungen der Faszination
Und doch blieb am Ende
Ein Gefühl der Leere

 

Ein Dichter-Gedicht

Ein Dichter-Gedicht

Ein Dichter lebt nicht lange
Denn er schreibt uns seinen Kummer
Vom Regen im September
Vom Duft der Äpfel im Winter
Und ist dann da der Sommer
Soll man denken, er ist ganz froh
Doch dann plagen ihn insbesondere
Im Park nackt die heißen Nächte
Auf der Suche nach Abenteuer
Nun, was sage ich, es ist Sommer
Und Hormone hat auch ein Dichter

Ein Dichter kann nicht leben lang
Denn er ist besaitet ganz zart
Schreibt nieder alles was er find
Und wenn auch er in sich nichts fühlt
So schachert er in fremden Gärten und wühlt
Zerstückelt und hackt es klein
So Leute denken es ist sein
Und er sich badet im falschen Schein
Oh Sommer du schön, du mein
Sollst nicht leben lang, nur fein

Ein Dichter soll nicht leben lang
Es wird einem heiß und ganz bang
Immer diese Sorgen um ihn
Liebt er einen liebt er keinen
Alles Lüge oder nur Trugschluss
Irgendwann kommt der Entschluss
Der Sommer ist kein heißer Frust
Auch wenn feucht ist Hand und Fuß
Der Regen uns abkühlt im September
Und der Apfel dichtet im Winter
Der Sommer war ein heißer Genuss

Ein Dichter darf leben, nur lange nicht
Diese Grille, die zirpt und singt
Ein Geschwafel sinnlos nur bezirzt
Sich für unersetzlich gar unsterblich hielt
Wo ist der Knopf, um ihn auszuschalten
Die Nachrichten im Radio einzuschalten
Hör zu, die Welt geht heute unter
Halt die Klappe du dummer Dichter
Wenn Du nicht schweigst in meinem Kopf
Dann werde ich dich töten, sofort

So klagt die Hure mir ihr Leid
Streift glatt ihr weißes Kleid
Sie muss es wissen, auch wenn nicht weise
So hat sie Erfahrung, hat ihre Kreise
Leert ihr Glas, zieht ihre Lippen rot
Sagt, Kind wenn es Dir im Schritt mal juckt
Dann nimm keinen Dichter und nie ein Philosoph
Ein Bauarbeiter, der tut’s besser noch

Der Sex hat der Liebe zu dienen

Der Sex hat der Liebe zu dienen!

 

Die Signale pulsieren, die Ganglien sind kurz vorm Verglühen, der Prozessor überhitzt, das Schaltzentrum droht die Kontrolle zu verlieren. Gleich, gleich wird die Macht ausgeschaltet und ich werde über die Mauer springen, um einen Blick hinüber zu werfen. Möglicherweise erleben wir die unendliche Sekunde, in der das Wasser die Zeit nicht hat, um aus dem umgekippten Glas hinauszuströmen, wir allerdings genügend Zeit haben, um in aller Muße die Gärten der Ewigkeit zu durchstreifen. Und wer weiß, vielleicht gelingt es mir sogar, dir einen Apfel zu pflücken.

Nein, wir haben nicht geflirtet. Wer tut das noch heute? Wer gibt sich mit „Ausgang ungewiss“ zufrieden? Warum soll man sich dem ausufernden Gespinst des Zufalls ausliefern? Niemand ist allein. Es gibt viele Möglichkeiten, unendlich viele sogar. Man wird die Passenden suchen und finden, die Gleichgesinnten werden zueinander stoßen, um einander mit besonderen Auftritten, Kunststücken und Kostümierungen zu bereichern. So gebären Möglichkeiten Ideen. Und die Möglichkeit wird zur berechenbaren Wahrscheinlichkeit. Ist nicht jede Idee wahrscheinlich, wenn doch alles berechenbar ist? Ich mache jedenfalls mit und schlucke eine Kobra, nur um sie wieder lebendig auszuspeien.

Die Zunge lenkt meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie hilft mir unterzutauchen, ganz tief unter meine Haut zu rutschen und zu dem Punkt zu gleiten, von dem die Signale ausgehen. Meine ganze Wahrnehmung ist darauf konzentriert, ich folge den Wellen, die ich in unterschiedlichen Arealen empfange und modelliere. Der Körper aus Fleisch und Blut hat sich aufgelöst; geblieben ist ein Zentrum, aus dem die Signalbahnen laufen. Es ist wie eine dieser Landschaftsnach-bildungen, die in manchen Heimatmuseen zu sehen sind und auf denen einzelne kleine Glühbirnen Orte darstellen. Und drückt man auf den entsprechenden Knopf, brennt irgendwo auf der Nachbildung eine kleine farbige Glühbirne und man weiß nun genau, wo sich dieser befindet. Ich bin deine Bergkette, mit Höhen und Tiefen.

Der Rauch der Zigarette schlängelt sich über unseren Köpfen und verdünnt sich gräulich in die Dunkelheit. Gott schuf also den Menschen nach seinem Ebenbild? Nur hat er mir die Unsterblichkeit vorenthalten. In mir ist der Tod gesät und wächst mit jedem Tag. Ich bin in Zeiten gesplittert. Es gibt mich jetzt, gab mich vorhin, es gab mich gestern, vorgestern, letzte Woche, letztes Jahr und viele Jahre davor. Und morgen gibt es mich, möglicherweise noch, mit abnehmender Wahrscheinlichkeit in ferner Zukunft, denn Cookies haben eine begrenzte Lebensdauer. Bin ich nur die Summe meiner Zeiten? Wo bleiben all die unausgesprochenen Wünsche, Ängste, Ahnungen, Trauer und Freude? Und wo das Verborgene, das selbst ich noch nicht kenne? Vielleicht schwimme ich nur, weil ich die Berge nicht habe?

Auf dem kleinen Balkon haben wir der kranken Taube einen Verschlag gebaut. Einer Taube! Wer rettet heute noch das Leben einer gewöhnlichen Ringeltaube, dieser Ratte der Lüfte? Bugs pflegt man nicht, man beseitigt sie! Es gab viel Kopfschütteln. Wir brachten sie trotzdem bei uns unter. Auf dem Balkon unserer Einzimmerwohnung in diesem kastenförmigen Hochhaus aus Beton. Unser Essen teilten wir mit ihr und betteten sie in einem alten Wollpullover. Sechs Tage lang waren wir glücklich. Sie gurrte uns etwas vor, das wir nicht verstanden haben, trotzdem waren wir verzückt. Nur den Apfel hätte sie vielleicht nicht bekommen sollen.

Wir küssen, zärtlich, nicht forsch, im Einklang miteinander. In all meinen Vorstellungen hätte ich mir das nicht ausmalen können. Überhaupt kann ich mir das Küssen nicht vorstellen; ich könnte es auch nie beschreiben. Den Akt hingegen schon. Er ist zielgerichtet, hat eine Agenda, schlägt mit harten Beats um sich, wackelt, schaukelt, donnert, immer und immer wieder. Er ist die stupide Wiederholung der Wiederholung und doch nie langweilig. Dagegen sind Küsse flüchtig, sie entstehen ganz von allein und in dem Moment, jeder Kuss ist anders, unbeschreiblich, unvorhersehbar. Der Kuss ist eine spontane Handlung, eine Performancekunst. Den Akt kann man lernen, das Küssen nicht. Der Kuss kann allerdings unangenehm sein, wenn eine fremde Zunge wie ein Dolch im Mundraum herumstochert, oder ein Mund verschlossen bleibt, Lippen wie kleine Saugnäpfe das Gesicht befeuchten und das Verlangen löschen. Er kann sogar regelrecht öde sein. Wenn er aber gelingt, so wie jetzt bei uns, dann herrscht ein verträglicher Gleichklang im Mund, eine Art Tanz, in dem Lutschen, Lecken und Saugen ineinander übergehen. Der Kuss steht für sich und braucht kein Weiter, kein Mehr. Er verspricht nichts, ist sich selbst genug und wächst doch über sich selbst hinaus, füllt und leert sich, schließt und öffnet sich. Auf und zu. An und aus.

-Vertont für die Ausstellung “Die Stadt als Datenfeld” in Graz

Die Schweinemilch

Die ersten Gastarbeiter aus Italien waren gezwungen, Olivenöl in Apotheken zu kaufen. Der Apotheker gab ihnen den Hinweis, sie mögen es in geringen Maßen zu sich nehmen, denn das Olivenöl sei ein Arzneimittel und würde sonst zu Magen-Darm-Verstimmungen führen. Der Italiener war in der Tat verstimmt: über den zu zahlenden Preis. So suchten sie nach anderen Möglichkeiten, denn die deutsche Küche war für sie keine Alternative. Sie eröffneten Läden für südländische Lebensmittel, Pizzerien und Restaurants. Diese Aktion der Selbsthilfe übernahmen alle Gastarbeiter, egal ob aus Griechenland, Ex-Jugoslawien oder der Türkei.

Diese kleinen Läden waren in erste Linie für Gastarbeiter gedacht. Doch hin und wieder verliefen sich darin auch deutsche Bürger. Und da erzählte ein türkischer Ladenbesitzer, wie ein deutscher Kunde eine Zucchini gekauft und sie am nächsten Tag zurückgebracht hätte, mit der Bemerkung, „die Gurke wäre zu hart.“ „Das keine Gurke, das Zucchini, du vorher kochen und dann essen.“ So ungefähr musste der Ladenbesitzer diesen Sachverhalt seinem Kunden erklärt haben. Das stand nicht im Zeitungsartikel, aus dem ich gerade berichte, aber da die erste Generation in der Grundform gesprochen hat, so wie meine Eltern, Gott habe die beiden selig, stelle ich mir beim Lesen des Artikels den schnurbärtigen Verkäufer entsprechend redend. Und Schnurbart gehörte zum Türken wie der Knoblauch und der Kümmel, daher auch das etablierte Schimpfwort „Kümmeltürke“.

Und dann geht er nach Haues und erzählt mit Stolz seiner Frau Ayse oder Hatice, eine diese alten Namen dürfte die Gute besitzen, wie er den so klugen und gebildeten Deutschen Kundschaft die Zucchini vorgestellt hat. Ayse oder Hatice, (ich habe mich leider nicht entscheiden können, wie sie nun heißen sollte), lacht mit wogendem Busen und wiederholt Alis Worte, so nenne ich den Bärtigen jetzt einfach, als Beispiel für einen Muster-Türken. „nix Kurke, Zucchini, kochen, du musse kochen.“ Und da lacht sie wieder und wenn wir dabei gewesen wären, könnten wir ihren goldenen Zahn blitzen sehen. Goldene Zähne sind aus der Mode gekommen. Man sieht sie nicht mehr in Mündern. Das ist sehr schade, es wird sich zukünftig nicht lohnen, Gräber auszuplündern. 

Aber, zurück zu unserem Thema: Fremde Essgewohnheiten. Nicht nur die deutsche Bevölkerung fremdelte bei den Essgewohnheiten der neuen Arbeitskräfte, auch diese hatten so ihre Sorgen. Den gläubigen Muslimen kam die Frage auf, ob es Schweinemilch gab. Schwein ist in deren Religion haram, und ebenso wäre die Schweinemilch haram. Sie kannten Kuhmilch, Ziegenmilch, Kamelmilch und Schafsmilch, aber da sie keine Schweine kannten, wussten sie nichts über die Schweinemilch.

So weiß ich aus primärer Quelle, dass mein Vater, ein gläubiger Muslim durch und durch, seinen deutschen Kumpel aus der Fabrik danach gefragt hatte. Der hatte als Antwort gelacht und kopfschüttelnd verneint. Nicht, dass er sie nicht trinken würde, bekäme er welche, aber da wäre der Wurf schneller.

Und da kommt mein Vater nach Hause und erzählt meiner Mutter, dass die Ferkel alles trinken, Gott sei Dank!

– Veröffentlich sfd (zeitschrift der schule für dichung wien) & ohne netz